Prolog: Wie ein Applaus
Ein plötzlicher kalter Wind strich über die Maispflanzen, die sich wie ein endloses grünes Meer bis zum Horizont erstreckten, und in der Ferne türmten sich tiefschwarze Wolken auf, die rasch näher kamen. Die Stauden zitterten in dem Windhauch, neigten sich, als er stärker wurde, und beinahe sah es so aus, als fürchteten sie sich vor dem Himmel, der sich immer stärker verfinsterte.
Federleichte Schritte berührten den Boden. Barfuß lief Koma durch die wie mit einer Schnur gezogenen Reihen der Maisstauden; ihr langes weißes Kleid streifte über den lehmigen Boden, als die ersten Regentropfen fielen. Sie blieb stehen und hob den Kopf, blickte nach oben in die immer bedrohlicher werdende Dunkelheit, spürte die Nässe in ihrem Gesicht, die sich anfühlte wie die ungeliebten Küsse eines zudringlichen Verehrers.
»Es kann nur ein Traum sein«, sagte sie und schloss die Augen. Koma spürte, wie der Regen ihre Augenlider benetzte, und zwang sich, ruhig zu atmen, während ihr Herzschlag raste.
Der Wind, der die Blätter der Maispflanzen zum Beben brachte, streichelte ihr Gesicht und schien mit körperloser Stimme ihren Namen zu wispern.
»Koma«, flüsterte der Wind, »komm zu mir!« Ihre Augen öffneten sich, und sie begann wieder zu rennen. Wo war der Ausweg aus diesem Labyrinth aus Maisstauden? Jede von ihnen war so hoch wie ein Mann, ragte weit in den Himmel und schien sie zu verhöhnen, wie sie orientierungslos zwischen ihnen herumirrte. Aus dem Wind wurde ein Sturm, der sie vor sich her zu jagen schien, und Koma spürte, wie die Kräfte ihres Körpers schwanden.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie gegen das Tosen des Windes an. Ihre Stimme hallte über das Maisfeld, verklang ungehört.
Plötzlich erstarb der Wind, und sie umgab vollkommene Stille.
Koma verlangsamte ihre Schritte. Was war das dort vorne? Ein Lichtschein? Ohne darüber nachzudenken, hielt sie direkt auf das Licht zu.
Die Reihen der Maisstauden öffneten sich und Koma betrat eine kreisrunde Fläche, die frei von Pflanzen oder Steinen war. Sie war so perfekt gezogen, dass sie nicht zufällig entstanden sein konnte. Der Boden sah hier dunkler aus, als hätte man den Mais mit Brandrodung zurückgedrängt. Erst nachdem sie den Zirkel halb durchschritten hatte, bemerkte sie den mannshohen schwarzen Spiegel in seiner Mitte, der in den Boden eingerammt war. Vor dem Spiegel blieb Koma stehen.
»Ich sehe dich«, sagte eine Stimme, die seltsam verzerrt klang. Koma schrak zurück, als sie erkannte, dass sich in dem Spiegelbild noch eine Gestalt befand. Sie drehte sich um, aber da war niemand; doch als sie wieder in den Spiegel blickte, sah sie, wie ein Mann in einer dunkelblauen Winterjacke und einem schwarzen Helm mit verspiegeltem Visier auf sie zukam.
»Wie ist das möglich?«, flüsterte Koma und streckte ihre Fingerspitzen aus, um das Spiegelbild zu berühren. Sie ertastete nur kaltes Glas.
»Sie kommt, um dich zu holen«, sagte die Gestalt mit dem Helm.
»Wer?«, fragte Koma verwirrt.
»Deine Angst«, antwortete die Stimme, und in diesem Moment sah Koma an der Stelle, an der sich die Augen befinden sollten, zwei winzige blaue Lichter aufflackern.
Auf einmal veränderte sich die Szene um sie herum. Es war, als ob die Welt ihre Farbe verlor; alles nahm ein trübes und tristes Grau an. Im gleichen Moment zerbarst der Spiegel in viele tausend Scherben. Erneut schrak Koma zurück. Alles schien gleichzeitig zu geschehen. Sie konnte spüren, wie etwas hinter ihr heranraste, eine unbekannte, dunkle Gefahr, doch bevor sie sich umdrehen konnte, wurde sie gepackt und mit gewaltiger Kraft nach hinten gezogen. Die unsichtbare Macht hielt ihren Körper in eisernem Griff und zerrte sie durch die Maisstauden hindurch, die unter ihrem Gewicht nachgaben, sich bogen und abbrachen. Vor sich konnte Koma die Spur der Verwüstung sehen, die ihr Körper in dem Maisfeld hinterließ. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Kehle brannte, weil sie lauthals schrie. Sie schrie vor Verzweiflung und Todesangst. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie glaubte, es müsse in ihrer Brust zerspringen. Koma strampelte mit den Beinen; sie versuchte mit aller Entschlossenheit, sich gegen den harten Griff der unsichtbaren Faust zu wehren, doch sie hatte keine Chance. Zu ihrem Entsetzen fühlte sie, wie sie in die Höhe gehoben wurde, bald hoch über dem Maisfeld baumelte und schließlich in den Himmel geschleudert wurde - in ein großes, gewaltiges Nichts.
