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CASTELL
Tessa Korber - Bocksbeutel-Barden
Der Greifer hieß Greif und war Polizist, da wird ein Name schnell mal zum Schicksal, vor allem, wenn man aus so einem kleinen Dorf kommt wie Castell. Da gibt es den Fürsten, die Landrätin, den Pfarrer, den Bürgermeister, die Wirte. Und den Greifer, obwohl der seiner Arbeit in Würzburg nachging, bis er Rentner wurde. Er war eben jemand, der Greifer, nicht nur, weil er im Gemeinderat saß und regelmäßig beim Stammtisch des Musikvereins und einer von den Siebenern war, denen die Überwachung der Flurgrenzen und Grundbesitzverhältnisse oblag. Der Greif war der Greifer, jeder kannte seine Adlernase und die leuchtend blauen Augen, erschreckend hell in dem immer faltiger werdenden, von der Sonne verbrannten Gesicht. Man fragte ihn um Rat, wenn man einen brauchte.
»Habt ihr einen Korkenzieher?« Die Gruppe von Wanderern kam aus dem nahe gelegenen Rüdenhausen zum Weinfest. Sie hatte die drei Kilometer des Weges genutzt, um mit ein paar Flaschen vorzuglühen. Offenbar hatte eine davon keinen Drehverschluss.
Der Greifer schüttelte den Kopf und schaute zu, wie die angeheiterte Meute auf die Straße strömte, um die Autos aufzuhalten, die aus Schweinfurt und Würzburg kamen. »Habt ihr einen Korkenzieher?«, hörte er sie durch zögerlich heruntergekurbelte Autofenster rufen.
Seine Kollegin Annerose nahm ihren Trompetenkoffer wieder auf. »Dabei gibt's im Schlosspark mehr als genug Wein, sollte man meinen.« Sie wandte sich in die entsprechende Richtung. »Kommst du, wir sind bald dran.«
Der Greifer klopfte auf seinen Posaunenkoffer. Noch waren vom Podium, das auf dem Festplatz mitten in der barocken Parkanlage aufgebaut war, ganz andere Töne zu hören, Jazz, südamerikanisch angehaucht, leicht und locker gespielt, ging runter wie ein guter Rotling im gekühlten Glas. Apropos, es war sauheiß. Er suchte in den Taschen seines Trachtenjankers nach einem Taschentuch. Eine Gruppe wohlgebräunter Städter ging an ihnen vorbei. »Komm, Schatz«, sagte eine 60-jährige Blondine zu ihrem Mann, »damit wir noch was von der guten Musik mitbekommen.« Sie hakte sich bei ihm ein, Leinenhose und teure Uhr. »Nicht nur diese Bocksbeutel-Barden.« Ihre Bekannten lachten.
»Bocksbeutel-Barden«, sagte eine grimmige Stimme. Es war der ehemalige Arzt des Dorfes, Dr. Däubler, Trompeter in ihrer Kapelle, wie Annerose, die im Übrigen bei der Mainpost arbeitete und mit 37 Jahren das Küken in ihrer Bläser-Combo war. Dazu gehörten noch der Heinz, seines Zeichens Schreiner, seine Schwester, die Gitta, deren Mann Kaminkehrermeister war, und der Lehrer Arno Finke. Dazu der Anderl, der war Frührentner und bediente die Pauke, wenn er nicht gerade wieder zu viel getrunken hatte. Manchmal spielte auch der Graf Gernot mit, ein leidenschaftlicher Saxofonist und im bürgerlichen Beruf Manager bei der Castell-Bank. Sie spielten jedes Jahr am ersten Festwochenende auf. Das war ja das Schöne am Casteller Weinfest, dass es die Stile mixte, Jazz und Blasmusik, Bands aus den Städten, die moderne Musik verschiedener Couleur spielten, und dörfliche Traditionskapellen, so wie sie eine waren. »Bocksbeutel-Barden« hatte sie noch keiner genannt.
»So eine Bläksau.« Der Heinz war sauer.
»Kommt, kommt!« Der Greif hob demonstrativ seinen Instrumentenkoffer. In die Linke nahm er das Täschchen mit den Noten, unter dem Arm hatte er den Notenständer. Die anderen waren ähnlich bepackt, in frisch gebügelter Tracht, rot im Gesicht und bis eben noch vorfreudig. »Von denen lassen wir uns den Spaß nicht verderben. Geht's, Anderl?«
Der Angesprochene, der mit seiner Pauke am meisten Mühe hatte, wirkte abwesend. So wirkte er häufig: wie nicht von dieser Welt, wie in tiefem Schlaf, der aber unerholsam und von Albträumen durchzogen war. Zum Glück hatte er Zeit zwischen den Schlägen, die er setzen musste. Er schien sie zu brauchen und jeden einzelnen einem langen, qualvollen Nachdenken abzuringen.
»Hast du die blöde Kuh nicht gehört?«, fragte Annerose. »Dabei kann die gut von schlecht doch gar nicht unterscheiden.«
»Doch, am Preis.« Der Lehrer Arno Finke lachte. »Wir sollten einfach mehr verlangen.«
»Unbedingt mehr Freigetränke?« Der alte Arzt konnte wieder lachen. »Wir sollten nachverhandeln.«
»Genau, ich will auch eine Rücklieferungsquote, wie du, Arno.« Gitta knuffte ihn.
