Schweitzer Fachinformationen
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Berlin im Februar, Gegenwart
Insgeheim verbarg sich hinter der Begeisterung für durchgestylte Gärten bei Constanze, Gitta und Marit die stille und ein bisschen arrogante Überzeugung, dass sie die Natur zähmen könnten. Oder dass sie sogar die Gärtnerinnen ihres eigenen Lebens waren.
Bis das Schicksal eines Tages in lautes Gelächter ausbrach und fröhlich eine Handvoll Unkrautsamen auf die Beete ihrer Pläne und Erwartungen warf. Denn natürlich war der Glaube, dass man tatsächlich die Herrscherin über das eigene Leben sein konnte, nichts als eine Illusion. Ungefähr so unrealistisch wie eine Mohnstaude, die im tiefsten Winter erblüht und deren seidige Blütenblätter sich blutrot vom Weiß des Schnees abheben. Bezaubernd schön, ja atemberaubend, aber eben komplett unrealistisch.
Die Parallele zur Zähmung der Natur kam Constanze nicht in den Sinn, als sie an einem eisigen Sonntagvormittag in der Königlichen Gartenakademie in Berlin Dahlem das langstielige Glas hob. So kalt war die Flüssigkeit, dass sich an der beschlagenen Außenseite kleine Tropfen bildeten, die wie Tau von einem Blütenblatt an einem frühen Sommermorgen abperlten.
»Danke für die Einladung, Gitta, Chefgärtnerin unseres Vertrauens. Und noch mal alles, alles Liebe und Gute zum Geburtstag«, sagte sie. »Möge dein Garten ewig blühen, möge dein weißer Lerchensporn niemals Staunässe bekommen und dein weißer Rittersporn niemals die Köpfe hängen lassen!«
Marit, die Zweite im Freundinnenbund, folgte Constanzes Beispiel und erhob ebenfalls ihr Glas. »Ja, Gitta, das wünsche ich dir auch. Von ganzem Herzen!« Sie nippte genießerisch an ihrem Crémant. »Mmh! Ich will nicht behaupten, dass Suff immer und gegen alles hilft. Das würde ja klingen, als ob ich an der Flasche hinge. Tu ich nicht. Wirklich nicht! Aber ein Schlückchen hiervon hilft immerhin gegen viel. Nicht nur gegen niedrigen Blutdruck.«
Ihr braunes Haar, in dem sich zunehmend mehr Grau zeigte, seit sie vor zwei Jahren die fünfzig überschritten hatte, schien sich besonders stark zu kräuseln, als sie einen kleinen Schluck trank. Die ungebärdigen Locken erinnerten an die Zweige einer Korkenzieherweide, die sich munter kringelten und ringelten. Marit weigerte sich zu färben. Sie fand, dass das nicht im Einklang mit der Natur stand. Und obwohl sie klein und kompakt war, passten weder Schuhe mit hohen Absätzen noch strikte Diäten in ihr Lebenskonzept. Dafür lachte sie gern und viel.
Constanze dagegen färbte ihr langes Haar seit Jahren, und das einzig Natürliche daran war, dass sie es mit Henna tat. An ihren Färbetagen sah sie aus, als ob sie einen großen Kuhfladen auf dem Kopf hätte, mit Frischhaltefolie eingewickelt. Sie musste das nicht rechtfertigen, weder vor sich selbst noch vor einem Mann, weil sie nämlich keinen hatte. Aber wenn sie es hätte rechtfertigen müssen, hätte sie sicher gesagt, dass sie schließlich eine Schauspielerin war. Sie trat jeden Tag vor Grundschülern auf, da gehörte eine Maske ebenso dazu wie die genaue Kenntnis eines Drehbuchs, bei dem Wissensvermittlung und die Lacher an der richtigen Stelle sitzen mussten.
Die Haarfarbe war nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden. Constanze war sehr groß, ernster und irgendwie schwingend. Sie und Marit waren sich so ähnlich wie ein graugrüner niedrig gewachsener Bergsalbei und eine ranke, schlanke Taglilie, deren dunkelrote Blüten an langen Stängeln wippten. Was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat. Im Gegenteil.
Sie mussten laut gegen die Geräuschkulisse anreden. Eines der Gewächshäuser in der Königlichen Gartenakademie war zum Restaurant umgebaut, und die Glasscheiben reflektierten die vielen Gespräche. Das Wasser, das an den Innenseiten hinunterlief, hätte aus kondensierten Wörtern bestehen können. Wie immer war das Lokal zum Sonntagsbrunch bis auf den letzten Platz ausgebucht. Dabei war es ein teurer Spaß, hier zu essen. Die geschmackvolle Erfüllung der Gartensehnsucht konnte eben niemals billig sein.
Und Erfüllung war es: Hyazinthen verströmten ihren Duft, weiße Tulpengestecke schmückten den verglasten Gang, der die fünf Gewächshäuser miteinander verband, gelbe Winterlinge in Tonschalen wirkten wie eingefangene Sonnenstrahlen. Frisches Birkengrün und das gelegentliche Niesen resignierter Allergiker erinnerten daran, dass der Frühling nicht mehr allzu fern war.
Am vergangenen Mittwoch war Gitta einundfünfzig Jahre alt geworden. Marit und Constanze hatten ihr am Telefon gratuliert, und Gitta hatte ihnen fröhlich erzählt, dass sie mit Ralf ins Machiavelli in der Nähe vom Roseneck gehen würde - ein edles italienisches Restaurant bei ihnen um die Ecke.
