Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
New York, Juni 1934
Ruth stand am Schlafzimmerfenster ihres Appartements im fünften Stock und hielt mit ausgestrecktem Arm den Deckel eines Schuhkartons ins Freie. Aus dem Wohnungsflur hörte sie Bill rufen.
»Zieh einfach das Erstbeste an, Liebling! Für den Zoo musst du dich nicht herausputzen.«
Damit lag ihr Bill gleich doppelt falsch. Erstens war Ruth längst ausgehfein - etwas Schönes im Schrank zu finden, gelang ihr mühelos, manchmal träumte sie sogar von neuen Kombinationen. Zweitens musste sie sich immer herausputzen, denn welche New Yorkerin würde sonst Kleider von ihr entwerfen lassen?
Aber antworten konnte Ruth gerade nicht. Im Kartondeckel lagen Sonnenblumenkerne. Tief unter Ruth wuselten Menschen über die Gehwege der 18th Street, geschäftig, aber nicht ganz so eilig wie sonst. Es war Sonntag und der erste warme Tag des Jahres, zehn Uhr morgens. In der Saint Peter's Church begann gerade die Messe, und gleich musste die Taube kommen. Wie es dem Vogel gelang, Tag für Tag pünktlich zu sein, wusste Ruth nicht. Aber für eine Art, die über Hunderte Meilen nach Hause zurückfand, war das wohl eine Kleinigkeit. Schwierigkeiten bereitete der Taube nur das Landen. Die Ärmste hatte verstümmelte Krallen. Da kam sie schon! Sie steuerte Ruth an, stürzte flatternd auf den Deckel, kippte nach vorn, richtete sich mit dem Schnabel auf und balancierte mit gespreizten Beinen auf dem glatten Karton. Mit ihren versehrten Füßen fand sie schlecht Halt und konnte sich nicht an Äste klammern. Oft saß sie auf dem flachen Dach gegenüber. Die Federn an ihrem Hals leuchteten grün und violett.
»Guten Morgen, Schönheit«, sagte Ruth.
Die Taube schüttelte sich, ordnete ihre Flügel und begann, die Kerne aufzupicken. Zufrieden beobachtete Ruth sie dabei. Bis die erste Fütterung gelungen war, hatte es vieler Versuche bedurft, aber sowohl Ruth als auch das Tier waren unermüdlich gewesen. Bill hatte all das verpasst, weil er auf Komodo Warane gejagt hatte, gelbzüngige Monster, die sie heute besuchen wollten. Die Taube war satt. Mit schief gelegtem Kopf beäugte sie Ruth. Ob sie sich irgendwann berühren ließe? Schon als kleines Kind hatte Ruth Tiere geliebt und beim Abendessen heimlich Käsestückchen aufgespart, um damit die Mäusefamilie anzulocken, die hinter der Wandverkleidung ihres Zimmers gelebt hatte.
»Braves Täubchen«, sagte Ruth. »Nun flieg zurück und bau an deinem Nest. Ich muss zu den Drachen.«
Den Waranen ging es sichtlich gut. Als Ruth und Bill die Gehege im Bronx Zoo erreichten, wurde das Männchen gerade gefüttert. Wegen seines aggressiven Verhaltens lebte es allein. Gierig schnappte es sich einen Brocken von etwas Blutigem, das ein Pfleger mit einer Stange durch die Stäbe des Zauns schob, schleppte es in eine Ecke, schlug es mit kräftigen Kopfbewegungen auf den Boden und verschlang es in einem Stück.
»Holla!«, rief Bill.
Seine jungenhafte Begeisterung rührte Ruth, aber der Anblick des Tieres jagte ihr Schauer über den Rücken. Die spitzen Zähne, die scharfen Klauen und der lange, schuppige Körper mit dem peitschenden Schwanz waren Stoff für Albträume.
Der Pfleger verfolgte das Spektakel ebenfalls.
»Was gebt ihr ihnen?«, fragte Bill.
»Heute Hühnchen.« Der Mann wischte seine Hände an einem Tuch ab. »Aber bis jetzt haben sie alles gefressen, was ich ihnen angeboten habe. Hervorragende Verwerter sind das. Geflügel können die fast komplett umsetzen.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Ruth.
»Na ja, wir wiegen das Futter ab und dann, äh .«
Offenbar hielt er Ruth für zu fein, um unappetitliche Details verkraften zu können. Zu einem Kostüm trug sie weiße Handschuhe und einen Hut mit Spitzenschleier. Letzterer hielt die Fliegen auf Abstand, von denen es hier viele gab, denn neben ihrer Liebe für Mode besaß Ruth durchaus Sinn fürs Praktische.
»Dann wiegt ihr, was aus dem Tier wieder rauskommt«, beendete Ruth seinen Satz.
»Genau.« Der Pfleger lachte erleichtert. »Der Arzt hat ausgerechnet, das sind nur fünfzehn Prozent.« Er hob einen leeren Eimer auf. »Einen schönen Sonntag noch!«
»Das wünsche ich Ihnen auch.« Ruth hakte Bill unter. »Komm, wir setzen uns dort in den Schatten.«
»Ein guter Bursche«, sagte Bill, nachdem sie auf einer Bank Platz genommen hatten.
Meinte er den Pfleger oder den Drachen?
