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Trier im August 1835. Eigentlich will der 17-jährige Karl nur irgendwie das Abitur bestehen. Ohne sich groß anzustrengen, möchte er die sieben schriftlichen Prüfungsarbeiten hinter sich bringen. Die erste Aufgabe für seinen Aufsatz lädt sogar regelrecht zum Schwafeln ein: »Betrachtungen eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes«. Karl steigert sich jedoch in das Thema hinein und empört sich: »Unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben . schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen im Stande sind.« Damit meint er: Keiner kann sich aussuchen, wann und wo er zur Welt kommt. Sonst würden alle Menschen nur in die reichen und berühmten Familien hineingeboren werden - niemand will freiwillig zum Heer der Armen und Unterdrückten gehören.
Diese Fragen sollten Karl Marx sein Leben lang beschäftigen. In welchem Ausmaß sind Menschen der Geschichte ausgeliefert, also ihrer Herkunft, der Zeit, in der sie leben, und der sozialen Schicht, in der sie sich bewegen?
Der Abiturient zweifelt noch nicht: »Die Hauptlenkerin aber, die uns bei der Standeswahl leiten muß, ist das Wohl der Menschheit (und) unsere eigene Vollendung.« Der junge Karl Marx ist sich sicher: Einzelne können ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen! Der Mensch kann zum Helden werden - ganz egal, wann, wo und in welcher Schicht er zur Welt kommt.
Als am 5. Mai 1818 im Haus Nr. 664 der Brückengasse in Trier ein Knabe zur Welt kam, der Karl genannt wurde, hatte er sich nicht unbedingt einen günstigen Moment der Weltgeschichte ausgesucht. Es war nämlich keine einfache Zeit und Trier in der deutsch-französischen Grenzregion keine einfache Gegend. Und dass die Familie Marx jüdische Wurzeln hatte, machte die ganze Angelegenheit noch komplizierter.
Trier gehörte zusammen mit den westrheinischen Gebieten seit der Friedensordnung von Lunéville 1801 zu Frankreich. Dort hatte sich zehn Jahre nach der Französischen Revolution der General Napoleon Bonaparte an die Macht geputscht. Unter seiner Herrschaft entwickelte sich Frankreich zu einer neuen europäischen Supermacht. Die Karten wurden in Europa völlig neu gemischt - zumindest für ein paar Jahre. Napoleon entschied die Kriege mit England und Österreich im Eiltempo zu seinen Gunsten. Als sich europäische Länder in wechselnden Koalitionen gegen seine Armee erhoben, wurden sie von ihm geschlagen. Preußens Heer wurde 1806 bei Jena und Auerstedt vernichtet, und mit der Flucht König Friedrich Wilhelms III. hörte Preußen eigentlich auf zu existieren. Preußen konnte als Staat nur weiterbestehen, weil sich der russische Zar Alexander I. dafür einsetzte - er wollte weiterhin einen Puffer zwischen sich und Frankreich haben. Neben Frankreich blieb nur Russland als eigenständige Großmacht auf dem Kontinent übrig.
Das Geburtshaus von Karl Marx in Trier - obwohl die Familie nur kurz dort wohnte, wurde es zu einem Karl-Marx-Museum umgewandelt.
Für das deutsche Volk hatte die Herrschaft des französischen Kaisers weitreichende Folgen: Napoleon bereinigte den Flickenteppich »Deutschland«. 67 Kleinstaaten und über hundert Reichsstädte wurden in größere Länder eingliedert. Vor allem aber schuf er mit seinem Code Napoléon eine bis dahin nicht bekannte Art von Rechtssicherheit. So wurden alle Menschen, damit auch erstmals die Juden, gleichgestellt, die Privilegien des Adels stark eingeschränkt und bürgerliche Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit eingeführt.
Napoleons Herrschaft gab auch fortschrittlichen Preußen wie dem Freiherrn von Stein und dem Fürsten Hardenberg den Rückenwind, um in ihrem Land endlich die nötigen Reformen durchzusetzen: Als letzter Staat in Westeuropa hob Preußen 1807 die Leibeigenschaft auf, die bis dahin den Gutsherren die völlige Herrschaft über ihre Bauern gewährt hatte. Außerdem gaben die Reformer den Städten und Gemeinden große Freiheiten, schafften die Zünfte ab und liberalisierten das preußische Heer, das nun aus Wehrpflichtigen gebildet wurde. Nicht zuletzt führten sie eine Bildungsreform durch und gründeten 1809 die Berliner Universität.
In den linksrheinischen Gebieten herrschten diese Freiheiten dagegen schon länger, in der Moselregion bereits seit 1794, als sie von Frankreich besetzt worden war. In dieser Situation hatte ein gewisser Herschel Marx, der aus einer jüdischen Rabbinerfamilie stammte, einen entscheidenden Schritt gewagt: Er studierte Jura an der französischen Rechtsschule in Koblenz und ließ sich anschließend als Anwalt in Trier nieder. Damit hatte er mit der Familientradition gebrochen. Denn nicht nur sein Vater, sondern auch sein Großvater, sein Urgroßvater genauso wie sein Ur-Ur-Großvater waren Rabbiner, jüdische Geistliche, gewesen. Auch unter den männlichen Vorfahren seiner Frau, deren Stammbaum überhaupt einige berühmte Vorfahren aufzuweisen hatte, fanden sich viele Rabbiner.
