28. Oktober
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Diesmal war Grauner nicht über Eppan und Kaltern die Weinstraße ins Unterland hinuntergefahren. Die Staatsstraße östlich des Mitterbergs war wieder frei, er wählte diesen Weg. Er war schneller, aber auch hässlicher. Die Felswände hier waren dunkelbraun, selbst auf das Grün des Waldes schien sich ein grauer Schatten gelegt zu haben. Neben der Staatsstraße begleiteten auch die Autobahn und die Gleise der Ferrovie dello Stato das grünbraune Wasser der Etsch in den Süden.
Am Berghang reihten sich Fabrikhallen aneinander, dazwischen manchmal eine Tankstelle, eine Bushaltestelle, ein Würstelstand'l oder eine Bar. Grauner beschloss wieder einmal, in Zukunft immer der schöneren Variante den Vorzug zu geben. Selbst wenn die ein bisschen länger dauerte. Schönheit vor Schnelligkeit. Es war im Alltag schwer einzuhalten.
In diesem Idyll, in dem er lebte, hatte er schon zu viele Menschen getroffen, die die Schönheit längst nicht mehr schätzten. Bei denen der Anblick verschneiter Dolomitengipfel keine freudige Erregung mehr hervorrief. Die das Krächzen eines Adlers über den Baumwipfeln nicht hellhörig machte. Die einen Knödel in sich hineinschlangen, ohne auch nur eine Sekunde dem Geschmack des dampfenden Knödelbrots und des gekochten Specks auf der Zunge nachzuspüren.
Grauner war nicht so. Wie sonst nur Touristen, blieb er manchmal in Kehren von Bergstraßen stehen, zog die Handbremse, stieg aus dem Panda, lehnte sich über die Leitplanke, genoss den Panoramablick, zählte die Gipfel, die er kannte, atmete die frische, kalte Bergluft ein und spürte, dass es eine Pflicht war, das Leben zu genießen, es nicht an sich vorbeiziehen zu lassen.
Er hielt beim Essen manchmal inne, konzentrierte sich auf den Geschmack, der sich im Mund entfaltete, er lauschte im Stall dem Blöken der Kälber, im Wald dem Rascheln der Eichhörnchen, dem Klopfen des Spechts, ihm wurde warm ums Herz, wenn ein Adler über ihm kreiste.
Doch heute ging es nicht anders, heute musste er eine Ausnahme machen. Er war schon viel zu spät dran. Er hatte kein Problem damit, spät dran zu sein. Normalerweise. Er fand, das meiste von dem, was er in der Questura zu tun hatte, konnte warten. Vieles erledigte sich sogar von alleine, wenn man es nur lange genug vor sich herschob.
Die Anzeige eines Bauern, der seinen Nachbarn beschuldigte, nachts heimlich seine Kühe zu melken. Die Beschwerde eines Pfarrers, die Polizei würde absichtlich sonntags vor den Kirchen auf dem Dorfplatz Alkoholkontrollen durchführen, damit die gläubigen Schäfchen zu spät kamen. Die Rauferei zwischen zwei Holzschnitzern in Gröden, die beide ihre Geliebte nackt in Zirbelholz verewigten und nach der Fertigstellung bemerken mussten, dass es sich um ein und dieselbe Wirtstochter handelte.
Konnte alles warten. Alles. Auch Mord. Aber nicht zu lange. Denn bei Mord mussten alle Beteiligten, Schuldige und Unschuldige, Täter und Zeugen, überrumpelt werden, man durfte ihnen bloß keine Zeit lassen, sich zu sammeln, sich eine Strategie zurechtzulegen.
Grauner schaute auf die Uhr, Puttunziga, Zio Lett'n, ihm gelang es, den kurzen Fluchanfall nur in Gedanken zu formulieren, die Lippen hatten sich nicht bewegt, so musste er sich beim lieben Gott auch nicht entschuldigen, es war bereits kurz vor elf, er hätte spätestens um neun in der Traminer Kellerei Roen sein sollen, um den Kellermeister Ferdinand Mayr dort zu treffen. So hatte er es Belli versprochen. Er hatte sich bei Mayr nicht angemeldet. Er wollte ihn überraschen und war sich sicher, ihn in der Kellerei anzutreffen.
Um diese Jahreszeit, im nebligen Spätherbst, wenn die letzten Apfelsorten von den Bäumen gepflückt wurden, war die Weinlese längst abgeschlossen, der neue Wein gärte unter der Obhut der Kellermeister vor sich hin.
Er war zu spät, weil zuvor in Saras Schule der Elternsprechtag stattgefunden hatte. Solche Veranstaltungen waren je nach Eltern-Kind-Lehrer-Konstellation entweder eine ganz angenehme und kurzweilige Angelegenheit oder die Hölle. In der Grauner-Sara-Mathematiklehrerin-Konstellation war es Letzteres. Sara hasste Mathematik, und Grauner konnte es ihr noch nicht einmal verübeln. Er hatte das Fach früher auch verachtet.
Mathematik. Diese kalte, fantasielose Zahlenschieberei.
Seine Tochter hatte im Auto kein Wort geredet. Sie redete schon seit Wochen nicht mit ihm. Er akzeptierte ihre Abneigung gegen die Mathematik, diese ablehnende Haltung ihm gegenüber aber konnte er nicht akzeptieren.
Alba hatte nicht mitkommen wollen, sie fand, dass Grauner diese Aufgabe allein übernehmen musste. Sie hatte keine Widerrede akzeptiert.