Er grinste. »Da brauchst du einen ererbten Weinberg, von dem du Trauben an die fürstliche Kellerei lieferst, dann kriegst du das. Kostenlosen Wein für den Hausgebrauch. Aber nur, wenn sie Überschüsse ernten.«
»Überschüsse, Überschüsse«, regte Annerose sich auf. »Habt ihr nicht gehört, dass der Schönborner Kellermeister in Wiesentheid drüben Trauben aus ganz Deutschland gekauft und heimlich der eigenen fränkischen Ernte beigemischt hat? Da sind Überschüsse ja wohl relativ. Die sollen sich nicht so haben und ihren Rücklieferungswein rausrücken.«
»Hört, hört«, suchte der Greifer die Wogen zu glätten. »Aber so was passiert bei uns in Castell nicht.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Der Arzt bekreuzigte sich. »Oder in dem des Kellermeisters.«
»Das ist doch seit diesem Jahr der junge Schuck, oder?«
Spätestens jetzt verstummte das Gespräch. Der Greifer hatte es kommen sehen. Es gab schließlich einen Grund dafür, dass der Anderl trank. Das hatte mit Rücklieferungswein zu tun, mit dem jungen Schuck und vor allem mit dieser dummen Sache damals, mit seinem Sohn.
Alina wandte sich um und nickte ihrer Band zu. Eine Nummer noch, eine letzte. Sie hatten schon drei Zugaben gegeben. Dann wollte sie endlich runter von dieser Bühne, hinaus zwischen die Bäume, um deren Stämme das gefilterte Sonnenlicht flirrte. Sie wollte auch etwas von dem leuchtenden Rotling oder von dem Silvaner. Oder gleich eine Flasche von dem Fraenzi, wie sie hier ihren Secco nannten. Sie wollte tanzen und das Gesicht in die Sonne halten. Und vielleicht würde auch dieser Typ vorbeikommen, der immer zu ihr herüberschaute. Er schien den Ausschank zu beaufsichtigen. Manchmal langte er auch selber mit zu, die Ärmel des Leinenhemdes hochgekrempelt, das ihm gut stand. Er lachte viel und war freundlich zu den Leuten, das konnte sie sehen, wenn sie auch kein Wort verstand von dem, was dort draußen gesprochen wurde in der Welt. Sie wollte auch in die Welt und mit dem Fremden lachen, der sie so anschaute, wenn er mal nichts zu tun hatte. Wie der schauen konnte. Ja, sie war sicher, er würde vorbeikommen. Gut so, sie konnte ein wenig Leichtigkeit vertragen.
»Danke schön. Wir sind Blue Moon.« Sie hauchte die letzten Worte in das Mikro, dann schaltete sie es ab. Blue Moon, Jazz, Swing, Easy Listening. Es klang so locker. Aber seit sie Felix, dem Bassisten, gesagt hatte, dass sie Abstand von ihrer Beziehung brauchte, war es kein Spaß mehr. Die Vibes waren schlecht in der Band. Und sie hatte Mühe, ihre Ausstrahlung beim Singen nicht darunter leiden zu lassen. Wäre der Typ am Ausschank nicht gewesen, es wäre ihr heute nicht gelungen.
Der Applaus vertropfte. Ungefiltert drang das Gesumm der Menge in die Nachmittagsluft.
»Willst du nicht beim Abbau helfen?« Da, Felix, Vorwurf in der Stimme.
»Ich brauch was zu trinken.« Sie sagte es, ohne sich nach ihm umzuwenden, und war schon von dem gezimmerten Podium herunter, war schon auf dem Weg zum Schanktisch.
»Bitch«, murmelte ihr Exfreund und schaute ihr hinterher. Alina konnte seine Blicke in ihrem Rücken fühlen. Er würde es sie spüren lassen, auf der Heimfahrt im Bandbus, beim Ausladen, morgen, wenn sie beide wieder in Würzburg im Seminar säßen. Sie würde noch mal mit ihm reden müssen, so ging das nicht. Aber nicht heute. Für heute war erst einmal Schluss damit. Sie hatte ein Recht darauf, sich zu amüsieren, verdammt.
»Was darf es sein?« Seine Stimme klang so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Weich, warm, mit einem Augenzwinkern in der Betonung.
»Ich weiß nicht.« Sie zwinkerte zurück, gab sich kokett.
Er hob die Hand. »Moment, ich hab eine Idee. Für eine Frau wie dich muss es schon etwas Besonderes sein.«
Sie neigte beifällig den Kopf. »Wenn du was Besonderes zu bieten hast.« Das Du ging ihr genauso leicht über die Lippen wie ihm. Es schien hier eh allgemein üblich.
Er lachte. »Ich bin der Kellermeister hier, ich bin der Hüter von Schätzen.«
Kellermeister, das Wort sagte ihr nichts. Es ließ sie an billige Drucke denken, die fette Mönche zeigten mit einem dicken Schlüsselbund am Gürtel, wie sie die Säufernasen in Weinrömer steckten. So sah er nicht aus, und sie musste ihrerseits lachen. »Am liebsten mag ich es, wenn es prickelt«, sagte sie.
Eine junge Frau stellte eine Flasche Fraenzi zwischen sie. »Fang damit an, Lorenz«, sagte sie zu dem Typ. »Den Weinkeller kannst du ihr später zeigen.«
Er schien kurz verärgert, dann hob er die Hände in gespielter Hilflosigkeit. »Also dann«, sagte er.
Sie zeigte an, dass sie einverstanden wäre. Er schnappte sich zwei Gläser und die Flasche, bot ihr den Arm. Sie hängte sich bei ihm ein, und die beiden machten sie sich auf den Weg, am Rand des Gewühls einen freien Platz an einem der aufgestellten Biertische zu finden. Er war offenbar bekannt hier, stellte Alina fest, grüßte rechts und links und flüsterte ihr manchmal einen Namen zu. Ein Graf hier, eine Baronin dort, ein Vorsitzender von einem Winzerverband und so weiter und so fort. Es war eine exotische Welt für Alina. Sie brauchte dringend einen Schluck von dem Wein....
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