Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Vor drei Tagen hatte es begonnen, in einer Höhe von rund tausendachthundert Metern zu schneien, doch nur leicht, sodass die Stromleitungen stehen geblieben waren. Sabrina Baldwin hielt es für ein Geschenk nach einem für Montana üblich langen, hartnäckigen Winter.
Dann, am vierten Tag, nahm der Wind zu.
Und die Lichter blinkten.
Sie waren beide wach und hörten dem heulenden Wind zu. Als das allgegenwärtige Summen der Elektrogeräte im Haus zusammen mit dem Schein des Weckers verschwand und nach nur wenigen Sekunden wiederkam, sagten beide gleichzeitig »Eins« und lachten.
Diese Lektion hatten sie in ihrem ersten, gemeinsamen Haus in Billings gelernt. Es hatte draußen gestürmt, und die Lichter hatten zweimal hell geblinkt. Jay hatte ihr erklärt, dass das System auf Schwierigkeiten reagierte, indem es die Stromkreise öffnete und schloss, um so die Tragweite der Störung automatisch zu testen, bevor es sich endgültig abschaltete. Es würde einmal blinken, vielleicht zweimal, aber nie dreimal. Zumindest nicht dieses System.
In ihrem neuen Heim in Red Lodge setzten das Licht und das Summen der technisierten Welt erneut aus und kehrten zurück.
»Zwei«, sagten sie.
Alles war, wie es sein sollte. Der Wecker blinkte zwar und wartete darauf, neu eingestellt zu werden, doch der Strom blieb da, und die Heizung sprang wieder an. Sabrinas Hände wanderten über Jays Brust und Arme. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als hätte das System sich selbst wiederhergestellt und alles wäre in Ordnung, niemand müsste hinaus in den Sturm.
Dann fiel der Strom ein weiteres Mal aus, und beide stöhnten auf. Die Probleme der Welt waren gerade von draußen zu ihnen hineingezogen und kündigten sich durch wiederholtes Blinken an wie ein Klopfen an der Tür.
»Verdammt, gleich wird das Telefon klingeln«, seufzte Jay.
Sabrina schmiegte sich an seine Brust und küsste Jays Hals. »Dann lass uns keine Zeit verlieren.«
Genau das taten sie, sie verloren keine Zeit. Trotzdem klingelte das Telefon, bevor sie fertig waren, was sie aber ignorierten. Dieser Moment sollte ihr für den Rest ihres Lebens eigenartig klar in Erinnerung bleiben. Die besondere Stille im Haus durch den Stromausfall, der kalte heulende Wind und der warme Hals ihres Mannes, den sie spürte, als sie ihr Gesicht dagegen drückte, beide so sehr in dem anderen verloren, dass selbst das schrille Geräusch des Telefons sie nicht unterbrach.
Als sie fertig waren, klingelte das Telefon erneut. Leise fluchend küsste er sie, außer Atem, stand auf und ließ sie allein im gemeinsamen Bett zurück, um das Gespräch unten anzunehmen.
In einem neuen Bett mit neuen Laken. Es war einfach alles neu. Sie freute sich über Jays schlichten Duft. Das Einzige, was nicht neu oder anders war. Sie waren vor zwei Monaten nach Red Lodge gezogen, und alle hatten gemeint, dass sie dankbar sein würde für die Schönheit des Ortes, doch noch immer fand sie die Berge eher bedrohlich als bezaubernd.
Ihre Sicht würde sich wohl ändern, wenn der Frühling endlich Einzug hielt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das zu glauben. Im Moment wusste sie nur, dass sie es geschafft hatten, an einen Ort zu ziehen, der Billings wie eine Großstadt erscheinen ließ, was nicht einfach war.
Sie konnte seine Seite des Gesprächs hören, eine eigenartige Mischung aus aktuellen Neuigkeiten und den üblichen Themen. Stürme, heruntergerissene Leitungen, Umspannwerke, Stromkreise. Selbst das Wortspiel war vertraut: Wir wollen doch nicht, dass den Patienten im Krankenhaus das letzte Licht ausgeht.
Ein Witz, den nicht nur er, sondern auch schon sein Vater und sein Großvater gemacht hatten, doch er spiegelte die Lage wider. Die Stromausfälle waren so schlimm, dass das Krankenhaus über Notaggregate betrieben wurde, was bedeutete, dass Jay eine Weile weg sein würde. Bei so einem Wetter waren die Reparaturen selten eine einfache Angelegenheit. Nicht in Montana.
Sie folgte ihm nach unten und kochte Kaffee, während er ihr erklärte, was los war, den Blick schon in die Ferne gerichtet. Sie wusste, dass er gedanklich bereits bei der Landkarte und dem Stromnetz war, um die Probleme einzuordnen, bevor er sich auf den Weg machte. Eine seiner größten Sorgen war es, dass er mit dem lokalen Netz noch nicht genügend vertraut war. In Billings hatte er jedes Umspannwerk gekannt, jeden Abspanntransformator, wahrscheinlich sogar jeden Isolator.
»Es wird ein langer Tag werden«, meinte er und zog seine isolierten Stiefel an. Sie waren in der Küche, mit der Sabrina noch immer fremdelte, sodass sie häufig in die falsche Schublade griff oder den falschen Schrank öffnete. Doch es war ein wunderschönes Heim mit einem fantastischen Blick auf die Berge, der sich ihnen zumindest im Sommer durch diese Fenster bieten würde, die Jay so toll fand, da sie in Richtung der Beartooth Mountains lagen. Für Sabrina waren sie falsch ausgerichtet. Die schlimmsten Stürme kamen stets von diesen Bergen heruntergefegt, und sie konnte sie von hier aus sehen. Sie wünschte sich, die Fenster würden nach Osten zeigen und den Sonnenaufgang einfangen statt der nahenden Stürme.
