Schweitzer Fachinformationen
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Sie kamen aus einer finsteren Welt.
Die Rabenhecke mit ihren vor Schmutz starrenden Gassen lag hinter ihnen, aber noch eine Stunde lang führte ihr Weg durch enge, lärmerfüllte Straßen. Erst an den kleinen Vorgärten der Häuser von Maitland Park und Haverstock Hills verlangsamten die Geschwister ihren Schritt. Staunend schaute Becky durch die Gitter der schmiedeeisernen Zäune: Zwischen Herbstastern und Goldraute blühten noch späte Rosen. Joe mahnte zur Eile.
Endlich tat sich vor ihnen die Heide auf. Joe dehnte die Brust; er spürte warme Erde und Gras unter den nackten Füßen. Von Zeit zu Zeit warf Becky einen verwunderten Blick auf den Bruder. Sein bleiches Gesicht hatte Farbe bekommen, seine Augen waren weit geöffnet. Oft blieb er stehen. Alles war neu für ihn: Käfer mit schillernden Flügeln, summende Bienen, buntgefiederte Vögel. Auf grauem Stein lag, hingegeben an die Sonnenwärme, ein grünes Schuppentier, reglos. Nur seine schwarzen Perlaugen verrieten Leben. Lange stand Joe versunken.
»Sieh dort!« Er zeigte auf eine Reihe langhalsiger Vögel, die über ihnen in eiligem Flug der Ferne zustrebten.
»Wildgänse!« Becky sagte es leise, als könne ein lautes Wort die fliegende Himmelskette zerbrechen.
Die Heide von Hampstead mit ihren sanften Hügeln und Tälern lag am Rande der großen Stadt London. Bäume mit buntem Herbstlaub gab es dort, Sträucher, Ginsterhügel und Brombeerhecken, langgedehnte Wiesentäler und Hänge, dazu eine Luft, die das Atmen leicht machte. Doch man hatte Becky und Joe nicht hierhergeschickt, damit sie leichter atmen konnten. Ihr Aufenthalt diente nützlicheren Zwecken. Die elfjährige Becky musste mehrmals im Jahr für die Händlerin Quaddle, bei der sie im Dienst stand, Brombeerblätter sammeln. Da ihr Bruder heute Nachtschicht hatte, konnte er endlich einmal mitkommen und ihr helfen, Pilze zu suchen, die noch an einigen verborgenen Stellen zu finden waren. Champignons brachten der Händlerin in dieser späten Jahreszeit viel Geld ein.
Scheinbar großmütig, hatte sie deshalb den Kindern das Fahrgeld für den Pferdeomnibus bezahlt. Doch Becky und Joe, die seit Monaten auch die kleinste Münze sparten, waren den weiten Weg zu Fuß gegangen. Morgen wollten sie das Bett für die Mutter kaufen, für das sie die mühselig zusammengebrachte Riesensumme von fünfzehn Schilling angezahlt hatten.
Die Sonne stand schon hoch. Joe hatte bald das Pilzesuchen allein übernommen und sammelte auch Reisig, um der Mama etwas Holz mitzubringen. Endlich war der Pilzkorb gefüllt - drei Bündel Reisig verschnürt. Becky stand noch im Busch und stopfte unermüdlich die rauen Brombeerblätter in den großen Sack. Dornenranken machten ihr schwer zu schaffen. Joe suchte nach einem Rastplatz.
Auf einem Hügel standen Birken mit herbstgoldenem Laub. Solche Bäume hatte er noch nie gesehen. Staunend befühlte er ihre Rinde. Sie fühlte sich glatt wie Seide an und war weiß - silberweiß!
Am Fuße der Birke streckte er sich ins Heidekraut. Es duftete immer noch süß. Aufatmend verschränkte er die Arme unter dem Kopf und sah durch das flimmernde Blätterdach in das Blau des Himmels.
