Schweitzer Fachinformationen
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Die Knötchen in meinen verspannten Muskeln sind so dick, dass ich nicht mal ein Glas Weißwein heben kann, ohne dass es wehtut. Sie haben sich multipliziert, sich in all meinen Muskeln festgesetzt, und sie wachsen und schwellen unter meinen Schulterblättern, wo niemand hinkommt. Nicht mal Ibuprofen. Meine Mutter studiert mein gequältes Gesicht mit sorgenvoller Miene. Seit über zehn Minuten sitzen wir uns schweigend gegenüber.
»Darf ich dich ein bisschen massieren?«, fragt sie und steht auf.
»Nein danke, Anaana.«
Sie kommt zu mir rüber und legt ihre zermürbten Hände auf meine Schultern.
»Anaana, ich hab Nein gesagt.«
Sie beginnt, meine Schultern aufzuwärmen. Ihre gichtigen Knochen sind massig und hart. So wie sie selbst. Ich lasse meine Finger knacken.
»Lass das, sonst bekommst du Gicht.«
Ich fange an, auf Facebook zu scrollen, und halte inne, als ich das Bild einer Frau und haufenweise gebrochene Emoji-Herzen sehe. Auf ihrer Brust steht in neongrüner Schrift 1981-2018, RIP.
»Wer ist das?«, fragt Anaana. Sie kommt ganz nah ran und atmet mir schnaufend ins Ohr. Von der kurzen Massage ist sie schon aus der Puste. Ich halte mein Handy hoch, damit sie das Foto sehen kann.
»Kenne ich nicht«, sagt sie. »Was ist passiert?«
»Bestimmt Selbstmord.«
»Oh. Schlimme Sache.«
»Danke«, sage ich und stehe auf.
»Aber ich wärme dich doch gerade erst auf!«
»Du weißt, dass ich nicht gern massiert werde.«
»Wer wird denn bitte nicht gern massiert? Das ist doch nur eine Ausrede«, sagt sie und reißt sich in einer heftigen Bewegung das weinrote Seidenband vom Kopf, sodass ihr die Haare über die Schultern fallen.
»Eine Ausrede wofür?« Ich trinke einen großen Schluck Weißwein.
»Um dich nicht mit mir unterhalten zu müssen!«
Ich weiß beim besten Willen nicht, wann ich ihrer Meinung nach reden und wann ich die Klappe halten soll. Ich bin eine Puppe mit Batterien, der sie auf den Bauch drücken kann, wenn sie will, dass sie etwas sagt. Sie drückt und drückt, andauernd will sie, dass ich etwas anderes sage als das, was ich sage.
»Worüber willst du denn reden?«
»Das weißt du ganz genau!« Sie bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und fängt noch mal von vorn an, als eine kleine Strähne herausrutscht.
»Anaana, ich hab mich entschieden. Finde dich damit ab.«
Ich überlege, ob ich sie umarmen soll, bringe es aber nicht über mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns zuletzt umarmt haben.
»Ich finde einfach, du bist noch nicht bereit wegzuziehen. Was ist denn so schlimm daran, hier auf die Uni zu gehen? Warum musst du unbedingt nach Dänemark? Du bist nicht bereit«, sagt sie.
»Ich bin schon lange bereit.«
Ich leere mein Weinglas und gehe die Treppe runter. Ich fülle die Badewanne mit beinahe kochendem Wasser. Ich drücke fest auf das Duschgel, sodass kleine Bläschen durchs Bad fliegen. Es brennt auf der Haut, als ich in die Wanne steige. Aber schon nach wenigen Minuten bin ich so gut wie gefühllos. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, an einem Spätsommerabend in Italien zu sein. Aber da klopft es an der Tür. Anaana kommt mit einem Glas Wein ins Bad und stellt es auf dem Tischchen neben mir ab.
»Hilft das ein bisschen gegen deine Verspannungen?«, fragt sie mit beschlagener Brille.
Ich nicke und hebe die Augenbrauen. Sie steht reglos da und wartet, dass irgendetwas passiert. Ich bedecke meine Möpse mit Schaum. Sie versteht den Wink nicht.
»Darf ich ein bisschen allein sein?«
Sie seufzt und geht. Ich höre sie oben in der Küche umherstampfen. Sie räumt die Spülmaschine aus. Schmeißt Besteck in die Schublade und Teller in den Schrank, und ich höre meinen Vater brummen. Nicht zu fassen, dass ich es hier so lange ausgehalten habe.
»Ich verstehe einfach nicht, wieso sie nicht mit mir redet!«, beschwert sie sich bei meinem Vater, der etwas Unverständliches zurückbrummt.
So läuft es immer. Anaana beklagt sich, Ataata gibt merkwürdige Brummlaute von sich als Bestätigung, dass er sie hört. Ich sinke unter Wasser und halte die Luft an. Hier ist es still. Nach einer halben Minute schreit meine Raucherlunge nach Luft, aber ich bleibe noch weitere anderthalb Minuten unten. Ich zähle die Sekunden. Zwei Minuten absoluter Stille. Ich habe von vielen Überlebenden gehört, dass es wunderschön ist zu ertrinken. Alles ist voller Farben. Und erfüllt von Ruhe, weil man schnell das Bewusstsein verliert, unterkühlt und in der Regel nach siebenundachtzig Sekunden ins Koma fällt. Ich tauche erneut unter und halte drei Minuten lang die Luft an. Ich wünschte, ich wäre ein Fisch. Ein kleiner Fisch in Italien. Ewig in Stille. Bald, denke ich, und atme tief ein, bald fahre ich. Aber das bedeutet auch, dass ich Maliina zurücklasse.
