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Der Osten, der Westen und die gefährdete Demokratie
Vieles von dem, was nach 1990 im Osten schiefgelaufen ist, lässt sich aus Versäumnissen und Fehlern im Vereinigungsprozess erklären. Anderes geht auf überzogene Erwartungen und ein falsches Verständnis von Freiheit zurück. So ist eine toxische Stimmung entstanden, die immer größere Teile der Bevölkerung erfasst nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Denn die "neue Mauer" verläuft nicht nur entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, sondern auch zwischen den Verteidigern der Demokratie und jenen, die sie gezielt oder leichtfertig in Gefahr bringen.
Ilko-Sascha Kowalczuk ist einer der besten Kenner der DDR-Geschichte und seit vielen Jahren ein ebenso kritischer wie kluger Beobachter des Vereinigungsprozesses. Die FAZ nannte ihn den "Punk unter den deutschen Historikern". Bodo Ramelow ist seit 1990 in Ostdeutschland politisch aktiv und war von 2014 bis 2024 Ministerpräsident in Thüringen. Die beiden haben sich zusammengesetzt, um nach den Ursachen für den flächendeckenden Wahlsieg der AfD in den neuen Bundesländern und nach den Perspektiven für unsere Demokratie zu fragen. Der Zeithistoriker und der Politiker lassen es dabei nicht an deutlichen Worten fehlen und gelangen zu einem sehr differenzierten Bild der deutsch-deutschen Gegenwart.
ILKO-SASCHA KOWALCZUK Ich bin in Ost-Berlin geboren und groß geworden. Das ist eine ganz andere Perspektive, als wenn man in Greifswald aufwuchs oder in Dresden. Zu meinem Alltag gehörte, dass ich wusste, was sich in meiner Heimatstadt West-Berlin in den Clubs abspielt, was in den Kinos läuft. Wir hatten ein wenig Westgeld, und meine Oma hatte ein Konto in West-Berlin. Mit einem Teil meines Wesens lebte ich immer im Westen. Und nicht nur ich, sondern fast alle Menschen, die ich kannte, das war nichts Besonderes.
Das Besondere war eher der Kontext, aus dem ich kam. Ich kam aus einem sehr politisierten, staatsnahen Elternhaus. Mein Vater, Ilko Bohdan, war ein kluger, vom Kommunismus und vom Sozialismus sehr überzeugter Mann. Mein Großvater väterlicherseits hingegen, Ilko, war ein ukrainischer Freiheitskämpfer, ein Nationalist, der für eine unabhängige Ukraine kämpfte, und dafür wurde er 1921 zum Tode verurteilt. Er konnte am Vorabend der geplanten Hinrichtung befreit werden und wurde ins Ausland, nach Böhmen, nach Leitmeritz/Litomerice gebracht. In Böhmen gab es eine große ukrainische Diaspora mit etwa 800.000 aus der Ukraine Geflüchteten. Außerdem residierte im nahen Prag ein ukrainischer Bischof, was für meinen strenggläubigen Großvater wichtig war. Er kam 1934 wenige Monate vor der Geburt meines Vaters bei einem Eisenbahnunglück ums Leben.
Dieser Großvater war permanent Thema bei uns. Wir haben auch ukrainische Weihnachten gefeiert und am 6. Januar immer Piroggen gegessen. Als ich anfing, mich mit 15, 16 Jahren vom DDR-Staat zu emanzipieren, sagte meine Tante, die Tochter meines ukrainischen Großvaters, die in Rostock Russischlehrerin war: «Wenigstens dein Großvater wäre stolz auf dich.»
Mein anderer Opa kam aus Schlesien, aus sehr wohlhabenden Verhältnissen. Ein Bruder von ihm ist als Leutnant oder Oberleutnant der Wehrmacht zu Weihnachten 1943 vom Essen aufgestanden mit den Worten: «Der Herrgott wird uns das nie vergeben, was wir im Osten machen», ist ins Nachbarzimmer gegangen und hat sich erschossen. Mein Opa überlebte den Weltkrieg und wurde harter Antikommunist, weil sie ihm in der DDR alles genommen haben, obwohl er nur ein einfacher Soldat war. Meine Mutter schleppte irgendwann 1961 meinen Vater an.
Mein Vater wollte ursprünglich Priester werden, auch vor dem Hintergrund seines zum Tode verurteilten Vaters. Dann trat er aus der Kirche aus und wollte bei der Stasi arbeiten. Aber die haben ihn nicht genommen: «Du sagst ja nicht mal deiner Mutter, dass du in der SED bist, so feige biste». Mein Vater war ein Überzeugungskommunist. Und weil er ein relativ bekannter Fußballspieler in Ost-Berlin war, war er der Einzige, der in den Kneipen in Friedrichshagen als Kommunist einen Platz an den Stammtischen hatte. «Wenn alle Kommunisten so wären wie Ilko, dann würde es was mit dem Kommunismus werden.» Das stimmte zwar nicht, zeigt aber, dass mein Vater trotz seiner Überzeugungen durchaus anerkannt war; er war ein guter Mensch, der immer für andere da war und der seine politischen Überzeugungen nicht versteckte. Er war aufrecht und ehrlich. Meine Mutter sagte häufiger zu ihm, er solle sich doch etwas mehr zurückhalten; wenn es mal anders käme, wäre er der Erste, der am Baum hinge. Auch das kam anders.
