27. März
1
Nachts in ein fremdes Haus zu schleichen, in dem einer schläft, das kostet Überwindung. Da zieht es einem den Magen zusammen. Da braucht es allen Mut, für jeden Schritt. Was, wenn der aufwacht, der da auf der Ofenbank ruht? Was, wenn der nach dem Jagdmesser greift, das auf dem Tisch neben der angeschnittenen Speckschwarte liegt?
Still dastehen. Warten, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. An diese Dunkelheit, die einem anfangs nur als pechschwarzes Nichts erscheint und dann, nach vier, fünf Blinzlern, doch Konturen freigibt: Tisch, Kredenz, das Kreuz im Herrgottswinkel, die Treppen nach oben, das Grün zweier Katzenaugen. Erst knurrt sie, die Katze, dann umstreift sie miauend die Hosenbeine.
Nicht miauen. Still sein, ganz still. Verrat mich nicht. Ich bin gleich weg, ich muss nur suchen . finden. Schubladen auf. Die Treppe hoch. Ins Zimmer rein. Schubladen zu. Auf. Zu. Auf. Zu. Schrank. Bett. Wo? Wo hast du es versteckt?
2
Auch das noch. Ausgerechnet bei den Pferden. Sosehr Grauner Kühe mochte, so sehr misstraute er Pferden. Die Kuh, so sah es der Commissario, war der Hund unter den Stallviechern. Durchaus stur, aber treu und genügsam. Das Pferd war ganz anders. Es war wie die Katze. Falsch, hinterlistig, schadenfroh, ob seiner Schönheit eingebildet.
Obwohl, was hieß schon schön? Was ließ die Menschen Pferde schöner finden als Kühe? Warum trug Ferrari den Gaul im Wappen und nicht die Kuh? Was ließ Sara, als sie noch jünger war, Pferdefilme lieben, Pferdeheftchen, Pferdesticker? Und keine Kuhfilme? Kuhheftchen? Kuhsticker?
Grauner hatte das noch nie verstanden. Warum erkannte niemand außer ihm die anmutige Schönheit der Kuh? Ihre treuen Augen. Ihre zart geschwungenen Hörner. Ihre Stärke. Ihre Beständigkeit. Die Ruhe, die sie ausstrahlte. Besonders diese Ruhe war es, die Grauner dem Gezappel, Gescharre und Gewieher des Pferdes vorzog.
Dr. Rabensteiner würde heute erst nachmittags in die Praxis kommen, hatte die junge Frau am Empfang gesagt. Vormittags sei der Herr Doktor meistens mit den Pferden zum Training auf der Rennbahn. Zwei davon habe er ja, der Herr Doktor. Alpenglühen hieß das eine, das heute zum ersten Mal nach einer Gelenksverletzung wieder galoppieren durfte. Sogno d'Oro hieß das andere, das beim vergangenen Großen Preis von Meran den ersten Platz nur um eine Nüsternlänge verpasst hatte. Dieses Jahr sollte das nicht mehr passieren. Schließlich galt es, ein Preisgeld von dreihundertachtzigtausend Euro zu gewinnen. Das sind ja keine Peanuts, sagte die junge Frau, nicht einmal für den Herrn Doktor.
Grauner hatte den Panda neben dem schwarzen Maserati geparkt. Etwas zu eng daneben. Kurz verweilte er im Auto, um die Radionachrichten abzuwarten. Saltapepe und Marché waren in der Zwischenzeit unterwegs ins Tal. Silvia Tappeiner trieb von ihrem Schreibtisch aus die Recherchen voran. Sie hatte bereits das Internet durchforstet. Marie war bei Facebook und Instagram, aber das hatte die Ermittler nicht weitergeführt. Bilder mit Klassenkameraden. Ein paar Sprüche, pubertäre Lebensweisheiten.
Michael tauchte in den sozialen Netzwerken nicht auf. Vielleicht nutzte er einen anderen Namen. Vielleicht nutzte er sie überhaupt nicht.
Die Stimme des Nachrichtensprechers riss Grauner aus den Gedanken.
Das war's von der Lokalpolitik. Und nun zum Mädchenmord im Ultental: Der Geständige sitzt seit gestern Abend in Untersuchungshaft. Er verweigert jegliche Aussage zum Tathergang oder Tatmotiv. Laut eines Berichts des Südtirol Kurier wird in St. Gertraud dessen Sohn der Tat verdächtigt. Die Ermittlungen kommen nur schleppend voran. Der Fundort der Leiche ist allem Anschein nach nicht der Tatort. Die Beamten der Polizia di Stato suchen seit gestern im Wald nach Spuren, um den Ort des Verbrechens zu lokalisieren. Doch bislang erfolglos. Der leitende Kommissar Johann Grauner, so schreibt der Kurier weiter, tappt im Dunkeln .
Grauner hörte die Meldung nicht zu Ende, sein Herz pumpte schneller, er knirschte mit den Zähnen.
»Charly, du Schmierfink«, knurrte er gegen die Windschutzscheibe des Panda.
Beim Aussteigen bemühte er sich, mit der Tür bloß nicht gegen den Lack des polierten Angeberautos zu stoßen. Ein Kratzer in einem Maserati, das hätte ihm an diesem Morgen gerade noch gefehlt. Nicht erst diese Radiomeldung, nein, bereits die frühesten Stunden des Tages waren anstrengend genug gewesen.
