Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Plantage La Providentia (Surinam), Mai 1700
Es war dunkel im Zimmer, und durch die dünnen Holzwände drang das Rufen fremder Tiere. Die Bewohner des Urwalds sangen, kreischten und zirpten noch immer, lockten, warnten und drohten einander. Sobald die Affen und Vögel endlich ihre Schlafplätze aufgesucht hatten, würde es ein wenig stiller werden.
Oder lärmten sie nicht immer noch, sondern schon wieder? Maria war, als hätte sie im Bett nur kurz die Augen geschlossen, aber dieses Gefühl täuschte sie häufig. In den tropischen Nächten fand sie oft nur leichten Schlaf und erhob sich kaum erholter, als sie sich niedergelegt hatte. Jetzt wurden die Sklaven zur Arbeit gerufen. Zuerst erscholl die Stimme von fern, aber nach zwei Wiederholungen war sie direkt am Fenster. Der Morgen war angebrochen.
Maria stand auf und scheuchte den Papagei fort.
»Von mir bekommst du nichts!«, rief sie.
Jemand hatte den Fehler begangen, das Tier zu füttern, und nun wurde man es nicht mehr los. Es äffte den Aufseher der Plantage nach und begleitete die religiösen Lieder der Labadisten mit schrillen Tönen.
Ein schmaler Streifen Helligkeit zeigte sich am Horizont. Kaum hatte Maria ihre Röcke angezogen und die Bluse geschnürt, war der Raum in Licht getaucht. In Surinam begann der Tag nicht mit der Gemächlichkeit eines niederländischen Sonnenaufgangs. Aus Richtung der Sklavenquartiere erklang Gesang. Die Arbeiter zogen auf die Felder. Hühner gackerten aufgeregt.
Maria trat an Dorotheas Bett. Sanft legte sie ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn und lächelte. So weckte sie ihr Kind seit zweiundzwanzig Jahren.
»Was ist?« Dorothea blinzelte unwirsch und gähnte.
»Du schwitzt.«
»Natürlich. Du etwa nicht?«
»Doch. Aber geht es dir sonst gut? Keine Kopfschmerzen?«
Damit hatte die Krankheit bei der Labadistenschwester Liese angefangen, und innerhalb von vier Tagen war ihr Bett für Dorothea frei geworden.
»Du redest es noch herbei, Mutter.«
»Nun denn, gehen wir zur Morgenandacht.«
Dorothea verzog das Gesicht. »Ich glaube, mir ist doch ein wenig unwohl.«
Maria schmunzelte. »Ich entschuldige dich, ausnahmsweise.«
Die Gemeinschaft betete in der Kapelle. Auch Marias Mund sprach die vertrauten Worte, doch ihr Geist widmete sich schon dem Werk des Tages. In der Kühle dieser ersten Stunden gelang das Denken am besten. Später wurde das Blut in den Adern dick und der Kopf schwer, man garte in der Hitze wie Gemüse in einer Brühe, und bei Anbruch der Nacht konnte man nur noch ermattet auf das Lager sinken.
Zum Morgenmahl, das aus wässrigem Getreidebrei und dünnem Tee bestand, kam Dorothea als Letzte. Sie murmelte eine Entschuldigung und bot an, den Spüldienst zu übernehmen.
Die Brüder und Schwestern zerstreuten sich. An diesem Vormittag wollten sie ein neues Gemüsebeet anlegen und den Bootssteg erneuern.
Während Dorothea Schalen und Löffel wusch, füllte Maria Wasser in einen ledernen Trinkschlauch. Heute ging es endlich einmal wieder in den Urwald. Sie schärfte ihr Messer und untersuchte die Klinge auf Rostspuren. In den Regenmonaten durchfeuchtete alles, und auch während des übrigen Jahres schritt die Verwitterung viel schneller voran als zu Hause. Schmetterlinge zu spannen war ein zweckloses Unterfangen, die Falter verschimmelten statt zu trocknen, oder fielen Käfern und Schaben zum Opfer. Durch Ritzen und Nähte drangen die Räuberchen, und scheiterten sie doch einmal an einem Behältnis, überließen sie den Schmaus den Kumpanen, die kleiner waren oder über schärfere Beißwerkzeuge verfügten.
Maria spürte einen Blick auf sich. Bruder Paul beobachtete sie vom Flur aus. Während die anderen Gläubigen Maria als sonderbaren Gast abzutun schienen, dessen Marotten einem immer unverständlich bleiben würden, wollte Paul, der erst seit Kurzem bei der Gemeinschaft lebte, Marias Rätsel ergründen. Täglich löcherte er sie mit Fragen:
- Über Aderi, Marias einheimische Begleiterin. (»Uralt. Warum nimmst du keine jüngere Indianerin mit?«)
- Über Marias Bluse (»Aus Seide. Wem hast du die gestohlen?«)
Heute trieb ihn Verwunderung über das Messer um: »Das ist viel zu klein. Welches Tier willst du damit erlegen?«
Maria lächelte. »Ich töte kein Tier damit.«
Paul schien nachzudenken. Kurz sah er hinaus zum Urwald, der sich weiter erstreckte, als jemals ein Weißer vorgedrungen war. Die wilde Landschaft barg Jaguare, Skorpione und ganze Völker, die niemand hier kannte. Es kursierten nur Gerüchte über sie. Im Inneren des Landes sollte es eine Hochebene geben, bewohnt von Stämmen, deren Mitglieder im Gegensatz zu Marias Führerin kriegerisch waren.