»Becky, komm! Hier oben liegt es sich weich wie in einem Bett!«
»Gleich! Muss nur noch den Sack zubinden!«
Noch einmal befühlte Joe die Birkenrinde und lachte. Weiß! So weiß wie die Möwen! Sein Gesicht entspannte sich. Als Becky sich über ihn beugte, war er schon eingeschlafen.
Der dreizehnjährige Joe Kling arbeitete seit Jahren in einer Baumwollspinnerei. Die harten zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten unter der Peitsche der Aufseher hatten ihm früh alle Träume verscheucht und seinem Gesicht einen strengen, fast finsteren Ausdruck gegeben.
Der buntbewegten Welt war Joe bisher nur an den Themsebrücken und in den Docks begegnet, dort, wo die Möwen segelten und sich die großen Schiffe für ihre Meerfahrt rüsteten.
Von dem hochgelegenen Platz konnte man die Riesenstadt mit ihren vielen Türmen gut überblicken. Von links schob sich ein Dunstschleier über das Häusermeer. Dort lag der Hafen, ragten die meisten Fabrikschlote. An manchen Stellen blitzte silbern die Themse, die ihre großen Schleifen durch die Stadt zog. Schön war es hier oben. Becky lehnte ihren Kopf an die Birke.
Wie spät mochte es sein? Die Sonne wärmte noch, Joe schlief fest. Mochte er . hatte ja die lange Nacht vor sich. Behutsam schnippte sie ihm eine Ameise vom Arm, dann breitete sie die bunte Flickenjacke über ihn, die von der Mama manchmal lächelnd »Räuberfrack« genannt wurde. Joe hatte darauf bestanden, dass man zum Ausbessern bunte Flicken verwendete und auch noch dort welche aufsetzte, wo keine hingehörten. Becky verstand ihn gut: Wenn man täglich fadenscheinige, schwarze Röhrenhosen tragen muss, dazu ein graues Jackett und ein längst farblos gewordenes Hemd, dann sehnt man sich nach etwas Buntem.
Auch Beckys Kleid war grau. Vielleicht war der Stoff einmal blau gewesen oder grün. Noch nie hatte sie ein Kleid aus neuem Stoff besessen.
Ein gelbes Blatt schaukelte langsam herab. Ein später Schmetterling breitete seine Flügel aus und enthüllte seine samtene Pracht. Becky saß reglos. Über das Gras huschten Sonnenlichter. Die Augenlider wurden ihr schwer. Der Wind wehte kühler. Sie merkte es nicht.
Wie viel Zeit war vergangen?
Joe blinzelte, machte aber schnell wieder die Augen zu. Er wollte die Schlafwärme auskosten. Wie weich es sich auf Moos und Heidekraut lag. So - in der Schwebe zwischen Schlaf und Erwachen - hob sich das oft vorausgeträumte Bild immer stärker in sein Bewusstsein: Der Weg zu Patt! Keinem anderen Weg vergleichbar.
Er, Becky und Polly - alle drei neben Robin. Ja, Robin im aufgebügelten Anzug, der Händler wird sagen: So einen schmucken Bruder habt ihr? Sieht gut aus. Und klug. Scheint tüchtig zu sein. Dem trau ich. So ein Gesicht lügt nicht. Der zahlt mir den Rest. Lässt mich nicht sitzen.
Robin wird das Bett auf seine starken Schultern nehmen und es auf Beckys Wagen laden. Denn Becky ist mit dem Quaddle-Wagen gekommen und mit dem Hund Caro. Zwischendurch darf sich Caro ausruhen und ein Stück Brot schnappen, dazu einen Fleischbrocken. Fleischbrocken? Woher denn? Aber Becky hat es sich vorgenommen, so wird sie auch wissen, wie sie sich welche verschafft. Caro wird wedeln: Das ist ein Sonntag! Und die Leute werden Augen machen: Die Kling-Kinder haben ein Bett gekauft! Seht einmal! Für die Mary, die Spitzenklöpplerin.