»Sie sollten den Waranen etwas reinwerfen, das sich bewegt, Kaninchen zum Beispiel. Damit sie ihren Jagdtrieb ausleben können, weißt du? Die Biester haben einen giftigen Biss. Damit können sie Beute erlegen, die größer ist als sie selbst. Sie schnappen einmal zu und warten, bis ihr Opfer stirbt. Den da haben wir mit einer Ziege geködert. Ich wette aber, er würde eine Kuh .«
»Bill!« Ruth war entsetzt. »Wie grausam! Hier kommen Leute mit kleinen Kindern her.«
»Hast ja recht, Liebling. Aber interessant wäre es doch, und die Leute könnten was dabei lernen.« Bill streckte die Beine aus. »He, dein Verlobter hat sich unter Einsatz seines Lebens unter rauchenden Vulkanen durch den Dschungel geschlagen, um das größte Schuppenkriechtier der Erde zu finden. All das, damit die New Yorker mehr über die wilde Natur erfahren, ist es nicht so?«
Neckend hob Ruth die Augenbrauen. »Von welchem Verlobten sprichst du? Ich war so lange allein, ich weiß gar nicht mehr, wer das sein könnte.«
»Dann werde ich dich erinnern.«
Bill legte einen Arm um Ruth, lüpfte den Hutschleier und küsste sie. Sein Schnurrbart kitzelte ihre Nase. Bill roch nach Acqua di Parma. Während er fort gewesen war, hatte Ruth seine Halstücher vom Schrank in eine Schublade geräumt, um den Duft darin länger zu konservieren. Trotzdem waren die Noten von Bergamotte und Zimt im Laufe der Monate verblasst.
Ruth nahm seine Hand. »Du bist ein Held, Bill Harkness.«
Das hatte sie schon bei ihrem ersten Treffen gedacht, er hätte es ihr gar nicht durch mutige Taten beweisen müssen. Einmütig saßen sie eine Weile nebeneinander und beobachteten den Drachen, der mit offenem Maul würgte. Eine Feder erschien zwischen seinen Zähnen, hing dort kurz und wurde erneut verschlungen. Ruth wandte den Blick ab.
»Die Tiere waren das Risiko wert«, sagte sie. »Sie sind nicht sofort gestorben, wie so viele andere Neuzugänge. Ich wünschte nur, sie wären irgendwie . ansprechender.«
Wahrscheinlich fand Bill das oberflächlich. Doch er nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Über etwas Ähnliches wollte ich mit dir reden. Du weißt doch, dass Lawrence mir geschrieben hat?«
Und ob Ruth das wusste. Der Brief lag auf Bills Schreibtisch. Seit Tagen schlich Ruth um ihn herum und widerstand der Versuchung, ihn zu lesen. Bis jetzt hatte Bill ihn nicht erwähnt, sodass Ruth gehofft hatte, er sei nicht von Bedeutung.
Lawrence Griswold war Bills Expeditionspartner gewesen. Sie hatten gemeinsam in Harvard studiert. Jahre später war Lawrence plötzlich in der Stadt erschienen, in schlecht sitzenden Khaki-Hosen und mit einem Schreiben des Bronx Zoos in der Brusttasche seines Hemdes. Das Schreiben versprach eine stattliche Belohnung für lebende Komodo-Drachen. Schon beim ersten Treffen war deutlich geworden, dass Ruth und Lawrence keine Freunde werden würden. Ruth wollte mit Delfinen schwimmen, mit Schimpansen spielen und Papageien kraulen, Lawrence bewunderte Großwildjäger, die Elefanten erlegten, was Ruth einfach nur grausam fand. Töten war doch kein Sport! Außerdem nahm Lawrence ihr Bill weg, zumindest zeitweise.
Früher hatten Ruth und Bill gemeinsam von weiten Reisen geträumt. Viele Abende hatten sie über Atlanten gesessen und mögliche Routen mit den Fingern nachgefahren, magisch angezogen von den weißen Bereichen, die für Gegenden standen, in die noch kein Mensch aus der westlichen Hemisphäre vorgedrungen war. Welche Geheimnisse sich dort wohl verbargen? In den letzten Jahrzehnten waren viele Tierarten erstmals beschrieben worden, zum Beispiel das wundersame Okapi, das eine Kreuzung aus Pferd und Giraffe zu sein schien, oder der majestätische Berggorilla. Expeditionen waren en vogue, spätestens seit der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt Spezies im tropischen Afrika gesammelt hatte. Seiner Gruppe hatte ein legendärer Jäger angehört, ein Scharfschütze, mehrere Naturforscher, ein Chirurg und Roosevelts Sohn Kermit. Dazu kamen örtliche Führer, Träger, Bedienstete und Pferdeknaben. Die unterschiedlichsten Talente wurden gebraucht, aber eins hatten alle Expeditionsteilnehmer gemeinsam, wie Lawrence schonungslos bemerkte: »So was ist nur für Jungs. Sorry, Ruth.«
Nur stimmte das gar nicht mehr. Während Bill in Asien gewesen war, hatte Ruth im Kino die Abenteuer von Martin und Osa Johnson verfolgt. Das Forscher-Ehepaar drehte Filme über seine Touren durch Afrika, und Martin betonte immer wieder, das alles nur mit seiner Gefährtin schaffen zu können. Dort draußen gab es durchaus Platz für Frauen. Allerdings hätte Ruth sich niemals mit Osa verglichen. Weder konnte sie jagen noch fischen oder ein Flugzeug steuern. Eine Modeschöpferin wie sie eignete sich allenfalls für das Ausbessern von Zeltnähten. In Ruths Reisefantasien spielten schöne Hotels eine wesentliche Rolle, und die weißen Bereiche auf den Landkarten würde sie gern in einem Geländewagen mit Chauffeur erkunden. Doch jetzt schilderte Bill ihr eine Gegend ohne Autostraßen. Mit Lawrence und zwei weiteren Gefährten wollte er nach Tibet. Während er davon sprach, hielt es ihn nicht mehr auf der Bank. Er lief vor ihr auf und ab. Der Drache...
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