Zar Alexander I. hatte mit seinem Misstrauen gegen Napoleon richtiggelegen, denn der französische Feldherr versuchte, mit seiner Armee auch Russland zu erobern. Aber er scheiterte, verhob sich an der Größe des Landes und konnte dem kalten russischen Winter nicht trotzen. Napoleons Rückweg führte von Niederlage zu Niederlage, er ging ins Exil, kam wieder zurück und wurde 1815 bei Waterloo von Engländern und Preußen endgültig besiegt. Auf dem Wiener Kongress, der vom Herbst 1814 bis zum Sommer 1815 stattfand, ordneten die Diplomaten unterdessen Europa neu. Deutschland wurde dabei jedoch nicht zu einem Staat zusammengefasst, die 41 Länder und Stadtstaaten schlossen sich nur locker im »Deutschen Bund« zusammen. Das Rheinland und die Moselregion wurden dem starken Preußen zugeschlagen.
Doch kaum fiel die Bedrohung von außen weg, erlahmte auch schon der Reformwille Friedrich Wilhelms III. Und auf den König kam es an, denn Preußen war noch immer eine absolutistische Monarchie: Der König konnte Gesetze ohne Zustimmung eines Parlamentes erlassen, Haftbefehle anordnen, Bücher verbieten, Bischöfe einsetzen und Kriege beginnen.
Als bei der 300-Jahr-Feier zur Reformation 1817 Studenten auf der Wartburg eine deutsche Republik forderten und Symbole der Obrigkeit verbrannten, ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. In den Karlsbader Beschlüssen wurde eine strenge Zensur eingeführt. In der Folge verloren viele Wissenschaftler und Publizisten ihre Stellungen. Die Unterdrückungen setzten wieder ein - besonders hart traf es das Rheinland, das ja gut zwei Jahrzehnte die Vorzüge französischer Rechtssicherheit hatte genießen dürfen. Hinzu kam: Im ständig umkämpften deutsch-französischen Grenzgebiet wollte niemand viel investieren - der preußische Staat nicht und deutsche Geschäftsleute erst recht nicht.
Und so bildete zu dieser Zeit die Gegend um Trier ein, vielleicht sogar das Armenhaus Deutschlands. »Ich habe noch nie so ausgemergelte und ausgehungerte Gestalten gesehen wie in der Trierer Gegend!« Dieses vernichtende Urteil fällte nicht etwa ein Kritiker der deutschen Obrigkeiten, sondern einer der Anführer der Befreiungskriege gegen Napoleon, der spätere preußische Generalfeldmarschall Gneisenau.
Die Zahlen: 80 Prozent der Bevölkerung von Trier lebten am Existenzminimum, von denen 25 Prozent auf öffentliche Fürsorge und Almosen angewiesen waren. Und täglich drängten neue Arbeitslose, verarmte Winzer und Tagelöhner aus der Umgebung in die Stadt.
Die Situation für die Familie Marx im Jahr 1818 sah also folgendermaßen aus: Sie sind umgeben von verfallenden römischen Ruinen in ihrer Stadt, allerlei kirchlichen Bauten und einer wachsenden Anzahl Mittelloser. Nach einem kurzen Schnuppern an der französischen Freiheit haben die Preußen das Sagen. Und auch die jüdischen Wurzeln stehen dem beruflichen Erfolg des Vaters und dem Ansehen der Familie wieder im Wege. Allen Reformen zum Trotz - wenn Karls Vater weiter Rechtsanwalt bleiben will, darf er kein Jude mehr sein.
Und so geht er noch einen Schritt weiter: Anfang des Jahres 1817 tritt Herschel Marx zum Protestantismus über und nennt sich nun Heinrich, in seinem Reisepass steht sogar Henry. Seine Ehefrau dagegen blieb mit Rücksicht auf ihren Vater weiterhin Jüdin.
In diese Situation hinein wird am 5. Mai im Jahr 1818 Karl Marx als drittes von neun Kindern des Rechtsanwalts Heinrich Marx und dessen Frau Henriette in Trier geboren.
Ob man will oder nicht - jeder Mensch muss auf die historische Herausforderung, die seine Zeit an ihn stellt, antworten - durch die Art, wie er sein Leben gestaltet. Das kann man tun, indem man die Tradition fortsetzt. Wie beispielsweise Karls Großvater: Er stammte aus einer bekannten Rabbinerfamilie und war selbst Rabbiner geworden. Nach seinem Wunsch wären auch sein Sohn und sein Enkel Karl Rabbi geworden - doch die Dinge entwickelten sich anders.
Schon Karls Vater hatte anders auf die Anforderungen seiner Zeit reagiert. Er hatte mit der Familientradition der Rabbinertätigkeit gebrochen, hatte Jura studiert und war Rechtsanwalt geworden, später sogar evangelischer Christ.
Als Karl ein Jahr alt wurde, zog die Familie in die Simeonstraße 8, nur knapp zwanzig Meter von der Porta Nigra entfernt, dem einst prächtigen Stadttor aus römischer Zeit. Das Haus aus dieser Zeit steht noch, doch zum »Marx-Haus« in Trier wurde später sein viel kleineres Geburtshaus gemacht. Es ist heute eine der vielen historischen...
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