Ach, der liebe Ralf, hatten die Freundinnen ein klitzekleines bisschen neidisch gedacht. Gitta hatte es wirklich gut mit ihm getroffen! Seit dreiundzwanzig Jahren legte er ihr die Welt zu Füßen, war nicht gerade arm, großzügig und gut aussehend - eine wunderbare Mischung. Neuerdings ging er sogar regelmäßig joggen und hatte seinen Wohlstandsbauch verloren. Gemeinerweise hatte er das Fett direkt an Gittas Hüften weitergegeben. Dass Gitta stundenweise in einem Einrichtungshaus am Kurfürstendamm arbeitete, war für sie eher ein Hobby als eine Notwendigkeit.
Aber an diesem Sonntag waren die Freundinnen dran.
»Gegen was hilft Crémant denn bei dir so, Marit?«, fragte Constanze.
Sie stützte ihre Ellenbogen auf und betrachtete angelegentlich das Treiben. Die Leute strömten zum Büfett, das Klappern von Besteck und Geschirr, Lachen und angeregte Gespräche waren zu hören.
Geburtstagskind Gitta griff nach der Sektflasche im Kühler und füllte ihr leeres Glas schweigend nach.
Marit nahm einen kleinen Schluck. »Na ja, das Weihnachtsgeschäft lief nicht so gut wie in den letzten Jahren. Das macht mir schon Sorgen. Früher hat der Gewinn wenigstens fürs erste Vierteljahr gereicht. Aber in diesem Jahr sieht es jetzt schon mau aus, dabei haben wir erst Februar. Es ist das Internet. Das mag ja für viele ein großer Segen sein, für uns Buchhändlerinnen ist es ein Fluch.«
Marit hatte eine kleine Buchhandlung im Berliner Stadtteil Westend. NATÜRLICH LESEN hieß sie, und der Name war Programm. Sie und ihr Mann Stefan hatten sich auf Natur- und Gartenbücher aller Art spezialisiert. Von Apfelromanen bis hin zu opulenten Wildkräuter-Kochbüchern, von Anleitungen für pflegeleichte Gärten bis hin zu Wildtieren in der Großstadt, von Bestimmungsbüchern für alte Gemüsesorten über Sternenkarten in der Nacht und Urban Gardening in Berlins Hinterhöfen: Wenn irgendwo etwas lebte, leuchtete, atmete oder wuchs, war ein Buch darüber bei Marit zu finden.
»Du weißt doch, dass sie dir wieder die Bude einrennen, sowie die Temperaturen klettern«, versuchte Constanze sie zu trösten. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit für Naturbücher. Die Leute sind noch von Weihnachten eingedeckt. Außerdem sind alle im Winterschlaf. Die Tiere, die Pflanzen, vielleicht sogar die Leser.«
»Ja, ja. Ich weiß. Das sagen meine Jungs auch immer«, meinte Marit. Sie hatte vier Söhne, die ihr die Welt bedeuteten. Inzwischen war sie zweifache Großmutter - und Witwe. Vor fünf Jahren war Stefan gestorben. Das Vierteljahr, das zwischen der Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs und seinem Tod gelegen hatte, hatte gerade so gereicht, alles Wichtige zu regeln. Nur Marits Herz und die Herzen ihrer Jungs waren noch nicht ganz geregelt. Sie seufzte leise, dann sagte sie resolut: »Aber jetzt will ich mir um den Laden echt keine Sorgen machen. Heute wird gefeiert! Kommt ihr mit zum Büfett?«
Ohne die Antwort der Freundinnen abzuwarten, stand sie auf und strich sich den dunkelgrünen Kordrock glatt, zu dem sie ein lindgrünes Twinset und eine jadegrüne Kette trug. Wenn man sich hier zum Brunch traf, machte man sich hübsch. Das gehörte einfach dazu.
Dann allerdings blieb sie stehen und schaute auf ihre Gastgeberin hinunter.
Gitta schwieg. Regungslos saß sie da und schaute nach draußen. Die Sträucher in den Beeten waren heruntergeschnitten, alles, was noch vor wenigen Monaten grün und bunt gewesen war, war tot, die Zweige der Bäume waren kahl und hoben sich dunkel gegen den grauen Himmel ab. Nichts lebte. Alles war vergangen, weg, vorbei, zu Ende .
»Let's go«, sagte nun auch Constanze vergnügt und erhob sich ebenfalls. »Komm, Gitta, du edle Spenderin. Der Wildlachs wird warm.« Sie griff nach der Hand der Freundin, um sie hochzuziehen, aber Gitta blieb, wo sie war, stumm und reglos.
Alarmiert schauten die beiden Freundinnen auf ihren aschblonden Haarschopf. Plötzlich fiel ihnen auf, dass Gitta seit der Begrüßung noch kein Wort gesagt hatte. Und das, obwohl sie sonst alles so gern munter kommentierte.
Wie merkwürdig.
Langsam setzten sie sich wieder und musterten sie.
Gitta blickte weiter schweigend hinaus in die gefrorene Winterlandschaft, als hätte sie nichts von dem verstanden, was die anderen gesagt hatten.
Marit registrierte, dass der rote Lack ihres Daumennagels abgeplatzt war. Was äußerst ungewöhnlich war. Gitta hatte genug Geld und Zeit für Schönheitspflege, kaufte stets die besten Produkte in der Kosmetikabteilung im KaDeWe, für das sie die goldene Kundenkarte besaß, ging regelmäßig zur Maniküre, Pediküre, zum Friseur, zur Lymphdrainage und zur Fußreflexmassage. Sie war ihre Mrs. Perfect.
Marit berührte vorsichtig Gittas Hand, und sie zuckte zusammen. »Gitta, was ist denn los?«, fragte sie behutsam.
Gitta schaute sie an, als erwachte sie aus einem tiefen Traum. Sie trug nicht mal Mascara, fiel nun...
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