Schweitzer Fachinformationen
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OLIVERES IST FÜNF VOR ZWÖLF!!!
Oliver verzieht das Gesicht, als er Knolles Plakat sieht. Er kann es nicht leiden, wenn ihn ein Satz anschreit. Großbuchstaben und Ausrufezeichen und so. Erst recht nicht so früh am Morgen, wenn sein Hirn am liebsten noch im Tiefschlaf wäre. Vor sieben in Dunkelheit und Kälte auf einem Parkplatz herumzustehen und auf einen Bus zu warten ist schlimm genug, auch ohne Schreisätze, egal, wie richtig sie sein mögen.
Aber was tut man nicht alles für eine gute Sache.
Das hat sich Knolle wahrscheinlich auch gedacht. Und es ganz besonders gut gemeint. Als ob Großbuchstaben und Ausrufezeichen nicht genügen würden, hat er auch noch extra fett geschrieben, und in Grellrot. Darunter die Zeichnung einer Uhr, sicherheitshalber, falls einer nicht lesen kann. Und das alles über dem Bild eines gigantischen Atompilzes. Nur ist leider das Plakat damit so vollgestopft, dass man schon aus wenigen Metern Entfernung überhaupt nichts mehr erkennen kann. Außer vielleicht dem Atompilz.
Gestaltung ist nun mal nicht Knolles Stärke. Knolle ist ein Wortmensch, so wie er, Oliver, auch. Kann ja nicht jeder so viel Talent wie Franzi haben.
Knolle hängt sich die Hartfaserplatte mit dem Plakat wie einen Rucksack auf den Rücken und nestelt an den Schnüren, die als Träger dienen.
Was soll denn das, sagt Oliver genervt, willst du etwa so in den Bus?
Knolle grunzt etwas, was entfernt wie nur mal schauen klingt, und lässt sich nicht stören.
Immerhin hat Knolle überhaupt ein Plakat, denkt Oliver. Im Gegensatz zu ihm selbst. Nicht, dass er nicht gewollt hätte. Aber ihm fiel nichts Ordentliches ein. Er dachte kurz an diesen Spruch von John F. Kennedy: Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende setzen - doch das war nichts. Zu lang, zu lange Wörter. Ein Plakatspruch musste kurz und knackig sein. Gleichzeitig nicht zu abgedroschen. Was fast noch schwieriger war. Auf jeder Demo sah man unter Garantie irgendwo ein Plakat mit dem Foto des fallenden Soldaten aus dem Spanischen Bürgerkrieg und einem anklagenden WHY? daneben - fast immer in Großbuchstaben, übrigens. Hundertmal da gewesen und würde auch heute da sein. So wie die Atompilze. Dazu brauchte es ihn nicht auch noch.
Oliver schaut sich um, soweit das geht, so dunkel wie es noch ist. Nicht weit von ihnen hat sich eine Truppe Gewerkschafter mit Trillerpfeifen und Transparenten versammelt, daneben irgendwelche Roten, DKP oder MLPD oder so, die sich an ihren Fahnen festhalten und noch schnell eine rauchen. Ein Stück weiter stehen zwei echte Klischee-Grüne, langbärtig und mit Sonnenblumen in der Hand. Außerdem erkennt Oliver eine Familie aus ihrer Straße, die mit sämtlichen vier Kindern und zwei Bollerwagen angerückt ist, zwei Frauen aus der Kirchengemeinde, den türkischen Kioskbesitzer, bei dem die halbe Schule Gummibärchen kauft, und, nur wenige Meter neben ihm, Hartmut Link, den Inhaber der links buchhandlung. Auch er hat ein Plakat dabei, ein Sandwich aus zwei Platten, das er neben sich abgestellt hat, eine Hand locker daraufgelegt, damit es nicht umfällt. Es ist das ziemliche Gegenteil zu Knolles Plakat, obwohl es auch Großbuchstaben, Ausrufezeichen und fette Schrift verwendet. Doch die Schrift ist schwarz, und es sind genau zwei Wörter, die das Plakat vollständig ausfüllen: Sag NEIN! Zwei Wörter, bei denen jeder weiß, was gemeint ist. Zwei Wörter, mit denen alles gesagt ist.
Genial, denkt Oliver. Darauf wäre er nicht gekommen.
Aber wenn er ganz ehrlich ist: Mit ein bisschen mehr Zeit und Mühe wäre ihm sicher zumindest etwas Brauchbares eingefallen. Das eigentliche Problem war nicht, ein Plakat zu entwerfen, sondern das Danach. Ein Plakat lässt sich nämlich schlecht verstecken. Und sobald Mr. Big es sähe, würde er Fragen stellen. Und wenn Oliver etwas nicht brauchen kann, dann das. Besser also, gar kein Plakat zu haben. Besser auch, nicht zu verraten, wohin er heute fährt. Und bei Knolle zu übernachten, sodass niemand sich wundert, warum er - er, der sonst am Wochenende nicht freiwillig vor zehn aus der Falle kommt! - so früh aufsteht.
