Schweitzer Fachinformationen
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Es begann mit der Geschichte einer anderen. Eine Frau hatte sich mit einem Mann verabredet, und auf dem Weg zu diesem Treffen verschwand sie. Ich kannte die Frau nicht. Doch vor meinem inneren Auge sah ich genau, wie sie durch die Straßen von Georgetown lief, hörte förmlich, wie ihre Absätze auf dem Gehsteig klapperten, im Rhythmus der Musik, die aus den Bars und Clubs auf die Straße drang. Tausendmal war ich dort selbst entlanggegangen.
Sie hieß Evelyn Carney. Ihr Mädchenname war Sutton, und sie entstammte einer wohlhabenden Familie aus einer Kleinstadt im kalten Norden. Über ihre Verwandten bekam ich nie viel heraus, außer dass sie sich nicht weiter für sie interessierten und ihr Verschwinden daher bloß mit einem müden Schulterzucken zur Kenntnis nahmen. Hatte sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt, um nicht länger in ihrer Nähe sein zu müssen, oder war sie wie viele andere junge Frauen - so wie ich - nach Washington, D. C. gekommen, in der Hoffnung, noch mal ganz von vorn anzufangen? Sie brachte keinerlei Voraussetzungen mit, um hier in der Stadt Karriere zu machen - keinen mächtigen Gönner, keine herausragenden akademischen Leistungen, kein großes Vermögen. Sie hatte keine familiären Beziehungen, die ihr irgendwie weitergeholfen hätten. Aber sie hatte Ehrgeiz und kein Problem damit, ihre starke Anziehungskraft auf Männer zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Warum das mein Interesse weckte, weiß ich nicht genau; nur, dass sie mich nicht mehr losließ, nachdem ich ihr Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte. Es passiert schnell, dass mir ein Bild nicht mehr aus dem Kopf gehen will, und ich hätte vorsichtiger sein müssen. Ich war gewarnt gewesen. Als ich noch ein kleines, gehorsames Mädchen gewesen war, hatte der Pfarrer zu mir gesagt: »Überleg dir genau, was du dir ansiehst, denn es wird unweigerlich ein Teil von dir.«
Den Ratschlag hätte ich wohl besser beherzigt, doch das tat ich nicht, weder als kleines Mädchen noch als bemerkenswert junge leitende Producerin, die mit der Macht der Bilder spielte. Zu jenem Zeitpunkt aber hatte ich mich schon mit Haut und Haar in die Suche nach Evelyn Carney verstrickt. Und da war es bereits zu spät.
***
Zum ersten Mal stieß ich in einem Stapel Pressemeldungen auf sie. Ich saß gerade an meinem Schreibtisch und ging den Papierkram durch, als mir acht große, fett gedruckte Lettern - VERMISST - ins Auge stachen. Der Text darunter lautete:
Das D.C. Police Department bittet um Ihre Hilfe bei der Suche nach Evelyn Marie Carney. Zuletzt wurde sie am Sonntag, den 8. März, um ca. 21:48 Uhr auf Höhe der 1200er-Nummern der Wisconsin Avenue gesehen.
Die amtliche Beschreibung - 30-jährige Frau, weiß, 1,65 m groß, 53 Kilo schwer - hätte auf jede zweite Frau zutreffen können. Zum Beispiel auf mich.
Maximal dreißig Sekunden Sendezeit, doch dann dachte ich: Georgetown? Niemand verschwindet spurlos aus Georgetown, wo an jeder Ecke Polizisten stehen, die Villen, Edelboutiquen und angesagte Restaurants bewachen.
Unter dem Text befand sich ein schlecht kopiertes, unscharfes Foto der Vermissten, ihr Gesicht grau und körnig, die Augen zwei weiße Flecken - eine regelrechte Maske des Grauens -, und mir schoss durch den Kopf, dass sie wahrscheinlich tot war. Es geschah mit erschreckender Häufigkeit, dass Frauen von Menschen aus ihrem unmittelbaren Umfeld ermordet wurden, von Menschen, die sie einst geliebt hatten; oder, seltener, von Fremden, denen sie mehr oder weniger zufällig über den Weg liefen. Seit gut zehn Jahren lebte ich nun hier und hatte derartige Fälle gefühlte tausendmal miterlebt.
Es klopfte an meiner Tür, und Isaiah kam herein. Er war der Chefredakteur, meine rechte Hand, ein Crack, der alles wusste, egal ob es um die neuesten Medientechnologien, die Geschichte der Stadt, Lokalpolitik, Kriminalstatistiken oder was auch immer ging. Vor knapp vierzig Jahren war er einer der ersten schwarzen Fernsehjournalisten gewesen - und immer noch ein Nachrichtenmann, wie er im Buche stand.
»Du kommst zu dem Meeting zu spät, das du selbst anberaumt hast?« Er musterte mich über den Rand seiner schwarzen Hornbrille. »Virginia Knightly verstößt gegen ihre eigene Regel, immer superpünktlich zu sein?«
Die Regel hatte ich von ihm gelernt, genauso wie die meisten anderen Dinge. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Er hatte recht. »Dann mal los«, sagte ich.
Während wir die Nachrichtenredaktion durchquerten, verspürte ich wieder einmal jene Hochstimmung, die mich in den seltsamsten Momenten überkommt, in den stillen Augenblicken vor einer Redaktionskonferenz oder mitten in einer Sendung, wenn plötzlich eine besonders tolle Einstellung, besonders tolles Material zu sehen ist - und manchmal sogar, wenn längst alle nach Hause gegangen sind und nur ich noch da bin, um das Licht auszumachen.
