Schweitzer Fachinformationen
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So war ihr der See am liebsten. Nicht windstill. Aber auch nicht stürmisch. Die Oberfläche kein Spiegel. Kleine Wellen, Schaumkrönchen obendrauf. Die Sommersonne über den Monte Baldo hervorgekrochen, doch noch etwas schüchtern ihre Strahlen einsetzend, noch nicht stechend, eher milde das Gesicht streichelnd.
Der kleine Wiesenstreifen ein paar Kilometer vor Malcesine, dessen Burg, auf einem Felsen thronend, am Horizont aus dem Morgendunst herausstach, war ein beliebter Treff zum Surfen. Doch um diese Uhrzeit war noch niemand mit Brett zu sehen.
Nachmittags, wenn der kräftige Südwind, der Ora, von der Pianura Padana heraufziehend das Wasser des Sees zu höheren Wellen anhob, reihten sich die Autos und Motorini am Straßenrand aneinander.
Nun stand da nur Giannas Vespa, etwas abseits ein schwarzer Jeep Renegade. Auf der östlichen Straßenseite nahe des Berghanges befand sich ein verwaister Campingplatz. Auf einer etwa zweihundert Meter entfernten Parkbucht standen noch ein paar weitere Wagen, ein weißer Fiat Cinquecento, ein schwarzer Mercedes, ein grüner Oldtimer, ein Jaguar, wenn sie sich nicht irrte.
Die Journalistin saß im Gras, wartete. Anfangs dachte sie, einer der Wagen würde dem Informanten gehören, den sie treffen sollte, demjenigen, von dem sie nicht wusste, wer er war, wie er aussah, nur, dass er ihr eine CD-ROM übergeben sollte. Etwas eigenartig fand sie das. Aber mehr hatte ihr ihr Vater beim Hin- und Herchatten auf WhatsApp nicht mitteilen wollen.
Noch nicht. Erst, wenn sie sich heute später treffen würden, wollte er sie vollends in die Story einweihen. Vielleicht hätte sie sich doch nicht auf das Ganze einlassen sollen, einfach so.
CD-ROM! Wer benutzte denn noch so was, wunderte sich Gianna, schaute aufs Handy, es war zwei Minuten nach neun. Der Informant verspätete sich.
Gianna wusste von Freunden, dass der starke Nachmittagswind manchen recht unerfahrenen Surfer manchmal dahin trieb, wohin er gar nicht wollte, dass er dann gezwungen war, anderswo an Land zu gehen. Sich von dort abholen ließ. Seinen Wagen erst tags darauf abholte. So jemandem gehörte dieser Jeep wohl. Die weiter entfernten Wagen an der Parkbucht konnten Wandersleuten gehören, die früh hoch zum Monte Baldo aufgebrochen waren, dachte sich die Journalistin, checkte noch einmal die Uhrzeit, bald zehn nach.
Wo blieb der Mann bloß?
Sie blickte wieder auf den See hinaus, zu den drei Enten, die sich vom Wasser tragen ließen. Beinahe schweifte sie gedanklich ab, dachte an die Zeit zurück, als sie ein Kind war. Als Glück eine Selbstverständlichkeit zu sein schien. Sie und mamma und papà. Die Pittis, eine ganz normale, glückliche Familie. Drachen fliegen lassen im Wind, der vom Süden her kommt. Flache Kieselsteine suchen. Sie übers Wasser hüpfen lassen. Papa war eine Katastrophe. Wenn der mal vier schaffte, war das schon gut. Mama hielt den Rekord. Mit vierzehn. Gianna hatte einmal elf geschafft.
Die Journalistin fuhr mit den Händen über die Grasstoppeln, die sie kitzelten. Das Gefühl auf der Haut brachte sie ins Hier und Jetzt zurück. Die Wasseroberfläche bäumte sich leicht auf, senkte sich wieder, die Wellen erhoben sich, senkten sich. Da, links, wogte ein schwarzer Schatten, verschwand nicht.
Nein, das war keine Welle, was war das bloß?
Gianna kniff die Augen zusammen. War das Müll? Eine Plastiktüte? Nein, das war Leder, das war .
Die Journalistin sprang auf, lief zum Ufer vor, dorthin, wo die Wiese endete, wo das Wasser über dunkle Kieselsteine krabbelte, sie zum Klimpern brachte, sich wieder, wie von einem unsichtbaren Magnet gezogen, zurückzog. Gianna machte noch ein paar Schritte, spürte, wie sie im Kies tiefer rutschte, wie das Wasser sich in den Stoff ihrer Sneakers fraß.
Das war . das . ein Mensch! Da lag ein Mensch im Wasser.
Ja, jetzt erkannte Gianna es genau. Die dunkelrote Lederjacke. Die braunen Haare, das Gesicht nach unten.
Noch bevor Gianna überlegen konnte, was sie tun sollte, handelte ihr Instinkt. Er war in entscheidenden Momenten schneller als ihr Verstand, was bisher in ihrem Leben nicht immer nur geholfen hatte. Aber sie konnte es nicht ändern. Es war, als stünde sie in solchen Momenten neben sich.
Es war so gewesen, als sie bei der Maturaprüfung ihrer unerträglichen Geschichtslehrerin mit deren nicht auszuhaltendem Mundgeruch gegenübergesessen hatte. Dottoressa Marianna Margin hatte sie nach ein paar Details der Versailler Friedensverhandlungen gefragt. Margin wusste, dass Gianna keine Ahnung davon hatte. Sie wollte einfach nur ihre Macht nutzen, sich dafür rächen, dass Gianna sich die vergangenen fünf Jahre geweigert hatte, ihren autoritären Unterrichtsstil für gut zu befinden.