Keuchend schrak Koma aus dem Schlaf auf und sah erschrocken an sich herunter. Sie trug ein langes weißes Nachtkleid mit zarter Spitze an den Trägern und am Saum und lag in einem großen altmodischen Bett mit Vorhängen. Während sie nach Luft rang, versuchte sie, ihre Gedanken zu sortieren. Was war gerade geschehen? Was hatte sie da in dem Maislabyrinth gepackt, und wie war sie hierhergekommen? Kalter Schweiß bedeckte ihre Haut wie ein Film und in ihren Ohren dröhnte es. Sie war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Unsicher schaute sie sich um. Zwischen den Vorhängen des Himmelbettes konnte sie ein schlecht beleuchtetes Zimmer erkennen, in dem altertümliche Möbel herumstanden. Die Wände waren nicht tapeziert. Ihr Blick fiel auf rauen Stein, der ihr den Eindruck vermittelte, in einem sehr alten Gebäude zu sein. Vorsichtig schob Koma einen Vorhang beiseite und schaute hinaus. Sie war allein in einer Kammer, die sie unwillkürlich an ein Zimmer in einem Burgturm erinnerte. Der Raum wurde nur von zwei Fackeln erleuchtet; an den Wänden hingen kostbar aussehende Teppiche, die in verblassten Farben Szenen einer Jagd zeigten. Als sie ihre Füße aus dem Bett streckte, berührte sie das weiche Fell eines Bären, das vor dem Bett lag. Koma bewegte sich langsam; beinahe rechnete sie damit, im nächsten Augenblick erneut gepackt und herumgeschleudert zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Erst jetzt hörte sie leise Klaviermusik, die aus dem Nachbarraum zu kommen schien, der mit ihrem Zimmer durch eine reich verzierte Flügeltür verbunden war. Langsam ging Koma darauf zu. Der kalte Steinboden unter ihren nackten Sohlen fühlte sich hart an. Die Musik wurde lauter. Zwischen den Ritzen der Tür sah sie einen Lichtschein. Behutsam legte sie eine Hand auf die Klinke, drückte sie herunter und öffnete die rechte Tür, die mit einem leisen Knarren aufschwang. Vor ihr erstreckte sich ein großer Saal mit hohen, gotisch geschwungenen Decken. Ein schwerer Läufer lag auf dem Boden und führte auf eine kleine Erhöhung. Dort stand der Unbekannte mit dem Helm, den sie im Spiegel auf dem Maisfeld gesehen hatte. Der Raum war von unzähligen Kerzen hell erleuchtet. Unsicher, was sie tun sollte, schritt Koma weiter, direkt auf den Fremden zu. Der Unbekannte stand regungslos da und schien sie anzusehen. Wieder nahm sie den blauen Lichtschein wahr, der in Höhe seiner Augen flackerte.
»Wo bin ich?«, fragte sie mit bebender Stimme, als sie direkt vor ihm stand. Sie fühlte sich seltsam nackt und schutzlos in dem Nachthemd. »Und wer bist du?«, fragte Koma zweites Mal.
»Nichts weiter als ein Hype«, sagte die verzerrte Stimme. »Willkommen im Reich der Träume.«
»Warum bin ich hier?«, wollte Koma wissen.
»Die Frage, die du dir stellen solltest, lautet nicht, wo du bist, sondern wer du bist«, gab Hype zurück. »Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.«
Koma runzelte die Stirn. Das Zitat kam ihr bekannt vor, so, als habe sie es schon häufig gehört, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wo das gewesen war. Überhaupt waren alle ihre Erinnerungen seltsam verschwommen, wie hinter einer Nebelwand. Sie wusste, dass sie existierten, doch es gab nicht ein Bild, das sie heraufbeschwören konnte - ein befremdliches Gefühl, das sie sofort wieder verdrängte.
Sie blinzelte. Auf einmal sah sie, wie sich in ihrem Augenwinkel etwas bewegte, ein Schatten, wie eine optische Täuschung. Sie drehte sich hastig um, und im nächsten Moment tauchten aus dem Dunkel der Saalecken Masken auf, deren Körper verhüllt waren. Einige waren freundlich, andere bunt bemalt und eher komisch; wieder andere sahen furchteinflößend und fratzenhaft aus. Der Anblick war so beunruhigend, dass Koma rasch ihre Aufmerksamkeit wieder auf Hype richtete.
»Warum trägst du einen Helm?«, brach es aus ihr heraus. Zu gerne hätte sie das Gesicht des Unbekannten gesehen, erfahren, wer er war und warum sie ihm hier begegnete, an einem Ort, an dem sie noch nie zuvor gewesen war.
»Die anderen tragen Masken, ich trage einen Helm. Das ist der Unterschied«, sagte er, was ihre Verwirrung nur verstärkte.
»Weiß mein Vater, dass ich hier bin?«, fragte sie, als sich plötzlich ein Bild aus ihrer Vergangenheit mit aller Klarheit in ihr Bewusstsein schob. Es war das Gesicht ihres Vaters, voller Sorge um sie. Wie lange war sie schon fort?
»Folge mir!«, forderte Hype sie auf, wandte sich um und ging von ihr weg.
Koma blieb zutiefst verunsichert stehen. Wie sollte sie wissen, ob sie Hype vertrauen konnte? Hier schien nichts so zu sein, wie es auf den ersten Anblick aussah, und es gab so vieles, das sie nicht verstand, nicht begreifen konnte. Die Verwirrung in ihrem Inneren wurde immer größer.
»Was ist mit meinem Bruder, kennst du ihn?«, wollte sie wissen, als sich ein weiteres Gesicht in ihren Gedanken zeigte; auch dieses sorgenvoll, aber gleichzeitig ein wenig wütend.
»Ich möchte nach Hause«, brach es aus ihr heraus. »Bitte, lass mich gehen.«
Hype erstarrte und drehte sich zu ihr um.
»Schweig!«, donnerte seine Stimme und Koma fuhr erschrocken zusammen. Etwas an Hype flößte ihr Angst ein, ehrfürchtige Angst, ohne dass sie erklären konnte, was es war.
»Nehmen wir an, dass alles hier nichts weiter...