Warum bloß, mochte Paul sich denken, soll man weiter in dieses Land eindringen, dessen Küsten allein sich bereits durch Hitze, Krankheit, Piratenüberfälle und Sklavenaufstände für viele Siedler als tödlich erweisen? Paul schien die sicheren Grenzen des Gemüsegartens vorzuziehen.
»Ich gebe dir ein größeres Messer«, sagte Paul.
Ersatz konnte Maria gebrauchen. Paul reichte ihr ein Messer mit graviertem Griff, sein eigenes. Sie lächelte. Freundlich von ihm. Aber eine andere Sache benötigte sie noch dringender.
»Hast du Schnaps?«, fragte sie.
Empört schüttelte Paul den Kopf. Er schien kurz davor, ihr sein Messer wieder wegzunehmen.
»Für die Insekten«, ergänzte sie. »Könntest du ein paar Liter besorgen, wenn ihr demnächst nach Paramaribo rudert? Manche Plantagenbesitzer brennen selbst welchen aus Zuckerrohr. Ich brauche das reine, hochprozentige Destillat, nicht den Punsch, den sie damit mischen.«
»Du weißt, wir sollen uns von geistigen Getränken fernhalten. Das ist eine der wichtigsten Regeln«, sagte Paul. »Wäre Schnaps da, könnte jemand in Versuchung geraten.«
Maria seufzte. »Dann muss ich mit dem auskommen, was ich noch habe.« Sie nickte Paul zum Abschied zu.
»Aderi wartet auf uns.« Die Indianerin betrat das gerodete Gebiet der Plantage nicht, sondern blieb stets zwischen den letzten Bäumen stehen. Ihr Enkel wurde von den Labadisten unterrichtet. Von ihm hatte Aderi Niederländisch gelernt. Einerseits schien sie neugierig zu sein, andererseits legte sie große Vorsicht an den Tag. Maria glaubte verstanden zu haben, dass ihr Misstrauen von der Bibel herrührte. Die Labadisten lasen jeden Tag viele Stunden darin und wollten auch alle anderen dazu bringen, es zu tun. Den Grund dafür begriff Aderi nicht. Ob es ein magisches Ritual sei, hatte sie von Maria wissen wollen. Aber es passierte doch nichts. Also würde der Zauber noch kommen?
Über Marias Wünsche hingegen schien sie sich überhaupt nicht zu wundern. Wollte Maria einen blauen Vogel aus nächster Nähe sehen, zeigte Aderi ihr einen Strauch, von dessen Früchten er naschte. Deutete Maria auf einen Schmetterling, brachte Aderi Tage später die passende Raupe. Nur einmal hatte Aderi nicht weitergewusst. Ein Falter, so groß wie zwei Hände? Solch einen hatte sie noch nie gesehen. Aber es gab diese Art, Maria besaß den Beweis.
Geleitet von der Indianerin, machten Maria und Dorothea sich auf den Weg. Die Eingeborene kannte Pfade durch den Urwald, aber schnell kam man auch auf denen nicht voran. Man stolperte über Wurzeln und verfing sich in Ranken. Die surinamische Natur lehrte Demut, und befolgte man ihre Lektion, beschenkte sie einen reich. Man brauchte ja nur stehen zu bleiben und den Kopf zu heben, um eine vielstöckige Wunderkammer zu erblicken. Sträucher wurden von kleinen Bäumen überragt, und die wiederum bildeten das Unterholz für die alten Riesen, deren Laub den Wald bekrönte. Schlingpflanzen umwickelten Stämme, Vögel bauten ihre Nester in Astgabelungen, Affen jagten sich in schwindelerregender Höhe. Maria bestaunte den scheinbar mühelosen Flug eines Schmetterlings. Auf einem Blatt rastete das Tier. Maria hätte es mit ihrem Netz erreichen können, aber sie ließ ihm die Freiheit. Diese Falterart besaß sie schon. Heute hoffte sie, eine andere zu fangen.
Jäh wurde sie von der Indianerin beiseitegezogen.
»Ori!«
Mit der freien Hand deutete Aderi auf den Boden. Zu Marias Linken ruhte eine rot-weiß-schwarz geringelte Schlange auf einem abgebrochenen Ast. Sie war zusammengerollt, aber Maria hatte schon gesehen, wie die Tiere blitzschnell vorschossen. Auch Dorothea wich dem Tier mit gehörigem Abstand aus.
»Augen immer unten«, sagte Aderi.
Mit klopfendem Herzen nickte Maria. Diese Ermahnung hatte sie schon oft bekommen. Sie heftete ihren Blick auf Aderis nackte Füße vor sich, die bei jedem Schritt geschmeidig abrollten. Die Indianerin...
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