Vom ICH zum WIR
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Michael Korpiun, Susanne Korpiun
Relationales Selbst - Was uns als Menschen einzigartig macht und zugleich verbunden sein lässt
Relationales Selbst - Was uns als Menschen einzigartig macht und zugleich verbunden sein lässt
Michael Korpiun, Susanne Korpiun
Zusammenfassung
Ausgehend von einer konkreten Beziehungserfahrung machen wir uns in diesem Beitrag auf die beziehungsbezogene Spurensuche dazu, was uns als Menschen einzigartig macht und zugleich verbunden sein lässt. Auf Basis einiger kurzer Vorüberlegungen zur Einzigartigkeit des Menschen (Kapitel 1) illustrieren wir zunächst eine konkrete Beziehungserfahrung als illustrative Vignette (Kapitel 2). Hierauf aufbauend charakterisieren wir an insgesamt neun Perspektiven die Grundlagen des relationalen Selbst des Menschen, stellen darauf aufbauend ein Modell des persönlichen Entwicklungsraums des Menschen vor (Kapitel 3) und fassen unsere Überlegungen knapp zusammen (Kapitel 4). Den Abschluss bildet eine kleine Meditation zur Bezogenheit des Menschen (Kapitel 5). Dieser Artikel bietet einen alternativen Entwurf zu individualistischen Menschen- und Weltverständnissen und stellt, neben weiteren aus unserer Sicht relevanten und miteinander vernetzten Aspekten, vor allem die Beziehungshaftigkeit des Menschen in den Fokus.
1 Einführung
Wir Menschen sind besonders. Keiner gleicht dem anderen. Und weil wir unterschiedlich sind, ist Begegnung möglich. Die Begegnung erfordert die Andersartigkeit. Was gleich ist, kann sich nicht begegnen. Die Einzigartigkeit impliziert somit die Relationalität. Der Persönlichkeit des Menschen, verstanden als sein individueller Ausdruck liegt somit die Bezogenheit zugrunde. Sie ist eine existentielle Grundtatsache (vgl. Rosa 2016, S. 235).
Als Menschen sind wir alle verschieden. Und in unserer Unterschiedlichkeit wir können uns trotzdem sehr nahe sein. Jeder von uns ist einzigartig. Und wir können uns sehr verbunden fühlen. Kein Lebensweg gleicht dem anderen. Und wir können Abschnitte davon gemeinsam gehen. Wir sind unterschiedlich. Und wir können miteinander erfolgreich sein. Die Dualität von Einzigartigkeit und Fähigkeit zur Verbundenheit (vgl. Dürr 2012, S. 22) machen den Menschen so besonders.
"Die Tatsache besteht, daß selbstverwirklichende Menschen gleichzeitig die am meißten individualistischen und am meißten altruistischen, sozialen und liebenden aller Menschen sind. Die Tatsache, daß wir in unserer Kultur diese Eigenschaften an die entgegengesetzten Enden eines einzigen Kontinuums platziert haben, ist offenbar ein Fehler, den man jetzt korrigieren muß. Sie gehen einher und die Dichotomie löst sich bei selbstverwirklichenden Menschen auf." (Maslow 2008, S. 232) Das Soziale und das Einzigartige sind einander jeweils inhärent.
Die Relationalität des Menschen ist somit ein Wesensmerkmal. Sie ist Seinsgrund des Menschen. "Dem 'Relationalen' wird hier gewissermaßen ein ontologisches Primat eingeräumt, d.h. Relationen werden nicht als nachträgliche Verbindungen zwischen bereits bestehenden oder Instanzen betrachtet, sondern gegenteilig wird davon ausgegangen, dass diese Entitäten in ihrer spezifischen Form erst durch die ihnen vorausgehenden Relationen entstehen bzw. existieren. Kurz gesagt: Relationen gehen Relata voraus." (Künkler 2011, S. 527). Foucault spricht bei Menschen i.d.R. von Subjekten und sagt das Subjekt "(.) ist keine Substanz. Es ist eine Form, und diese Form ist weder noch vor allem mit sich selbst identisch. (.) (Man) errichtet verschiedene Formen der Beziehung zu sich selbst" (Foucault 1985, S. 18). Damit ist darauf verwiesen, dass das Selbst keine zentrale abgeschlossene Entität darstellt, die ihre Existenz und Qualität ausschließlich aus sich selbst heraus beschreibt, sondern das Selbst besteht nur als ein "Selbst-in-Beziehung" (vgl. Gron 2004). Auch Perls ging davon aus, dass das Selbst von sich aus keine Substanz habe (vgl. Perls 1980, S. 121), sondern vielmehr ein Entfaltungsvermögen, dass sich über die Beziehungen zur Umwelt herausbildet. Auch wenn wir den Eindruck haben, schon immer eine Identität zu besitzen, so ist sie doch etwas, dass sich nur durch die Umwelt konstituieren kann (vgl. Breitenbach & Köbel 2016, S. 21). Die Gestaltungsmöglichkeit dieses Seinsgrundes ist seine Potenzialität. Anders formuliert: als Menschen sind wir immer Bezogene und damit in Beziehung. Zugleich eröffnet sich uns damit ein Möglichkeitsraum, diese Beziehungen zu gestalten - nah oder distanziert, vielschichtig oder eindimensional, langfristig oder kurz, verbindlich oder unverbindlich. Immer jedoch sind es Beziehungen, in die unser Leben eingebettet ist. Beziehungen sind der Lebensvollzug des Menschen. Sie prägen uns und wir sie. Und so leben wir. In der Art, wie wir uns in Beziehungen ausdrücken und sie gestalten, zeigen wir uns in unserer Einzigartigkeit. Relationales Selbst ist damit das, was uns als Menschen besonders und einzigartig macht. Diesem Gedanken wollen wir im nächsten Schritt anhand einer kürzlich erlebten Begegnung, also einer Beziehungsgeschichte, näher kommen.