Anaana ist unzufrieden mit der braunen Soße, die Ataata zu den Frikadellen gemacht hat, deshalb rührt sie in der Küche manisch mit dem Schneebesen, während Ataata seine dickflüssige Soße über seinen ganzen Teller gießt und im Stillen protestiert. Ich schiele im Zehnsekundentakt auf mein Handy und schlinge eine Frikadelle nach der anderen runter. Anaana schafft es gerade noch, sich an den Tisch zu setzen, bevor ich meine Kartoffeln aufgegessen habe.
»Denk dran, mit Salz und Mehl aufzupassen, du weißt doch, wie viel du furzt, wenn du zu viel Mehl isst«, sagt sie.
»Qaa, wir essen!«
»Hast du schon gepackt?«, fragt sie und tunkt ihre Frikadelle in ihre braune Soße.
Ich schüttle den Kopf.
»Du hast nur noch eine Woche! Du musst deine Wäsche waschen, sortieren, aufräumen, Platz im Koffer finden für alles . Hast du daran gedacht, eine Liste zu schreiben?«
Die braune Soße tropft von der Frikadelle auf der Gabel. Es sieht aus wie Durchfall.
»Qaa, wir essen!«, rufe ich.
»Wir WERDEN uns unterhalten, während wir essen. Wir haben keine Eile«, gibt sie zurück.
Ich deute hektisch auf die tropfende Soße, und sie schiebt sich die Frikadelle in den Mund. Sie kaut und kaut, weil sie glaubt, sie würde weniger essen, je länger sie kaut. In ihrem Mundwinkel hängt braune Soße. Mir vergeht der Appetit, und ich checke, ob Maliina geschrieben hat.
Bin zu Hause, komm einfach, falls du Lust hast.
So was von. Ich zwinge die letzte Kartoffel runter.
»Ich geh dann.«
»Wir haben uns doch gerade erst hingesetzt!«, ruft Anaana.
»Maliina ist nicht gut drauf, ich muss zu ihr.«
»Wann treffen wir diese Maliina endlich?«, fragt sie hoffnungsvoll.
»Wir sind nur befreundet«, antworte ich.
Ich kann den dicken Nebel riechen, der bereits über Akia auf der anderen Seite des Fjords aufgezogen ist. In ein paar Stunden wird er Nuuk erreicht haben. Heute Nacht scheint die Sonne also nicht. Maliina sitzt in einer kurzen Sporthose auf der Couch, als ich in ihre Zweizimmerwohnung komme.
»Ich muss nur kurz den Absatz fertig lesen«, sagt sie und lächelt.
Ich setze mich ans andere Ende der Couch und betrachte ihre dunklen Augen. Offenbar liest sie gerade einen traurigen Abschnitt, jedenfalls runzelt sie die Brauen und seufzt tief, als sie das Buch weglegt. Sie bettet ihren Kopf auf meine Brust und hält mich fest.
»Scout hat seinen Bruder verloren«, sagt sie.
Ich küsse ihren Kopf, er riecht nach Minze und Schweiß.
»Stell dir mal vor, wie es sein muss, seinen Bruder zu verlieren«, fährt sie fort.
Ich habe mir den Tod meiner Schwester schon ausgemalt. Ich habe mir ausgemalt, wie meine Eltern und ich jedes Wochenende ihr Grab besuchen. Wie wir uns umarmen und sagen, dass wir einander brauchen. Wie wir einen starken Zusammenhalt in der Trauer finden und erkennen, wie wichtig es ist, einander bedingungslos zu lieben. Alles auf Anfang zu setzen, von vorn zu beginnen. Allen Groll gegen meine Schwester zu begraben.
»Das wäre schrecklich«, sage ich, und sie nickt.
»Ist der Semesterplan eigentlich schon veröffentlicht?«, fragt sie plötzlich.
»Hab noch nicht geschaut«, antworte ich.
»Können wir nicht deine Mails checken? Ich will unbedingt sehen, was für Seminare ihr habt.«
»Nicht jetzt.«
»Ist eigentlich auch egal, du wirst in allem gut sein«, lächelt sie und küsst mich.
Ich versuche, sie mit Zunge zu küssen, aber sie zieht sich sofort zurück. Sie will eine Antwort.
»Wird sich zeigen, wie gut ich sein werde«, sage ich.
»Auf jeden Fall wirst du gut sein! Der Test hat doch ergeben, dass genau das dein Ding ist!«
Dabei hatte ich bloß geantwortet, was am besten klang, als sie mir gegenübersaß und einen Haufen Fragen aus einem Studienwahltest stellte. Sie war total happy, als rauskam, dass ich eine gute Anthropologin abgeben würde. Später googelte ich Anthropologie.
»Stell dir mal vor«, sage ich, »jetzt ist es schon . wie lange her? . ein Jahr, seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin?«
»Es ist so viel passiert seitdem«, erwidert sie.
»Du warst so heiß«, sage ich.
Sie lächelt verlegen, aber ich bin noch nicht fertig.
»Hättest du damals gedacht, dass wir mal zusammen im Bett landen würden?«
»Weiß nicht. Anfangs nicht, nein.«
»Kann ich gut verstehen. Man wirkt nicht sonderlich anziehend,...
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