Sie hatte die Nase voll von Unwettern.
Jay blickte derweil aus dem Fenster, und bestimmt lächelte er wieder. Die Gipfel waren durch die tief hängenden Wolken nicht zu sehen, und der Wind peitschte ein Gemisch aus Eis und Schnee gegen die Scheiben.
»Genieß den Schnee, solange er noch da ist!«, sagte sie. »Es könnte der letzte sein für diese Saison.«
»Brett hat mir erzählt, dass sie den Pass letztes Jahr Mitte Juni schließen mussten wegen fünfunddreißig Zentimeter Neuschnee.«
»Toll!«
Sie hatte Mühe, heiter zu klingen und zugleich eine Prise feinen, aber nicht beißenden Humors hineinzumischen. Sie waren immerhin wegen ihr hierhergezogen und hatten Billings verlassen, weil Jay bereit gewesen war, um ihres Seelenfriedens willen seinen geliebten Job aufzugeben. Er war da draußen Mitglied einer Mannschaft gewesen, eines Teams, das an direkt stromführenden Hochspannungsleitungen arbeitete, oben in der Gefahrenzone. Sie hatten wie Vögel auf diesen Kabeln gesessen, in denen tödlicher Strom pulsierte. Im November hatten sie erlebt, wie tödlich.
Sabrina hatte Jay durch ihren Bruder Tim kennengelernt. Sie waren Kollegen gewesen, wenngleich diese Bezeichnung nicht ganz zutraf, eher Mitglieder eines Sondereinsatzkommandos. Jeder Anruf bedeutete eine Mission, die möglicherweise mit dem Tod enden konnte. Die Bindungen bei dieser Art von Arbeit waren tiefer, und ihr stets beschützender, älterer Bruder hatte nur in den höchsten Tönen von Jay gesprochen. Sie hatte Jay bei einem Grillfest getroffen, eine Woche später gingen sie zum ersten Mal aus, und ein Jahr danach waren sie verheiratet. Ihre Hochzeitstorte war mit winzigen Hochspannungsmasten verziert worden, die die Figuren der Braut und des Bräutigams einrahmten. Sie hatten das bereits für den ganzen Streich gehalten. Doch da hatten sie sich getäuscht. In den Miniaturleitungen floss tatsächlich Schwachstrom, den Tim einschaltete, als Jay den Kuchen anschnitt. Er sprang daraufhin fast zwanzig Zentimeter in die Höhe, und der Rest der Mannschaft krümmte sich vor Lachen.
So vergingen mehrere Jahre. Tim und Jay standen sich näher als die meisten Brüder. Dann kam der November. Ein Routineeinsatz. Tim befand sich auf der Leitung, um eine einfache Reparatur vorzunehmen, ganz sicher, dass kein Strom hindurchfloss. Was er jedoch nicht wusste, war, dass jemand, über einen Kilometer entfernt, einen riesigen Gasgenerator angeworfen hatte, da er nicht die Reparatur abwarten wollte. Der nicht fachmännisch angeschlossene Generator verursachte eine Nachspeisung. Die harmlose Leitung führte in dem Augenblick wieder Strom, als Tim das Kabel in den Händen hielt.
Er starb oben auf dem Mast. Jay kletterte hinauf, um die Leiche zu bergen.
Drei Wochen nach der Beerdigung erklärte Jay Sabrina, dass er die Arbeit als Leitungsmonteur aufgeben würde. In Red Lodge war die Stelle eines Vorarbeiters frei. Sie müsste sich nie wieder darüber Gedanken machen, dass er noch einmal auf einen Mast klettern und sie ihren Mann genauso verlieren würde wie ihren Bruder.
»Ich liebe dich«, sagte er und stand vom Tisch auf.
Sie küsste ihn noch einmal. »Ich dich auch.«
Er ging in die Garage. Sie hörte den Pick-up starten, marschierte zur Haustür, öffnete sie und stand in dem eisigen Wind, um ihm zum Abschied zu winken. Er hupte zweimal wie der Roadrunner und war weg. Sie schloss die Tür und spürte sowohl Verärgerung als auch ein schlechtes Gewissen. Immer wenn er bei solch einem Wetter hinausmusste, war sie hin- und hergerissen zwischen der Angst vor dem, was ihn draußen erwartete, und dem Wissen, dass sie auf seine Arbeit eigentlich stolz sein sollte.
Was sie in der Tat auch war. Wirklich. Dieser Winter war nur ungewöhnlich schlimm gewesen, mehr nicht. Es lag an dem schmerzhaften Verlust von Tim und dem aufreibenden Umzug, dass sie unzufrieden war, es lag nicht an Red Lodge. Der Schnee würde schmelzen und der Sommer kommen. Ihr Café in Billings hätte ohnehin keine Zukunft mehr gehabt. Der Vermieter wollte das Haus verkaufen, und sie hatte noch keinen Ersatz gefunden. So hatte sich der Sommer in Billings als unheilvoll abgezeichnet, wohingegen er jetzt vielversprechend aussah. Sie hatte bereits eine gute Immobilie gefunden, in der sie ein neues Café eröffnen konnte. Außerdem war es für sie beruhigend zu wissen, dass ihr Mann am Boden blieb, egal was heute dort draußen passieren...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.