2 Was alles passieren kann, wenn wir uns begegnen
Die nachfolgende Schilderung ist entstanden aus der Reflexion einer Begegnung, die ich, Susanne Korpiun, im Dezember 2016 hatte. Und diese Begegnung trug sich folgendermaßen zu:
"Dagmar ist eine meiner besten Freundinnen. Mit ihr verstehe ich mich richtig gut und oft ohne Worte. Selbst, wenn wir uns lange Zeit nicht gesehen haben, können wir mühelos wieder den Faden aufnehmen. So sind wir gut im Kontakt. Wir haben eine tiefe Beziehung. Und ich kann gar nicht sagen, woran das eigentlich liegt, dass ich mich mit ihr so gut verstehe.
Alljährlich zu ihrem Geburtstag im Dezember lädt Dagmar ihre Freundinnen zu einer gemeinsamen Wanderung ein. Wir wandern immer im Deister. Unterwegs kehren wir als Belohnung in einer Gaststätte ein. Und mittlerweile warte ich schon im Spätherbst auf ihre Einladung.
Die von Dagmar eingeladenen Frauen gehören nicht zu meinem eigenen Freundeskreis. Und obwohl wir Frauen uns nur einmal im Jahr sehen, verstehe ich mich mit manchen sehr gut und habe viel Kontakt, mit anderen weniger. Zu einigen fühle ich mich eher hingezogen, zu anderen wieder nicht. Ich denke, den Frauen geht es mir gegenüber ebenso: einige suchen den Kontakt mit mir, andere nicht.
Wenn wir uns dann gemeinsam auf den Weg machen, starten wir zuerst als ganze Gruppe. Das bleibt aber nicht so und bereits nach kurzer Zeit teilen wir uns wie von selbst im Gehen auf in kleine Gruppen. Ohne es wirklich zu merken, knüpfen wir an den Themen vom letzten Jahr an. So setzen wir unsere Gespräche fort, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Wir fühlen uns über die gemeinsamen Themen miteinander verbunden. Im Gehen fließen unsere Gespräche.
Ich merke, dass sich im gemeinsamen Gehen ein bestimmter Rhythmus entwickelt. Ich gehe mein Tempo und andere gehen mit mir. Einige gehen langsamer, andere schneller. Indem ich mein Tempo gehe, laufe ich keinem hinterher und vor keinem weg. Ich komme in Kontakt mit denen, die mit mir gehen oder mein Tempo haben. Und manchmal gehe ich eine Strecke alleine.
Dieses Jahr habe ich jemanden vermisst, mit dem ich mich gerne wieder unterhalten hätte. Dafür hat sich etwas Neues entwickelt: eine Mitwanderin hat mich angesprochen, ob ich Interesse hätte, mit ihr und anderen aus der Gruppe für ein paar Tage im Herbst auf eine Nordseeinsel zu fahren, Zeit miteinander zu verbringen und sich über das Leben auszutauschen. Ich habe zugesagt und bin seitdem gespannt, was mir dort begegnet."
Begegnungen sind ein Möglichkeitsraum. Was in ihm entsteht, ist grundsätzlich unverfügbar. Das ist die Besonderheit von Beziehungen. Für gute und gelungene Beziehungen können wir individuell etwas beitragen. Ob sie jedoch gelingen, liegt nicht alleine in unserer Hand. Gleichzeitig lohnt es sich, die Besonderheiten der Beziehungshaftigkeit des Menschen näher zu betrachten. Je mehr wir davon verstehen, desto achtsamer können wir sein im Möglichkeitsraum der Begegnung mit dem anderen. Im nachfolgenden Kapitel 3 stellen wir dazu einige grundlegende Einsichten und Erkenntnisse vor, die uns besonders wichtig erscheinen.
3 Grundlagen des relationalen Selbst
Für das Verständnis von Beziehungen ist ihre räumliche Erfahrung von zentraler Bedeutung (vgl. Bowlby 1988). Bowlby formulierte die Bindungstheorie ausgehend vom Begriff der sicheren Basis als eine eminent räumliche Theorie (vgl. Holmes 2006). Beziehungen werden immer in räumlichen Zusammenhängen erfahren bzw. liegen ihr zugrunde. Das nachfolgende Kapitel beleuchtet diese Zusammenhänge näher.
3.1. Beziehungsräume als räumlicher Erfahrungszusammenhang von Beziehungen
Wenn Menschen sich begegnen, entstehen Beziehungsräume. Das vorangestellte Beispiel der jährlich wiederkehrenden Begegnung...