ANITA HOTTENROTT
Eine Geschichte aus meinen Kinderjahren
Was ich zu berichten habe, sind die längst vergangenen Jahre meiner Kindheit, verbunden mit dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin und das einst mit anderen Häusern in der Straße stand, wo ich mit Nachbarskindern gespielt habe.
Ich bin zwar im November 1936 in Berlin (Weißensee) auf die Welt gekommen, weil meine Mutter dort im Entbindungsheim gearbeitet hat, mein Vater aber wohnte in Halle und war gerade von seiner ersten Frau geschieden worden. Aus dieser Ehe war ein Sohn hervorgegangen, den unser Vater vom Gericht zugeordnet bekam und der im Oktober 1937 zehn Jahr alt wurde. Ende November desselben Jahres fuhr meine Mutter mit mir einjährigem Kleinkind nach Halle, um für immer bei meinem Vater zu bleiben. Im Mai 1938 heirateten sie. Meine Mutter hatte somit den Jungen aus meines Vaters erster Ehe übernommen. Ich hätte eigentlich auch einen leiblichen Bruder, geboren Ende Juni 1938. Er war aber ein Frühchen, ein Siebenmonatskind und lebte nur eine Woche, Anfang Juli 1938 starb er in der Kinderklinik. So blieben nur wir Halbgeschwister für unsere Eltern.
Aber mein Bruder machte unseren Eltern sehr große Schwierigkeiten, wovon ich im Laufe der Geschichte ab und zu erzählen werde. Damals wohnten wir noch in meines Vaters Haus, Kapellengasse Nr. 2. Er hatte das Haus nach dem Tod seiner Eltern von ihnen geerbt. Da aber jahrelang nichts daran gemacht worden war und es vernachlässigt wurde, er obendrein auch verschuldet war, hat er es für wenig Geld an die Stadt verkauft, die es abreißen ließ. Ende 1940 zogen wir dann in das kleine Haus Nr. 5 des Unterbergs, das ab da mein Elternhaus wurde.
Links: Mein Elternhaus, Unterberg 5, in Halle/Saale
Rechte Seite: Hier oben bin ich aufgewachsen. Das sind die Stubenfenster meines Elternhauses.
Die beiden Aufnahmen habe ich kurz vor unserem Auszug 1972 gemacht.
Nun aber erst einmal zu der Bezeichnung "Kapellengasse". Vom Unterberg aus führt eine bergähnliche Anhöhe zur oberen damaligen Friedrich-Straße (jetzt August-Bebel-Straße). Zu ganz frühen Zeiten, als die Stadt Halle im Entstehen war, hatte dort oben eine Kapelle gestanden, woraus der Name "Kapellengasse" entstand. Nach einiger Zeit wurde die Kapelle abgerissen und es wurde eine Kunstscheune für die ersten theatralischen Komödienauftritte umherziehender Komödianten errichtet. Viele Jahre später wurde endlich den Hallensern anstelle der Scheune ein richtiges Theater gebaut, das nach schwerer Kriegszerstörung im Jahr 1951 wieder aufgebaut wurde und damals "Theater des Friedens" hieß, dann "Landestheater Halle", nun "Oper Halle" sich nennt.
In den Jahren der Nazizeit trat mein Bruder als Junge der Hitlerjugend bei, was mein Vater durchaus nicht mochte! Aber daran kehrte sich mein Bruder nicht und ließ sich das nicht verbieten! Inzwischen hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Mein Bruder hatte Konfirmation, wollte eventuell Bäcker lernen, aber er meldete sich lieber freiwillig in den Krieg! Ich wurde bald eingeschult. Und wenn während des Unterrrichts Fliegeralarm war, wurden wir Kinder nach Hause geschickt. Auf halbem Schulwege kam mir da mal meine Mutter entgegen, um mit mir schnell nach Haus zu gehen.
Am Unterberg standen ehemals rechts und links teils niedrige, zum Teil auch dreigeschossige Wohnhäuser. Die ersten drei Häuser auf der linken Straßenseite anfangs des Unterbergs, die Nummern 1, 2 und 3, stehen noch. Die drei weiteren - die 4, 5 und 6 - existieren nicht mehr. Sie gehörten einer Erbengemeinschaft, auch das kleine Häuschen mit der Hausnummer 5, mein Elternhaus. Die Eheleute der Erben wohnten im Haus Nr. 6. An sie zahlten meine Eltern für zwei, später für drei kleine Mansardenräume 20 Mark Miete monatlich, auch für den Wäscheboden, der nur mit einer Sprossenleiter, die auf der Diele vor den Wohnungseingängen hing, zu erreichen war und sich buchstäblich unterm Dach, über unseren Wohnräumen, befand.
Das Waschhaus, in welchem sich auch der Zugang zum Wasseranschluss sowie die Toilette befanden, war nur über den Hof zu erreichen. Sie waren im Mietpreis mit enthalten. Brauchte man Wasser, musste man es mittels mehrerer Eimer über den Hof nach oben tragen, da kein Wasseranschluss in der Küche war. Ebenso war auch das verbrauchte Wasser mit dem "Schmutzeimer" im Hof zu entsorgen, wo es durch eine Gesteinsrinne in den Abwasserkanal geleitet wurde.