Grauner reichte der Lehrerin die Hand, Sara setzte sich wortlos hin und verschränkte die Arme.
Frau Annette Bäuerlein schaute Grauner lange und prüfend über den Rand ihrer Brille an. Sie bat Sara, kurz hinauszugehen. Sie stand auf, ohne eine Miene zu verziehen, und verließ den Raum. Grauner hob die Augenbrauen. Was sollte das? Er wollte über die Leistungen seiner Tochter reden, sie vor den Augen der Mathematiklehrerin ein paarmal streng anschauen, versprechen, dass er von nun an die Hausaufgaben kontrollieren würde. Dann wollte er so bald wie möglich aus diesem Schulgebäude raus, weil er diesen Schulgebäudegeruch nicht leiden konnte, sogar noch weniger als den Krankenhausgeruch.
»Sagen Sie schon«, brummte er. »Wie steht's um die Mathematikkenntnisse meiner Tochter? Ich weiß, sie ist kein Mathegenie .«
»Die Mathematik ist nicht so wichtig, Herr Grauner«, unterbrach ihn Frau Bäuerlein und schaute noch strenger als zuvor drein.
Grauner stutzte. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Er schwieg.
»Ihrer Tochter geht es nicht gut, Herr Grauner. Ich nehme an, Sie haben das bemerkt .«
»Meine Tochter ist in der Pubertät, wenn es dir da gut geht, geht es dir nicht gut.« Diesmal hatte er sie unterbrochen, bereute es aber sogleich.
»Ihre Tochter raucht, Herr Grauner, sie kifft. Viel. Auch vormittags. Wir machen uns Sorgen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Sie zeigt es nicht, Herr Grauner, aber das heißt nicht, dass sie Sie nicht braucht.«
Die Frau legte ihre Hand auf seine. Grauner zuckte zusammen.
»Ich kenne Ihre Familiengeschichte, ich weiß, dass Sie den Mord an Ihren Eltern aufgeklärt haben. Mit dieser Tragödie konfrontiert zu werden, war bestimmt nicht leicht für Sara. Sie müssen lernen, Ihre Tochter zu verstehen. Zeigen Sie ihr zumindest, dass Sie es versuchen. Das ist ein Anfang.«
Grauner starrte sie an. Er hatte sich immer gewünscht, in einer ganz normalen Familie zu leben. Normal glücklich. Normal zufrieden. Aber wenn deine Eltern ermordet werden, dann kann in deinem Leben nichts mehr normal ablaufen. Davon war er überzeugt gewesen.
Doch als es ihm gelungen war, den Mord an seinen Eltern aufzuklären, spät und unerwartet, hatte er gespürt, wie sich eine Anspannung löste, von der er geglaubt hatte, sie würde für immer zu seinem Leben gehören. Plötzlich war sie weg, er hatte es erst Tage später bemerkt.
Er war im Stall gewesen. Hatte die Kühe gemolken. Er hörte Mahler, er hatte plötzlich das Bedürfnis, die Musik lauter zu drehen. Nicht, wie sonst, um dunkle Gedanken zu betäuben, sondern weil er eine angenehme Wärme in sich spürte. Er ging zum Stallfenster, rief zum Bauernhaus hinüber, er rief Alba, er vermutete sie im Garten. Er drehte die Siebte lauter, er spulte sogar ein Stück vor, weil er die traurige Nachtmusik des zweiten Satzes nicht hören wollte.
Alba kam zur Tür herein, als die Siebte beim Scherzo angelangt war. Er packte seine Frau, die er immer noch liebte wie am ersten Tag, er zog sie an sich, er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Alba, alles wird gut. Alles ist gut.«
Er hatte bei alldem nie, nicht eine Sekunde, an Sara gedacht. Er war so sehr mit sich selbst, mit dem eigenen Schmerz, der eigenen Verbitterung beschäftigt gewesen. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass Saras Verhalten damit zu tun haben könnte, dass sie die Wahrheit über den Tod ihrer Großeltern erfahren hatte.
Er fühlte sich ertappt. Er schämte sich.
»Danke«, sagte er der Mathematiklehrerin.
Sie schmunzelte, drückte ihm noch einmal die Hand. Er stand auf und verließ den Raum.
Er fand seine Tochter vor dem Eingang des Gebäudes. Sie saß auf der Treppe und rauchte. Sie hatte erst nachmittags Unterricht.
»Wollen wir .«, er räusperte sich, ». wollen wir noch einen Kaffee trinken gehen?«
Sie schaute auf und verdrehte die Augen. »Ich hasse Kaffee, Tatta.«
Tatta. Immerhin. Sie hatte Tatta gesagt. Während er zwischen Weinreben den Schotterweg zur Kellerei Roen hochfuhr, überlegte er, wann sie ihn das letzte Mal so genannt hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Tatta, so nannten die meisten Südtiroler Kinder liebevoll ihren Vater. Tatta war ein Lichtblick. Tatta machte ihn ein paar Sekunden lang glücklich.
Er stoppte, stieg aus. Die Kieselsteine knirschten unter seinen Schuhen. Er drehte sich um. Der Blick reichte bis zum südlichen Ufer des Kalterer Sees. Vor ihm lag der Traminer Hausberg, welcher der Kellerei den Namen gegeben hatte.
Er schaute zur Kellerei, die vor den Toren des Weindorfes in den untersten Teil einer Felswand geschlagen worden war. Fels, Stahl, Glas. Ein...