Seine Tochter Sara sprach nicht mehr mit ihm. Seit Tagen schon. Am Frühstückstisch weigerte sie sich, die Kopfhörer abzunehmen. Der Krach, der aus ihnen drang, war lauter, als wenn Grauner Mahlers wuchtiges Scherzo der Sechsten hörte. Ohne Kopfhörer. Er kannte den Lärm: Warriors of Destruction.
Vor einigen Tagen hatte sich Saras Klassenlehrerin gemeldet. Sara habe im Februar und März dreizehn Tage gefehlt und sei beim vormittäglichen Shoppen unter den Lauben erwischt worden. Mit Micky. Ihrem neuen Freund! Grauners Puls begann zu rasen, allein schon beim Gedanken daran, dass dieser Micky mit seinen grünen Haaren und diesem Ring in der Nase einmal sein Schwiegersohn sein könnte. Dieser Rotzlaggl! Nie im Leben würde er dem seinen Stall und seine Kühe überlassen. Grauner hatte Sara Stubenarrest erteilt, zwei Wochen.
»Wenn du nicht sofort diesen Krach ausmachst«, hatte er heute am Frühstückstisch gegen die Kopfhörer angeschrien, »dann verlängere ich den Arrest um eine weitere Woche!«
Sara reagierte nicht. Sie rollte nur mit den Augen.
»Beruhig dich, Grauner«, mischte sich Alba ein. Sie nannte ihren Mann stets beim Nachnamen, wenn sie unterstreichen wollte, dass nun auch mal gut war.
»Ich beruhig mich nicht«, antwortete er. »Wahrscheinlich schwänzt sie auch heute. Ich beruhig mich erst, wenn das alles vorbei ist. Diese Sturköpfigkeit, dieser Eigensinn, dieses Rumgehänge mit diesem . diesem Micky. Wann ist das endlich vorbei?«
»Das ist noch lange nicht vorbei, das fängt grade erst an«, hatte Alba gesagt und ihrem Mann einen Kuss auf die Wange gedrückt.
Dr. Rabensteiner stand zwischen den beiden Pferden und fütterte sie abwechselnd. Die Tiere waren ebenso auf Hochglanz poliert wie der Maserati und ebenso schwarz.
Der Arzt tat ein Weilchen so, das spürte Grauner genau, als hätte er nicht bemerkt, dass jemand an ihn herangetreten war. Erst beim dritten Räuspern drehte er sich betont langsam um, schaute betont überrascht und trat aus der Stallbox hervor.
»Grüß Gott. Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?«
Grauner antwortete nicht gleich. Er musterte den Arzt von oben bis unten. Der Mann trug eine karierte Schottenmütze, einen Lodenmantel und Wildlederstiefel.
»Mein Name ist Johann Grauner, Commissario der Polizia di Stato, ich muss mit Ihnen sprechen.«
Rabensteiner zeigte keinerlei Regung.
»Vielleicht haben Sie es bereits gestern Abend oder heute Morgen in den Nachrichten gehört.«
»Was soll ich gehört haben? Ich bin gestern spätnachts von einem Psychiatriekongress aus Innsbruck zurückgekommen.«
»Es geht um einen Ihrer Patienten. Michael Haller. Er ist .« Der Commissario überlegte kurz. »Er ist da in etwas verwick. Er ist, äh, wird des Mordes verdächtigt.«
»Des Mordes? Michael?« Rabensteiner schrie mehr, als dass er sprach. »Das ist . das hätte nicht passieren dürfen.«
Der Arzt war schlagartig blass geworden.
»Kommen Sie, Commissario, wir setzen uns auf die Tribüne. Da sind wir ungestört. Da können Sie mir alles erzählen.«
3
Saltapepe lenkte den Alfa durch die dunklen Tunnel des Tals. Die enge Straße, die bedrohlich nahen Leitplanken, die unübersichtlichen Kurven, all das machte ihm nichts aus, all das kannte er aus seiner Heimat, wenn er an den Wochenenden rausfuhr aus der Stadt, die Amalfiküste entlang. In Gedanken war er auch jetzt noch in Neapel.
Am frühen Morgen war er von seiner Wohnung in Bozen losgejoggt, über die Talferwiesen gen Norden, bis zu der Stelle, wo die Talstation der Jenesiener Seilbahn stand und das Sarntal begann, dann den Bergrücken entlang, ein Stück die Oswaldpromenade hoch. Dort, wo es am steilsten wurde, hatte er abbrechen müssen. Die Kondition war dahin.
Seine Mutter hatte ihn in Neapel regelrecht gemästet. Nachdem er ihr erzählt hatte, dass die Bewohner dieser nördlichen Provinz, in die er versetzt worden war, sich am liebsten von trockenem Brot und klein geschnittenen Speckhäppchen ernährten, hatte sie ihm zweimal täglich Teller voller Pasta all'Amatriciana, alla Carbonara und al Sugo delle Olive aufgetischt. Mittags und abends. Nachmittags hatte er am Grab seines Bruders gestanden und mit sich gehadert.
Der Ispettore fuhr sich über den Wanst und schaute hinunter auf die Dächer von Bozen. Er hatte das alles nicht mehr sehen können: dieses Alpenstädtchen, das die vergangenen Monate hinweg unter einer dicken Schneedecke gelegen hatte. Die hohen Berge, die tiefen Schluchten, in denen man selbst mittags, wenn die Sonne am höchsten stand, den kalten Schatten nicht entfliehen konnte.
In den zurückliegenden Wochen hatte Saltapepe einmal mehr bemerkt, wie sehr...