Schweitzer Fachinformationen
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Einleitung
Im Kopf die ganze Welt
»Wenn eine unserer Gaben noch großartiger als die anderen genannt werden kann, dann ist es, finde ich, das Gedächtnis. Es liegt etwas Verräterisches darin, dass die Stärke, das Versagen, die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses so viel unbegreiflicher sind als die all unserer anderen Geisteskräfte. Das Gedächtnis ist manchmal so verlässlich, so nützlich, so gehorsam und manchmal so verwirrt und so schwach und dann wieder so tyrannisch, so unkontrollierbar! Wir sind zwar in jeder Hinsicht ein Wunder, aber unsere Fähigkeit, zu erinnern oder zu vergessen, erscheint mir ganz besonders unerklärlich.«
Jane Austen, Mansfield Park
Genau 1440 Minuten hat ein Tag, das sind 86400 Sekunden, und in jeder Minute, in jeder Sekunde eines solchen Tages verarbeitet unser Gehirn eine Unmenge an Sinnesinformationen. Wir reden, lachen, weinen; unterhalten uns mit dem Bäcker, mit unseren Kindern oder mit Freunden, wir treiben Sport oder wir denken an Vergangenes und planen die Zukunft. Hierbei machen wir immerzu neue Erfahrungen und lernen auch immer wieder etwas Neues. Selbst wenn wir schlafen, wird am Tage Gelerntes abgespeichert. Von der Schwierigkeit dieser Prozesse merken wir meist nichts. Dabei muss das Gehirn nicht nur einen kontinuierlichen Fluss an Sinneseindrücken verarbeiten, sondern auch gleichzeitig Neues speichern und Altes erinnern, ohne dabei von der Informationsflut der uns umgebenden Welt überwältigt zu werden. Dass uns dies gelingt, verdanken wir einer Meisterleistung unseres Gehirns: unserem Gedächtnis.
Weitere Zahlen helfen, zu belegen, wie riesig die Aufgabe ist, die das Gehirn zu bewältigen hat: Statistisch fahren Menschen 58-mal in ihrem Leben in den Urlaub und lernen 1700 Menschen näher kennen, sie lesen 2100 Bücher und sehen 5800 Filme; wir lernen sprechen, gehen, Auto und Rad fahren, kochen, waschen, neue Sprachen, einen Computer zu bedienen, Kinder zu erziehen und vieles mehr. Hinzu kommen Schul- und Ausbildungswissen sowie Berufserfahrung. All das und noch viel mehr will gespeichert und erinnert werden in unserem Gehirn, das gerade einmal 1350 Gramm wiegt und über eine Energieleistung von 30 Watt verfügt - das entspricht der einer schwach dimmenden alten Glühbirne.
Was wir an unserem Gedächtnis haben, merken wir erst, wenn es uns im Stich lässt. Tatsächlich muss man sich die Fähigkeit des Erinnerns nur einmal ganz konsequent wegdenken, um sich darüber klar zu werden, dass wir, wie Dieter E. Zimmer einmal geschrieben hat, ohne diese magische Fähigkeit des Gehirns, ohne unsere Fähigkeit, das, was gewesen ist und nicht mehr ist, in uns festzuschreiben, nichts anderes wären als Steine.
Immanuel Kant hat den Raum und die Zeit als die Grundsätze des Denkens festgelegt, ohne sie können wir uns unser Dasein nicht denken. Beide sind vor allem Domänen unseres Gedächtnisses: Sich im Raum zu orientieren, überhaupt räumliche Bezüge herstellen zu können, ist eines der ersten Charakteristika unseres Gedächtnisses. Und auch die Fähigkeit, Dinge aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, macht uns aus. Denn nur so können wir die Zukunft planen.
An irgendeinem Punkt unserer evolutiven Geschichte haben wir die Fertigkeit entwickelt, ein Ereignis zeitlich zu markieren. Sie ermöglicht es uns, zwischen Aktion und Reaktion zu unterscheiden und kausale Bezüge herzustellen. Erst dieser Schritt der kognitiven Entwicklung erlaubte es uns, rückwärts in der Zeit zu reisen ebenso wie Vorhersagen über die Zukunft zu wagen. Fortan vermochte unsere Spezies kulturelle Artefakte zu schaffen, etwa in Form von Höhlenmalereien, die in Spanien, Italien, Frankreich und auch in Deutschland zu finden sind. Sie sind bis zu 40000 Jahre alt. Es sind Zeugnisse, die die Zeit überdauern sollten und die versuchten, die Welt verstehbar zu machen. Ohne Zeitempfinden (dessen Voraussetzung unser Gedächtnis ist) würden wir in einer bedeutungslosen Gegenwart leben. Wir wären Gefangene der Gegenwart und würden eine der zentralen Säulen unserer intellektuellen Orientierung verlieren, die Augustinus so beschrieben hat:
»Das ist nun wohl klar und einleuchtend, dass weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung. Wenn es uns gestattet ist, so zu sagen, so sehe ich allerdings drei Zeitunterschiede und gestehe, dass es wirklich drei gibt.«
Unser Gedächtnis: Der Stoff, aus dem unser Selbst gemacht ist
Unsere Erinnerungen sind nicht nur eine Akkumulation von Fakten und Schulwissen, nicht nur Datenpunkte auf unserer Lebenslinie oder Einzelheiten unserer Autobiographie. Sie sind viel mehr: Sie sind der Stoff, aus dem unser Selbst gestrickt ist, in dem unsere Erlebnisse und Erfahrungen ebenso verwoben sind wie unsere Gewohnheiten und Gefühle. Das gesunde Gedächtnis ist ein Meister im Spinnen, Weben und Vernetzen. Erst das Gedächtnis stattet uns mit einer individuellen Persönlichkeit und mit einer Ich-Perspektive aus und lässt uns dadurch zu kulturellen Wesen werden mit einer Identität in der Welt, in der wir leben. Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis - und unser Gedächtnis sind wir.