So wie ich von meinem Vater erzogen wurde, war klar, dass ich als kleiner Junge den Sozialismus mit allem, was ich hatte, verteidigen wollte. Mit zwölf Jahren habe ich gesagt: Ich möchte Offizier werden. Überall herrschte Personalmangel, insbesondere bei den Sicherheits- und Armeeberufen. Wer sich da frühzeitig meldete, wurde sofort erfasst. Obwohl man sich eigentlich erst mit 14 melden konnte, hat man mich gleich vorgemerkt. Mit 14 wurde ich ins FDJ-Bewerberkollektiv aufgenommen, das war ein feierlicher Akt.
Wenig später habe ich mit diesem «Kollektiv» an einer Fahrt nach Suhl teilgenommen. In dem Ikarus-Bus wurde an uns 14-Jährige Alkohol ausgegeben, alle im Bus durften rauchen, in Suhl durften wir dann auf Flugtauben schießen. Es waren sehr üble zwei Tage, total skurril. Ich hatte vorher schon Bauchschmerzen, aber in Suhl wurde ich dann endgültig geheilt. Ich habe lange mit mir gerungen, weil ich Angst davor hatte, nein zu sagen, vor allem auch Angst, meinen Vater zu enttäuschen. Aber dann habe ich nein gesagt. Damit brach meine ganze bisherige Welt zusammen.
Aber viel schlimmer war: Ohne dass ich mich im Geringsten verändert hatte, ohne dass ich mich auch nur einen Schritt bewegte, wurde aus einem hoffnungsvollen künftigen Kader ein Staatsfeind gemacht. Die ließen nicht locker. Anderthalb Jahre lang musste ich in der Schule, vor dem Wehrkreiskommando, vor der Partei, vor der Staatssicherheit, oft in Anwesenheit meiner Mutter, immer wieder aufs Neue meinen Sinneswandel erklären. Manchmal musste ich stundenlang vor denen stehen, vor Menschen, die ich überwiegend nicht kannte. Irgendwann gab es ein letztes Gespräch. Da hat man mir in Gegenwart meiner Mutter prognostiziert, dass ich über kurz oder lang in den Verwahranstalten des sozialistischen Strafvollzugs landen werde. Warum ich so undankbar wäre, da ich doch wissen müsste, was ich den Staat bereits gekostet hätte. «Schreiben Sie mir eine Rechnung», sagte ich, wie meine Mutter mir später berichtete, «ich werde diesem Staat das auf Heller und Pfennig zurückzahlen.» Meine Mutter glaubte, wir würden nun weggesperrt werden.
Das Schlimmste an dem ganzen Vorgang: Mein Vater war so enttäuscht von mir, dass unsere Beziehung in eine Dauerkrise geriet. Er verriet mich an den Staat, dem er diente, obwohl er so intelligent war. Ich zweifelte nie an seiner Liebe mir gegenüber, aber es kam zum Bruch, weil ich nicht mehr mitmachen wollte, wie er sich das vorgestellt hatte. Auch ihn setzten Partei, Stasi und Staat nun unter Druck, aber dafür hatte ich natürlich keine Augen - ich war selbst in einer tiefen Lebenskrise mit 14, 15, 16 Jahren, obwohl mein Leben noch gar nicht richtig angefangen hatte.
Im Prinzip prägte dieser Einschnitt mein ganzes weiteres Leben. Erst als 2005 unser ältester Sohn Max zwölf wurde, ist mir die ganze Dimension bewusst geworden, die ich damals durchleben musste. Es war wie eine Retraumatisierung. Mit meinem Vater konnte ich mich ab dem Herbst 1989 ansatzweise mehrfach aussprechen, 1992 kam er bei einem Unfall ums Leben. Ihm tat alles sehr leid, was ich ihm abnahm. In einer Therapie in den 2000er Jahren konnte ich die Liebe meines Vaters spüren, und zugleich entdeckte ich dabei, wie stark mich mein ukrainischer Großvater im Griff hatte: Ich fühlte mich seiner Mission sehr stark verbunden.
Wohlgemerkt, ich war kein Widerständler. Ich versuchte zu gefallen, ich versuchte irgendwie wieder anzukommen in der DDR. Ich versuchte Kompromisse zu machen und verhielt mich opportunistisch. Das hat aber alles nicht funktioniert, weil der Staat von mir nichts mehr wissen wollte. Ich konnte zunächst kein Abitur machen. Ich bin Maurer geworden und war anschließend Pförtner. Das war eine lehrreiche Zeit mit vielen Privilegien in der Diktatur: Ich hatte Zeit, und niemand wollte etwas von mir. Aufgefangen haben mich meine vielen Freunde, die überwiegend aktiv in Kirchen unterwegs waren. Ich war entschlossen, in der DDR die DDR zu verändern, endlich sozialistisch, also freiheitlich zu machen. Viele gingen weg, ich nicht. Daher machte ich immer wieder Kompromisse, absolvierte auch den Grundwehrdienst, eine sehr schlimme Zeit. Ich hasste nicht nur die ganzen Mitmacher der Diktatur, ich hasste auch mich selbst wegen meiner Kompromisse.
1989 bin ich dann befreit worden, befreit von meinen Ängsten, befreit von meinem Opportunismus, befreit von meinem Mitmachen. Ich war aber auch Teil der Freiheitsrevolution, engagierte mich und hörte nie wieder auf, mich politisch einzubringen. Nie wieder hätte ich das Recht, politisch pessimistisch zu sein, so schwor ich mir damals. Nie wieder hätte ich das Recht, nicht für Freiheit und Demokratie zu kämpfen! In der DDR war ich zwar nicht das, was ich im Rückblick gern dort gewesen wäre. Aber dafür bin ich in der Bundesrepublik auch nicht das geworden, wovon ich träumte. Also: alles gut.
Mein Bild des Westens hatte sich im Laufe meiner ersten 22 Lebensjahre, die ich in der DDR verbrachte, grundlegend verändert. Zunächst...
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