KAPITEL 1
GIFTMISCHER UND MEUCHELMÖRDER
Gift in den Händen eines Weisen ist ein Heilmittel, ein Heilmittel in den Händen des Toren ist Gift.
Giacomo Casanova5
Weil Pflanzen ein unverzichtbarer Teil der Nahrung vieler Tiere sind, ist es für sie natürlich besonders fatal, dass sie fest an ihrem Standort verwurzelt sind, also nicht fliehen können, wenn sich ein Fressfeind nähert. Daher haben sie im Verlauf von Millionen von Jahren die verschiedensten Abwehrmechanismen entwickelt, um Tiere davon abzuhalten, sie zu fressen. Typische Beispiele dafür sind Dornen und Stacheln, an denen sich ihre Feinde das Maul verletzten können oder auch widerlich schmeckende Substanzen, die sie praktisch ungenießbar machen. Aber am wirkungsvollsten ist es aber wohl, wenn Pflanzen zur Abschreckung ihrer Feinde starke Gifte produzieren. Und unter denen gibt es durchaus einige mit Killerpotenzial.
EIN GUT ABGESCHIRMTES VERBRECHEN
Eine solche Killersubstanz wurde beim Anschlag auf den regimekritischen bulgarischen Schriftsteller Georgi Markow verwendet, der Ende der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts aus seinem Heimatland nach Italien emigriert war, um dann später nach London überzusiedeln, wo er als Journalist für die BBC arbeitete. Markow ahnte sicher nichts von dem sich anbahnenden Unheil, als er am 7. September 1978 an einer Haltestelle auf der Waterloo Bridge auf den Bus wartete. Und auch als ihn ein vorbeieilender Passant mit dem Schirm anstieß, sodass Markow einen leichten Schmerz in der rechten Wade verspürte, ärgerte er sich vermutlich über den ungeschickten Zeitgenossen, maß dem Vorfall ansonsten aber wohl wenig Bedeutung bei.
Doch bereits einige Stunden später muss der Schriftsteller, damals 49 Jahre alt, geahnt haben, dass es sich bei dieser Begegnung nicht um einen harmlosen Vorfall gehandelt hatte, denn er bekam plötzlich Kreislaufbeschwerden und zudem hohes Fieber. Als er daraufhin die Notaufnahme einer Klinik aufsuchte, erzählte er den Ärzten von der Begebenheit mit dem Regenschirm und fügte hinzu, er sei ganz sicher, vom russischen Geheimdienst KGB vergiftet worden zu sein und dass vermutlich niemand mehr etwas für ihn tun könne. Tatsächlich fiel Markow schon kurz darauf ins Koma und starb dann am 11. September 1978, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Aufgrund der Aussage des Schriftstellers und weil man die Todesursache auch nicht genau feststellen konnte, benachrichtigte die Klinik die Polizei, die eine Obduktion anordnete. Dabei wurde auch eine kleine Wunde an Markow Bein genauer untersucht, in der der Pathologe zu seiner Verblüffung eine winzige, nur etwa eineinhalb Millimeter große Platinkugel fand. Aber das war noch nicht die einzige Überraschung, denn bei einer genaueren Untersuchung des Objekts fanden Experten schnell heraus, dass in sich der Platinkugel zwei röhrenförmige Hohlräume befanden, in denen sich noch Reste einer hochgiftigen Substanz, die Rizin genannt wird, feststellen ließen. Außerdem konnten sie ermitteln, dass die Öffnungen mit einer verfestigten Zuckerlösung verschlossen worden waren, um das Austreten des Giftes zu verhindern. Allerdings hatte man diese Lösung so angesetzt, dass sie sich bei Körpertemperatur verflüssigte. Dadurch gelangte das Rizin über kurz oder lang in den Körper des Dissidenten und entfaltete dort schon bald seine unheilvolle Wirkung.
Über Rizin muss man wissen, dass es zu den gefährlichsten natürlichen Giften gehört, die wir kennen. Produziert wird es von einer Pflanze, die wegen ihres schnellen Wachstums zumeist Wunderbaum (Ricinus communis) genannt wird, aber auch als Christuspalme, Hunds- oder Läusebaum bekannt ist. Sie stammt ursprünglich aus Afrika und dem Nahen Osten, wird inzwischen aber in vielen tropischen und subtropischen Regionen zu kommerziellen Zwecken angebaut und ist auch in Mitteleuropa manchmal in Gärten zu finden.
Die zu den Wolfsmilchgewächsen (Euphorbiaceae) gehörende Pflanze, die unter optimalen Bedingungen innerhalb weniger Monate mehrere Meter hoch werden kann, hat große, handförmig geteilte Blätter und auffällige stachlige Früchte. In diesen sitzen bohnenförmige Samen, die beträchtliche Mengen des genannten Toxins enthalten. Chemisch betrachtet handelt es sich dabei um ein Glykoprotein, also ein Makromolekül aus einem Protein mit einer oder mehreren Kohlenhydratgruppen. Die toxische Wirkung entsteht dadurch, dass sich eine Untereinheit des Moleküls außen an eine Zelle bindet, während die zweite in das Zellinnere geschleust wird. Dort verhindert sie dann die Produktion neuer Proteine an den Ribosomen, den "Proteinfabriken" der Zelle, was den baldigen Zelltod zur Folge hat und bei einer hohen Dosis schließlich den Tod des Organismus.
