Schweitzer Fachinformationen
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Lützowstraße, 4 Zi., mit Nina, Luc und Karl
C. 26, alleinerziehend, Studentin, und Karl (anderthalb) suchen ähnliche Kombination für lustige Mutter-Kind-WG, um das Alleinerziehen gemeinsam durchzustehen und dabei auch ein bisschen Spaß zu haben, so oder ähnlich hatte ich es im Kleinanzeigenteil des Leipziger Stadtmagazins annonciert, darunter eine Festnetznummer.
Den südbadischen Einschlag habe ich auf dem Anrufbeantworter gleich rausgehört. Eigentlich mag ich nichts, was mich an meine nordbadische Herkunft erinnert, schon gar nicht, wenn es südbadisch ist. Zurückgerufen habe ich trotzdem. Weil in meiner Anzeige was von vergleichbaren Umständen stand. Und die Person mit dem südbadischen Einschlag auf meinem Anrufbeantworter mir was von einem siebenjährigen Sohn erzählt hat. Karl ist noch keine zwei. Wer einen knapp Zweijährigen und einen Siebenjährigen für vergleichbare Umstände hält, interessiert mich. Und das bleibt nicht die einzige großzügige Auslegung, die ich von der Frau lernen werde, die an einem anderen Tag als vereinbart abends klingelt, als ich gerade mit meiner ehemaligen Mitbewohnerin Lotte bei einer Flasche Wein sitze. Nina setzt sich, da sie ja nun schon mal da ist, dazu. Und als unsere zweite Flasche leer ist, trinken wir die, die sie mitgebracht hat. Als Lotte nach Hause gegangen und die dritte Flasche leer ist, holt Nina eine vierte aus ihrem Auto. Danach haben wir ausreichend vergleichbare Umstände gefunden, um zu beschließen, es miteinander zu versuchen.
»Hast du kurz? Ich steh gerade mit der Maklerin in der Lützowstraße im Flur, der ist riesig, vier Zimmer, überall Diele, also außer im Flur, da liegen so OSB-Platten, aber die kann man ja streichen, alle bis auf ein Zimmer mit Kachelofen, teilsaniert halt, aber im Bad is sogar 'ne Wanne und unten im Haus ist ein Lebensmittelladen.« Nina ist in Zwochau, das Motel, das ihrem Vater gehört, hat Insolvenz angemeldet, und Nina muss die Gastroküche ausräumen, deswegen stehe ich allein mit der netten Maklerin von Engel & Völkers im Flur der teilsanierten Vierraumwohnung über Beckers Lebensmitteleck. »Die Küche ist eher schmal, aber man könnte den Esstisch in den Flur stellen, hell ist sie auch, dritter Stock.« Während ich versuche, wiederzugeben, was ich sehe, rase ich im Kopf durch mögliche Einwände, um sie zu entkräften, bevor Nina sie ausspricht. Die nette Maklerin von Engel & Völkers lächelt mich an, ihre Finger spielen am Schlüsselbund, das an ihrem Zeigefinger hängt. Ich versuche, die Schlüssel im Blick zu behalten. Als würden sie sonst verschwinden. Als wäre sie eine Hütchenspielerin. Die OSB-Platten, das Wannenbad, der sechseckige Flur, die Kohleöfen, ich will das hier haben.
»Sie sind jetzt meine erste Besichtigung, teilsaniert ist ja zurzeit sehr begehrt, ich hab da noch eine lange Liste an Interessenten. Aber wenn Sie sich jetzt gleich entscheiden, sage ich denen ab und Sie kriegen die Wohnung«, hat sie gesagt, und jetzt guckt sie mir beim Telefonieren zu und spielt dabei mit dem Schlüsselbund. Ich hätte ablehnen müssen. So eine Entscheidung lässt sich nicht auf der Stelle treffen. Wir waren noch nicht mal auf dem Speicher, ich habe den Hinterhof mit den Mülltonnen noch nicht gesehen, weder den Sicherungskasten noch die Elektrik angeguckt, von der ich eh keine Ahnung habe, und keines der Zimmer ausgemessen. Über solche Entscheidungen unbedingt immer eine Nacht schlafen, höre ich Papas Stimme. Wollen wir wirklich noch mal Kohle schleppen, das kleine Zimmer ist nicht beheizbar, Balkon war eigentlich auf unserer Wunschliste, »ich weiß, dass das jetzt ganz schön spontan ist, du hast ja noch nicht mal einen Grundriss von der Wohnung gesehen«, versuche ich, Nina gegenüber besonnen und vernünftig zu klingen.