Unser Gedächtnis arbeitet dabei meist wie ein verdeckter Ermittler - sozusagen undercover: Es verrichtet seine Arbeit im Verborgenen. Vieles von dem, was wir abspeichern, wie Erinnerungen unsere aktuellen Wahrnehmungen beeinflussen und wie sehr die Gedächtnisprozesse unsere Zukunftsplanung bestimmen, wird uns nicht bewusst. Wir bemerken unser Gedächtnis immer nur dann, wenn es mal nicht funktioniert, und das ist in einem gesunden Gehirn erstaunlich selten der Fall.
Verborgen bleibt auf ewig auch der Beginn unseres eigenen Lebens, denn die ersten dreieinhalb Jahre unseres Lebens gehen uns verloren, wir erinnern sie einfach nicht. Und dies kann ebenso für die letzten Jahre des Lebens gelten, wenn Menschen an Erkrankungen des Gedächtnisses leiden, wie z. B. der Alzheimer-Demenz.
Auch für den Schriftsteller Vladimir Nabokov ist die Erinnerung, unser Gedächtnis, zentral, er macht sie zum Titel seiner Autobiographie: Erinnerung, sprich. Sie beginnt mit den Worten: »Die Wiege schaukelt über einem Abgrund.« Nabokov fährt mit allgemeinen Überlegungen fort, von denen er weiß, dass sie von älteren Menschen gerne ausgeblendet werden: ». und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. Obschon die beiden eineiige Zwillinge sind, betrachtet man in der Regel den Abgrund vor der Geburt mit größerer Gelassenheit als jenen anderen, dem man (mit etwa viereinhalbtausend Herzschlägen in der Stunde) entgegeneilt.«
Durch die Grenzen des menschlichen Lebens werden die individuellen Augenblicke nicht besonders kostbar, sondern entwertet: »Die Natur erwartet vom erwachsenen Menschen, dass er die schwarze Leere vor sich und hinter sich genauso ungerührt hinnimmt wie die außerordentlichen Visionen dazwischen. Die Vorstellungskraft, die höchste Wonne des Unsterblichen und Unreifen, soll ihre Grenzen haben. Um das Leben zu genießen, dürfen wir es nicht zu sehr genießen.«
Nabokov wird die Erinnerung zum Akt der Auflehnung, zum Streik wider die Natur. Die Vorstellungskraft, auch die Triebfeder aller Künste, wird erst durch die Erinnerung ermöglicht. Nabokov beschreibt diese vorgestellte, erinnerte Welt als einen unschätzbaren Wert - und damit stimme ich vollständig überein.
Jetzige Zeit und vergangene Zeit
Sind vielleicht gegenwärtig in künftiger Zeit
Und die künftige Zeit enthalten in der vergangenen.
Ist alle Zeit auf ewig gegenwärtig
Wird alle Zeit unerlösbar.
Was hätte sein können ist eine Abstraktion
Und bleibt als unentwegte Möglichkeiten bestehn
Nur in einer Welt spekulativen Denkens.
T. S. Eliot, »Vier Quartette«
Anders als bei Nabokov werde ich im Weiteren schildern, dass diese Gedächtnisfähigkeiten des Gehirns nicht wider unsere Natur sind, sondern unser Wesen ausmachen. Vergangenes erinnern zu können ist keine Auflehnung gegen die Natur, sondern es ist ein integraler Bestandteil unserer menschlichen Natur - und gleichzeitig ein Wunderwerk der Evolution: Wo doch der Zeitpfeil der physikalischen Welt nur in eine Richtung zeigt, nämlich in die Zukunft, und der Zeitpfeil für Lebewesen nur in Richtung Vergänglichkeit, können wir mit unserem Gedächtnis in jede beliebige Richtung Zeitreisen unternehmen. Wir brauchen nur die Augen zu schließen, um uns an gestern zu erinnern oder an Erlebnisse, die lange vorüber sind und sich tief in unseren Gedächtnisgräben versteckt haben.
Wir wären nicht wir ohne unser Gedächtnis. Erinnerungen bestimmen, wer und was wir sind, und auch was wir mit anderen teilen. Ohne unser Gedächtnis bleibt nichts von uns als Person übrig - sogar unsere sozialen Bezüge gehen verloren. Entsprechend ist das Gedächtnis ein Schatz, den man hegen und pflegen sollte, und das können wir, je besser wir das Gedächtnis verstehen. Das Problem dabei ist: Das Gedächtnis hat keinen festen Sitz, keinen ihm zugewiesenen Platz im...
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