So gesehen war es auch nicht überraschend, dass Markow das Attentat nicht überlebte. Aber zunächst war noch unklar, wie die kleine Kugel in den Körper des Dissidenten gelangt war. Aufgrund der vorliegenden Informationen kamen die untersuchenden Experten zu dem Ergebnis, dass man dafür vermutlich einen speziell konstruierten Regenschirm verwendet hatte, sodass man in der Folge auch vom "Londoner Regenschirmattentat" sprach. Danach soll der Schirm im unteren Teil einen Zylinder mit komprimiertem Gas besessen haben und an der Spitze eine Art Injektionsnadel. Außerdem gab es im Griff einen Auslöseknopf, der betätigt wurde, sobald die Nadel die Kleidung und die Haut des Opfers durchdrungen hatte. Das führte dazu, dass die winzige Kugel durch das sich ausdehnende Gas in den Körper gedrückt wurde und das Gift, nachdem der Zuckerverschluss sich aufgelöst hatte, seine Wirkung entfalten konnte.
Sollte das Attentat tatsächlich in dieser Form ausgeführt worden sein, kann man die Planung durchaus als raffiniert bezeichnen, denn in einem Land, wo viele Menschen fast ständig mit einem Schirm unterwegs sind, gibt es vermutlich keine viel unauffälligere Mordwaffe. Mittlerweile zweifeln viele Experten allerdings an dieser Theorie. Sie nehmen vielmehr an, dass der Regenschirm, der nach der Berührung Markows zu Boden fiel, nur zur Ablenkung diente, während die Kugel mit einer kleineren und daher handlicheren Apparatur in die Wade injiziert wurde.
Sehr viel später gelang es dann sogar, einen Verdächtigen auszumachen, von dem man annahm, dass er das Attentat ausgeführt hatte. Dabei handelt es sich um Francesco Guillino, einen Dänen italienischer Herkunft, der auch zur Tat vernommen, aber aufgrund mangelnder Beweise wieder freigelassen wurde. Kurz darauf verschwand Guillino von der Bildfläche und tauchte, wie es heißt, in den Untergrund ab, aus dem er bisher auch nicht wieder aufgetaucht ist.
Was die Identität der Auftraggeber für das Attentats betraf, gab es schon bald erste Vermutungen. So waren sich die Ermittler schnell sicher, dass der Mord eigentlich nur durch Angehörige des bulgarischen Geheimdienstes geplant und in Auftrag gegeben worden sein konnte. Beteiligt war aber wohl auch der russische Geheimdienst KGB, der angeblich das Gift und die kleine präparierte Platinkugel zur Verfügung gestellt hatte. Ausgeführt wurde das Attentat dann vermutlich auf Befehl des bulgarischen Partei- und Staatschef Todor Schiwkow, den Markow nicht nur immer wieder kritisiert, sondern auch persönlich angegriffen und sogar lächerlich gemacht hatte. Als Datum für den Anschlag wählte man den 7. September - Schiwkows Geburtstag. Im Großen und Ganzen bestätigt wurden diese Vermutungen später durch ein Interview, das der ehemalige Generalmajor des sowjetischen Geheimdienstes Oleg Kalugin einem bulgarischen Radiosender gab.
WEITERE VERSUCHE MIT WECHSELNDEM ERFOLG
Vermutlich war dies aber nicht der einzige Versuch, einen unliebsamen Kritiker auf diese Weise mundtot zu machen. Wie später herauskam, wurde wohl schon einige Wochen vorher ein ähnliches Attentat auf Wladimir Kostow verübt, einen weiteren bulgarischen Dissidenten. Dieser gab an, er habe bei einer Fahrt in der Pariser Metro einen Schlag im Rücken verspürt und einen Knall gehört. Später entdeckte er eine kleine Wunde im Rücken, aus der ihm ein Arzt mehrere Objekte entfernen musste, über deren Beschaffenheit es aber keine weiteren Informationen gibt. Immerhin überlebte Kostow das Attentat.
Jahre später gab es dann sogar einen Nachahmer dieser Tat, den möglicherweise die sehr ungewöhnliche Methode des Anschlages fasziniert hatte, denn im Jahr 2011 stach ein Unbekannter in Hannover einem Familienvater eine Spritze ins Gesäß, die an einem Regenschirm befestigt. Darin befand sich eine giftige Quecksilberverbindung, die einige Monate später den Tod des Opfers verursachte. Über die genauen Gründe und den Verursacher des Anschlags ist nichts weiter bekannt.
Und auch Drohbriefe, die 2013 unter anderem an den Präsidenten der Vereinigten Staaten Barack Obama geschickt wurden, enthielten Rizin, allerdings in Pulverform, das leicht in die Atemwege gelangt. Als Täter wurde später der Kampfsportlehrer James Everett Dutschke aus Mississippi festgenommen und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Der Grund für den Anschlag war wohl,...