Eine ferne Kirchenglocke zeigte die fünfte Stunde an. Becky riss erschrocken die Augen auf und zählte laut mit.
»Zwei . drei . vier . fünf!«
»Fünf?« Joe fuhr auf und war hellwach. »Nein - noch nicht fünf! Um sechs fängt die Nachtschicht an .« Ohne ein Wort zu verlieren, sprang Becky zum Brombeerbusch, holte den Sack und legte ihn neben die Reisigbündel.
Joe wehrte ab: »Die lassen wir hier. Wir müssen schnell laufen!« Er klopfte sich die trockenen Heideblüten ab.
»Hierlassen? Das gute Holz? Ja aber .« Becky verstummte. Hatte er denn vergessen, wie nötig die Mama das dürre Holz beim Teeaufbrühen gebrauchen konnte? Becky wusste recht gut, wie einem zumute ist, wenn der Schlaf morgens noch in den Gliedern liegt und man das Feuer mühsam anfachen muss. Oft genug musste sie kurz nach vier Uhr den beiden Quaddles das Frühstück richten. Nein, das Holz konnten sie nicht im Stich lassen. Sie fand einen Ausweg: »Wir verstecken zwei Bündel im Busch, da sucht sie niemand. Und nächste Woche hole ich sie. Hier - das kleinste nehmen wir mit.«
Sie reichte es dem Bruder und warf sich den Sack über die Schulter. Joe hatte gar nicht zugehört, seine Lippen zitterten.
»Ich darf nicht zu spät kommen!«, stieß er hervor. »Heute ist Lohntag. Wir brauchen morgen jeden Schilling. Wenn sie mir nun Strafgeld abziehen? Los, wir müssen es schaffen!«
Auf schmalen Tretpfaden rannten sie bergab. Joe keuchte. Der Pilzkorb wurde immer schwerer. Kalter Schweiß rann ihm in den Halsausschnitt. Das hastige Laufen, dazu die Angst, zu spät zu kommen, pressten ihm die Brust zusammen. Er erstickte fast. Endlich waren die Häuser zu erkennen.
»Lass uns ein wenig verschnaufen!«, bat Becky. Sie sah, dass der Bruder einen Asthmaanfall hatte. »Mit dem Pferdeomnibus geht's schnell. Du kommst zurecht! Gib mir den Korb und nimm den Sack, der ist leichter!« Doch das ließ Joes Stolz nicht zu. Sie verhielten ein paar Augenblicke, dann hasteten sie weiter.
Am Rande von Haverstock Hill befand sich die Haltestelle für die Pferdeomnibusse. Gerade als die beiden aus der Heide herausbogen, kam einer herangerollt. Joe rannte das letzte kurze Stück unter Aufbietung aller Kräfte. Keuchend umklammerte er die Stange mit dem Stationszeichen. Sein Atem rasselte. Die Pferde waren heran. Zwei Frauen stiegen aus. Der Mann in Uniform auf der Plattform sah über die Kinder hinweg, als wären sie Luft.
»Weiter!«, schnarrte er und gab das Abfahrtszeichen.
»Halt! Halt!«, schrie Becky entsetzt, »wir wollen doch noch mit. Zur Oxford Street. Mein Bruder muss .«
Die Angst lähmte ihre Zunge, sie sah, wie der Schaffner ihr den Rücken zudrehte. Joes Atemnot war immer noch so schlimm, dass er kein Wort hervorbringen konnte. Mit angstverzerrtem Mund blickte er auf den Uniformierten. Nicht einmal den Arm konnte er heben, ihm war, als müsse er auf der Stelle ersticken.
Die Pferde zogen an. Der Wagen rollte. Becky wollte nicht aufgeben. Sie lief neben den Pferden her und rief bittend: »Ach, nehmen Sie ihn doch...
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