»Gegenvorschlag!«, hatte Gianna damals, als ihr Instinkt wieder einmal schneller war als ihr Verstand, herausposaunt. »Sie erzählen mir was von diesen Verträgen. Ich erzähle ihnen was über das neue Album von Vasco Rossi.«
Sie hatte die Maturaprüfung bestanden. Knapp. Und auch nur, weil ihr Musiklehrer ein guter Freund ihres Onkels Francesco war, mehr Mozart, Liszt, Beethoven zugetan als ihrem Helden, aber dennoch mit einem guten Sinn für Humor gesegnet. Er hatte sich inbrünstig für sie eingesetzt.
Gianna streifte die Sneakers von den Füßen, warf sie hinter sich, ihren dünnen Trenchcoat ebenso, sie watete in den See hinein, schüttelte sich, dann versuchte sie, die Kälte zu ignorieren, was eigenartigerweise tatsächlich gelang. Schnell erfasste das Wasser ihren Bauch und ihr ausgewaschenes Vasco-Shirt von der Tour zum Album Il mondo che vorrei.
Die Enten flogen erschrocken davon, die ersten Flügelschläge berührten noch das Wasser, dann stiegen sie ein Stück in den hellblauen Himmel empor.
Gianna schwamm, die Jeans sog Wasser auf, die kräftigen Armschläge brachten sie dennoch voran. Gianna erreichte die rote Lederjacke, das Haarbüschel, plötzlich schien sie zu realisieren, wo sie war, was sie da tat.
Sie schrie.
Sie hätte später nicht sagen könne, ob laut oder stumm. Zitternd griff sie mit der linken Hand nach den Haaren, spürte den Schädel, umklammerte ihn, packte mit der rechten Hand die Kleidung, zog, der schwimmende Körper drehte sich, das Haar fiel nach hinten, ein Gesicht tauchte aus dem Wasser auf.
Die Augen offen. Scheinbar ins Leere starrend. Die blasse Haut mit verschwommener Schminke bestrichen. Die Oberlippe aufgeplatzt. Die Reporterin schüttelte den Körper, so als ob noch die Möglichkeit bestünde, ihn wachzurütteln. Ihn ins Leben zurückzurütteln. Doch das war sinnlos. Die Frau war tot. Ertrunken.
Langsam begann Giannas Hirn wieder zu funktionieren, gewann Überhand über die Automatismen des Instinkts.
Sie zog an der Jacke, zog sie samt der Leiche schwimmend mit sich. Ein paar kräftige Armzüge in Richtung Ufer, dann stellte sie sich aufrecht hin, spürte mit den Zehenspitzen den Seegrund, noch drei Züge, dann konnte sie problemlos stehen, sie watete, zog die Tote an Land, legte sie neben ihre Sneakers und ihren Trench auf den weißen Kies, den das viele Wasser in der Kleidung sofort dunkel färbte. Das Wasser und das .
»Blut«, flüsterte Gianna, die erst jetzt sah, dass die eigentlich weiße Bluse der Frau mit blassroten Flecken versehen war, außerdem zerrissen; im Bauch war ein tiefer Schnitt, das Gedärm quoll hervor. Sie war nicht ertrunken, schoss es der Journalistin durch den Kopf.
Sie war erstochen worden. Oder erschossen? Ermordet!
Gianna schaute wieder in das Gesicht der toten alten Frau, sie schätzte sie auf Anfang siebzig, an einem der Ohren hing ein goldener Ring mit grünem Stein, das andere Ohrläppchen war eingerissen. Sie hob die Lederjacke an, griff in die Taschen, nichts. Kein Portemonnaie.
Ihre Gedanken rasten. Was war nun zu tun? Die Polizei war zu rufen. Gianna kannte diese Frau nicht, sie hatte sie niemals zuvor gesehen. Sie hatte sie zufällig gefunden. Natürlich war die Polizei zu rufen, was sonst?
Das letzte Mal als Gianna angesichts eines Ermordeten glaubte, nicht mit der Polizei kooperieren zu müssen, lieber auf eigene Faust zu recherchieren, hatte ihr das zwar den Scoop ihres Lebens beschert. Sie hatte einen illegalen, kriminellen Geheimbund ausgehoben, war dabei aber um ein Haar selbst getötet worden.
Das war nun knapp drei Wochen her. Bis eben hatte sie noch versucht, sich davon zu erholen. Abenteuer waren eine coole Sache, sie war Gerichtsreporterin, und das nicht aus Zufall, auch wenn sie sich das gelegentlich selbst vormachte. Mord und Totschlag faszinierten sie, interessierten sie. Sie liebte es, darüber zu berichten. Aber normalerweise tat man das, wenn alles vorbei war. Das Mordopfer begraben, der mutmaßliche Täter im Gerichtssaal, sie auf Pressekonferenzen der Staatsanwaltschaft, der Polizei herumhängend, irgendeinem halbseidenen Carabiniere einen Hunderter zusteckend, damit er ihr aus den Akten zwei, drei Details mehr mitteilte, als er mitteilen durfte. Damit sie zurück in der Redaktion ihre Geschichte mit einem schönen szenischen Einstieg beginnen konnte, der Elvira, der Chefredakteurin, gefallen würde, bei dem sich die Reporter anderer Medienhäuser verärgert fragen würden, woher sie dies alles nun schon wieder hatte. Wie sie es nur immer wieder schaffte, so schöne Stücke zu schreiben, die jedoch,...
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