Unser Häuschen stand ziemlich nah vor der Schulmauer, wodurch ein enger Lichthof entstanden war, in welchem ein kümmerlich wachsendes Gesträuch zur Frühjahrs- und Sommerzeit seine grünen Blättchen den wenigen Sonnenstrahlen, die hier kaum sich leuchtend entfalten konnten, entgegenstreckte, was täglich aus dem kleinen Toilettenfenster zu sehen war.
Den genannten Häusern gegenüber stand ehemals Ecke Unterberg/Kapellengasse ein kleines Eckhaus, das zur Kapellengasse gehörte und die Hausnummer Kapellengasse 1 hatte. Damals wohnte mein Opa mit seiner Frau darin. Irgendwann ist es abgerissen worden und man blickte für zig von Jahren nur auf die daraus entstandene, niedrige Mauer, hinter der zwischen ein, zwei schlanken Bäumen die auf der Anhöhe der Kapellengasse, dem Theater gegenüber, stehenden Häuser sichtbar wurden. Mein Opa, der Vater meiner Mutter, zog später mit seiner Frau in unsere Wohnung.
Entlang der Richtung linker Hand der laufenden Häuserfronten, meinem Elternhaus gegenüber, standen bis zu einem im hinteren Straßenbereich angebrachten Treppenaufgang, der zur schon erwähnten August-Bebel-Straße führt, fünf Häuser. Hier eröffnete kurz nach der Wende die bekannte Gaststätte "100 Wasser" ihre Pforten. Jetzt ist davon nichts mehr zu sehen, seit mehreren Jahren schon, als nur das Grün etlicher Bäume.
Geht man von der Treppe her ein Stück zurück und biegt rechts in den steilaufwärts führenden Weg ein, der links das Seitengebäude der Weidenplan-Schule zeigt und wo rechter Hand die damals gegenüberstehenden Häuser, mit Kohlenhandlung, und ein paar Häuser weiter das Milchgeschäft, am Weidenplan angrenzend, zu sehen waren, führt der Weg zu beiden Seiten auf den dort waagerecht verlaufenden Weidenplan. Hier blickt man auf den ehemaligen Haupteingang der Schule, welcher zu früheren Zeiten zu den Klassenräumen für Mädchen führte. Ein weiterer Eingang, zur jetzigen Zeit Haupteingang, der zugleich als Schulhof genutzt wird, befindet sich am Universitätsring. Zu DDR-Zeiten wurden nur die zwei Ein- und Ausgänge am Unterberg genutzt.
Im Verlauf der Kriegsjahre wurde in dieser Schule kein Unterricht abgehalten, da sie als Militärlazarett genutzt wurde. Mein Opa, der mit seiner dritten Frau eins unserer Zimmer bewohnte, hat uns oft, wenn nachts die Sirenen heulten, an die Stubentür klopfend, herausgerufen: "Fliegeralarm! Alle in den Keller!" Und es begann die große "Nachtwanderung" aller UnterbergBewohner, so schnell wie möglich die Luftschutzkeller aufzusuchen. Die waren oft überfüllt und manche viel zu weit entfernt.
Wenn meine Eltern mit mir nachts unterwegs waren, faszinierte mich dabei der wunderschöne Sternenhimmel, den ich somit ab und zu bewundern konnte. Natürlich hatten meine Eltern für diese Schönheiten kein Blick, angesichts der drohenden Todesgefahr herannahender Bomber. Und so strömten wir mit allen Nachbarn unserer Wohngegend in die Kellerräume der umliegenden Häuser, dort dicht aneinandergedrängt ausharrend, während die heulenden Motoren der Bombenflieger, das Krachen und Bersten einstürzender Gebäude zu hören war und man den Eindruck bekam, als bräche die ganze Stadt zusammen.
Bei dem an den Ostertagen des 31. März und am 6. April 1945 erfolgten Überraschungsangriff fiel eine Brandbombe in unseren Hof, die unsere Vermieter mit weiteren Nachbarn des Hauses Nr. 6 sofort löschten. Zu dem Zeitpunkt befand ich mich mit meinem Vater im Hof, Holzklötze zu Brennholz zu zersägen. Glücklicherweise wurden wir nicht getroffen, weil wir im Schutz des Hintereingangs unseres Wohnhauses standen. Dennoch fing ich an zu weinen und sagte: "Papa! Komm, wir gehen hoch!" (Ich war damals acht Jahre alt. Da hat ein Kind wohl Angst, wenn plötzlich wenige Meter vor uns eine Bombe vom Himmel fällt und es auch noch brennt!) Wir haben daraufhin alles stehen gelassen und sind nach oben gegangen, wo meine Mutter sich in der Stube mit Opas Frau unterhielt. Durch den starken Luftdruck der Detonation waren unsere Fensterscheiben zersprungen.
Wenige Tage darauf erfuhr die ganze Nachbarschaft, dass das schöne Gebäude des Stadttheaters zum Teil in Trümmern lag. Und im ganzen Raum Halle waren auch viele weitere Bauten durch Bomben zerstört worden. Der Einschlagskrater in unserem Hof, direkt vor dem hinteren Hauseingang der Nr. 6, wurde nach dem Krieg mit Sand und Pflastersteinen aufgefüllt. Noch in den 1970er-Jahren war die Einschlagstelle, obwohl sie zugepflastert war, zu erkennen.
Der Unterberg von oben, von der...