Im Konferenzraum wartete unser bester Kameramann, ein junger Typ namens Nelson Yang. Er hatte sich eine Dodgers-Kappe über die schwarze Lockenmähne gezogen und lehnte sich gegen die Glaswand. Er hatte einen Hang zur Nachlässigkeit und ein Faible für Klatsch und Tratsch. Seine neueste Story musste er selbstverständlich gleich zum Besten geben: Der Nachrichtenchef eines Konkurrenzsenders war offenbar erwischt worden, wie er es mit einer Kollegin auf dem Fußboden in der Grafikabteilung getrieben hatte. »Ein echter Gra-Fick«, frotzelte er.
»Kein Nachrichtenchef dieser Welt würde seinen Job durch so was riskieren«, gab Isaiah zurück und nahm neben mir Platz.
Ich hob die Hand. »Ob es nun stimmt oder nicht - es ist unprofessionell, sich über das Privatleben anderer Leute auszulassen.«
»Seit wann?«, gab Nelson zurück. »Das ist doch unser Job.«
Im selben Moment schwebte Moira zur Tür herein. Schwebte - anders ließ sich das nicht beschreiben. Sie hatte eine Figur wie ein Model, und ihre weit geschnittenen Bohemien-Klamotten umschmeichelten ihren Körper, als würde ihr eine Dauerbrise aus der Windmaschine entgegenwehen. Sie war die perfekte Nachrichtenfrau, deren Äußeres sich über sämtliche Statistiken zu Geschlecht, Alter und Rasse hinwegsetzte. Sie besaß die androgyne Schönheit einer griechischen Statue, und ihr Teint hatte die warme Farbe von frisch gebackenem Brot.
»Bei Channel Five werden Leute entlassen«, sagte sie mit ihrer wohlmodulierten Stimme.
»Demnächst auch in Ihrem Theater«, murmelte Isaiah.
Immer dasselbe. Jede Woche gab es neue Horrorgeschichten über den Tod des klassischen Fernsehens. Und zugegeben, vor einiger Zeit, als unsere Werbeeinnahmen immer weiter nach unten gingen, hatte auch mich vorübergehend leise Panik ergriffen. Aber so einfach ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. In solchen Momenten gilt nur eins: Kopf hoch, Zähne zeigen und weitermachen.
»Da wird niemand entlassen«, sagte ich. »Die schicken bloß ein paar Mitarbeiter in den Vorruhestand.«
»Ist doch dasselbe.« Moira zuckte mit einer Achsel, als wäre ihr die Diskussion nicht das Heben beider Schultern wert. »Die erfahrenen Journalisten verlieren ihre Jobs.«
»Von wegen dasselbe«, widersprach ich. »Immerhin wird ihnen der Abgang mit einer fetten Abfindung versüßt - und die muss ja niemand nehmen, wenn er nicht will.«
»Ich würde auch gern mal Geld für nichts kassieren.« Nelson beugte sich über den Konferenztisch. »Was ist das denn?«
»So was nennt man eine Pressemeldung - schon mal gehört?«
»Eine Pressemeldung? Sieht eher aus wie ein Rorschachtest.«
Abermals betrachtete ich Evelyn Carneys unheimliche Augen. »Das ist ein Foto. Von einer Frau, die seit gestern Abend vermisst wird.«
»Da scheint mir eher das Bild verschwunden zu sein«, gab Nelson abfällig zurück. »Der Tintenfleck könnte doch jeder sein. Du, Moira, absolut jeder.«
Ich rieb mir den Nacken. »Stimmt.« Ich wandte mich an Isaiah. »Setz dich mit der Polizei in Verbindung - die sollen ein Farbfoto mailen.«
Als Isaiah aufstand und zur Tür ging, rief ich ihm hinterher, er solle Ben aufstöbern. »Wäre gut, wenn er seine Kontakte bei den Cops anrufen könnte. Ich würde gern wissen, was sie von dem Fall halten.«
Er deutete auf die digitale Uhr über den Bildschirmen, die fast die gesamte Wand einnahmen, was heißen sollte, dass Ben sich mal wieder verspätet hatte. »Ich versuche es, aber du weißt ja, wie das ist mit den Schönen und Wichtigen der Branche«, sagte Isaiah. »Gilt natürlich nicht für dich, Moira.«
Abermals hob sie achtlos eine Schulter.
Als die Abendnachrichten liefen, verließ ich den Regieraum, ging hinauf in mein Büro und schaltete die Neonleuchten aus. Das matte gelbe Licht der Schreibtischlampe warf Schattenmuster über die Regale, die das antike Teeservice meiner Mutter und meine Bücher beherbergten, die mich wie alte Freunde umgaben. Auch die Auszeichnungen an den Wänden - ein paar für Reportagen, die ich gemeinsam mit Ben gemacht hatte, einige, die mir allein gehörten - lagen im Halbschatten, ebenso wie eine Reihe von gerahmten Artikeln, die ich während meiner Zeit bei der Post geschrieben hatte.
Ich streifte meine Schuhe ab, griff zu den Fernbedienungen und schaltete die Monitore an, auf denen stumm die Nachrichtensendungen der Konkurrenz liefen. Zur vollen Stunde erschien ein Farbfoto der Vermissten gleichzeitig auf den Bildschirmen.
Evelyn Carney war...
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