»Sag zu«, sagt Nina. »Ich vertrau dir.«
Ich grinse die Frau von Engel & Völkers an. »Wir nehmen die Wohnung. Kann ich jetzt noch den Speicher und den Müllplatz sehen?«
Zwei Wochen später sitze ich in einem T-Shirt voller Farbspritzer auf Seegrasmatten auf dem Boden unserer neuen Schlauchküche neben dem Edelstahlwagen, den Nina gerade reingerollt hat, und bohre mit dem Finger ein Loch in Karls Brötchen. Nina streckt mir den Beutel mit den Würstchen und einen Karton voller Senfpäckchen entgegen. Sogar der Senf kommt aus den Restbeständen des Motels in Zwochau, das ihr Vater gerade abwickelt. Anfang der 90er mussten die Investoren und Treuhandmanager, die Mobilfunkbetreiber und DVU-Funktionäre und Chefs der Bild-Zeitung ja irgendwo unterkommen, und da war Ninas Vater mit seinem Motel hinter den Tagebaurestlöchern ein Mann der ersten Stunde. Inzwischen gibt es ausreichend Hotelzimmer in den Innenstädten, und die Motels auf der grünen Wiese rentieren sich nicht mehr. Für mich ist das weniger tragisch als für Ninas Vater, schließlich halten dadurch Schneebesen, Siebkellen und Schöpflöffel, bruchsichere Gastroteller, Edelstahlschüsseln und Kartons mit Sekttulpen und Weingläsern Einzug in unserer teilsanierten Wohnung. Meistens stehe ich schon im Flur auf der Leiter, wenn Nina gegen Spätnachmittag mit einem Beutel Wiener Würstchen aus Beckers Lebensmitteleck die Treppe hochkommt, und während sie Brötchen aufschneidet und Wiener Würstchen und Senf auf unkaputtbaren Gastrotellern verteilt, verdünne ich, weil der Flur groß ist und Volltonfarbe teuer ist, die Farbe mit Wasser, was macht, dass die verdünnte Farbe beim Auftrag mit dem Farbroller heftig spritzt. Was uns egal ist. Wir tragen die orangenen Farbspritzer mit Würde und der gleichen Fassung, mit der wir später den ungleichmäßigen, streifenförmigen Farbverlauf tragen.
Unsere Rollenverteilung ist schnell klar. Nina bringt Wiener Würstchen und Gastrozubehör mit, wischt Farbflecken und Einwände weg und ist ganz generell für Großzügigkeit und das allgemeine Wohlbefinden zuständig. Meine Großzügigkeit ist eher überschaubar, meine Großzügigkeit beschränkt sich darauf, großzügig über fehlende Sorgfalt hinwegzusehen, den Farbverlauf im Flur oder beim Putzen und Renovieren. Ansonsten hab ich's nicht so mit der Großzügigkeit. Ich kann eher das Gegenteil: Einwände, Bedenken und Prinzipien. Ich kann das Walter-Benjamin-Zitat über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit so auswendig, dass niemand mehr nachfragt, ob ich eigentlich verstanden habe, was ich da zitiere, ich klaube aus den Trümmern des real existierenden Sozialismus die Versatzstücke zusammen, die mir noch brauchbar erscheinen, bunt lackierte Jugendstilschränke aus dem Theaterfundus im Beyerhaus, am Straßenrand abgestellte Möbel und die Vorstellung von etwas, an das ich glauben möchte, aus Filmen wie Paul und Paula oder Solo Sunny. Ich bin 25, ich habe einen knapp zweijährigen Sohn, und ich versuche, das Leben und die Umstände zu gestalten und so zu handeln, dass ich es mir als Umgestaltung der Produktionsverhältnisse verkaufen kann. Ich lege großen Wert darauf, mir erhaben und unangreifbar vorzukommen und verteidige meine Position vorzugsweise mit einer Zigarette im Mund und beim dritten Glas Wein. Dass ich dank Mamas zwangsgepfändetem Beamtengehalt knapp 1000 Mark Unterhalt im Monat beziehe und bis zu Karls zweitem Geburtstag auch noch Landeserziehungsgeld, fällt in meiner Rechnung nicht ins Gewicht, schließlich bin ich Teil eines Theaterkollektivs, alleinerziehend und heize mit Kohlen.
Nina kommt sich nie wie irgendwas vor. Nina macht einfach, dass es den Menschen um sie herum gut geht. Nina schleppt bergeweise Ananas, Mangos, Äpfel, Orangen und Bananen in den dritten Stock und schnippelt Obstsalat in Edelstahlschüsseln, weil wir es dann auch essen, Karl, Luc und ich, das Obst, wenn es uns klein geschnitten vor die Nase gesetzt wird. Nina arbeitet tagsüber für ihren Vater, studiert nachmittags berufsbegleitend Betriebswirtschaft und kellnert abends im Volkshaus. Nina zahlt die Telefonrechnung und vergisst regelmäßig, mich abzukassieren, »ich telefoniere doch eh viel mehr als du«. Nina lacht es weg, wenn ich mich über ihren aktuellen Lover lustig mache, der die Haare ein bisschen zu föhnwellig trägt und immer einen Schirm dabeihat und ihr am liebsten noch den Schraubenzieher aus der Hand nehmen würde. Nina lacht es weg, wenn ich ihr die Haare völlig verschnitten habe und die Lebensgefährtin ihres Vaters, die rot gefärbte Locken und künstliche Fingernägel und einen Friseursalon in Delitzsch hat, das mit der Bartschermaschine zu retten versucht und ihr irgendwas zwischen Army Haircut und Sinéad O'Connor rasiert. Und Nina lacht es weg, wenn ich über die dumpfen Bauernfängerparolen der Initiative Pro DM lästere, die ihren Vater gerne zu einer Kandidatur bewegen würde. Auch das ist Teil unserer Aufgabenteilung. Ich bin herablassend, Nina lässt mich herablassend sein. Wir geraten nie aneinander. Wir streiten nicht. Besser, Nina streitet nicht. Lässt sich...
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