Mr. Big hat schon recht, er ist ein Feigling. Wie gerne hätte er Franzis Mut! Schon wie sie bei den Konzerten mit ihrer Band, den Maniac Mushrooms, ganz vorne auf der Bühne stand, sich die Seele aus dem Leib schrie, stampfte, die Faust in die Luft stieß, den Oberkörper im Rhythmus nach vorne und hinten warf, voller Power, wie sie sich überhaupt nicht darum scherte, dass der U-Boot-Ausschnitt ihres Shirts zur Seite rutschte, die Schulter freigab, den Ansatz ihres Busens, der im Rhythmus mittanzte, sodass Oliver gar nicht anders konnte, als ihn anzustarren, bis es ihm bewusst wurde und er sich mit einem schnellen verlegenen Blick durch den Raum vergewisserte, dass niemand es bemerkt hatte. Er würde so etwas nie bringen. Er mit seiner scheiß Unsicherheit, seinen ständigen Zweifeln. Sich auf eine Bühne stellen und seine Meinung und seine ganze Wut auf diese Welt hinausschreien? Undenkbar. Wo ihm schon bei dem Gedanken, Mr. Big zu sagen: ich fahre zur Menschenkette, oder, noch schlimmer: hör zu, ich werde verweigern, der kalte Schweiß ausbricht.
Kein Wunder, dass Franzi lieber mit Bassman rumhängt. Der ist zwar eine echte Flachzange - glaubt, er sei progressiv, nur weil er Joints bauen kann -, aber Selbstvertrauen hat er für zwei. Haut den größten Quatsch mit größter Überzeugtheit raus, wenn er denn überhaupt mal etwas sagt und nicht nur gelangweilt in die Gegend glotzt, als sei das, was um ihn herum passiert, nicht der Mühe wert, dass er sein Maul auch nur aufmacht. Und es funktioniert: Alle finden ihn cool. Sogar Franzi, die doch sonst nicht so leicht zu beeindrucken ist.
Da!, sagt Knolle plötzlich, lässt die Schnüre los, sodass die Ecke seines Plakatträgers hart an Olivers Parka entlangschrappt.
Pass doch auf, sagt Oliver ärgerlich, aber Knolle drängt sich schon durch eine Gruppe Frauen mit lila Halstüchern hindurch, die ihm kopfschüttelnd hinterherschauen, ob missmutig oder amüsiert, kann Oliver nicht erkennen, aber eigentlich will er es auch gar nicht wissen. Als sie die roten Fahnen hinter sich haben, sieht Oliver, wohin Knolle unterwegs ist. Am hinteren Ende des Parkplatzes stehen Katta und Sven - und Bassman. Mist, aber was will er machen. Der Bus zur Menschenkette ist für alle da, und man kann niemandem verbieten mitzufahren. Auch wenn Oliver sich kaum vorstellen kann, dass Bassman wirklich weiß, worum es geht. Wahrscheinlich kommt er nur wegen Franzi mit.
Nur ist von Franzi noch nichts zu sehen. Wo steckt sie?
MARLENEHerrje, ist das kalt. Marlene haucht ihre Finger an, die trotz der Handschuhe beim Radfahren klamm und steif geworden sind. Einen Augenblick lang steht ihr der eigene Atem als milchige Wolke vor dem Gesicht. Unter null, definitiv. Gut, dass sie den dicken Norwegerpulli angezogen hat und darüber die Winterjacke. Und die langen Skiunterhosen unter die Jeans. Wenn sie erst einmal auf der Schwäbischen Alb angekommen und aus dem Bus ausgestiegen sind, wird es wenig Gelegenheit geben, sich aufzuwärmen. Und so ein Tag kann lang sein, wenn es kalt ist.
Immerhin regnet es nicht. Und die Luft riecht eisig und klar; man kann auf einen trockenen Tag hoffen, vielleicht sogar auf Sonne.
Marlene schlingt die Kette ihres Fahrradschlosses um einen Baum und lässt das Schloss einschnappen. Auf dem Parkplatz ist schon einiges los, sicher vierzig, fünfzig Leute, schätzt sie, soweit sie das im spärlichen Dämmerlicht sehen kann. Klar, man muss pünktlich sein, der Bus wird nicht warten. Marlene lässt den Blick schweifen auf der Suche nach bekannten Gesichtern, aber es ist zu dunkel, um viel zu erkennen. Nur eine Gruppe Schüler entdeckt sie, Oliver Vogel aus der Zwölf mit ein paar anderen, wahrscheinlich aus der Kaktus-Redaktion.
Vom Schweigen für den Frieden entdeckt sie niemanden. Ihr fällt auf, dass ihr nicht einmal klar ist, wer überhaupt mit dem Bus mitfährt. Renate nicht, so viel weiß sie - Renate ist gestern mit den Kindern nach Nürtingen gefahren zu ihrer Mutter, damit sie es heute nicht so weit hat. Über die Pläne der anderen aus der Gruppe ist sie nicht informiert.
Sie kennt sie ja auch noch nicht lange, sagt sich Marlene, gerade einmal ein halbes Jahr. Aber sie fühlt sich mit einem Mal schrecklich einsam. Wie anders hatte sie sich diesen Tag ausgemalt, als sie das erste Mal von der Menschenkette hörte! Sie stellte sich vor, dass sie mit Boris und der alten Clique fahren würde, sie würden Picknick mitnehmen und vielleicht eine Gitarre, und sie hätten unterwegs viel Spaß miteinander. So ähnlich wie bei den Wochenendfreizeiten früher oder bei der Fahrt zum Kirchentag. Als ob die Zeit bereit sein könnte, einen Sprung zurück zu machen. Als ob die Clique nicht inzwischen...
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