Schweitzer Fachinformationen
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Die Glühbirne erhellte nur die hinterste Ecke des Schuppens. Die Luft war sauerstoffarm und voller Staub. Grauner unterdrückte ein Niesen und blinzelte mehrere Male. Er sah verrostete Ölfässer, Werkzeug in einer Ecke, einen vergilbten Pin-up-Kalender an der Wand. Das März-Mädchen des Jahres 2007.
Unter einem vergitterten Fenster stand ein schwarzer Holzofen. An der gegenüberliegenden Wand machte Grauner ein simples Holzbett mit einer Matratze aus. Darüber hing ein hölzerner Rosenkranz an einem Nagel. Links davon war ein Waschbecken montiert. Verrostet. Der Wasserhahn tropfte. Vor der Tür hatte der Commissario kurz überlegt, Belli aufzufordern, ihn zu begleiten. Aber der war schon wieder telefonierend auf und ab gelaufen. Er hatte es bleiben lassen.
Am kleinen Tisch saßen zwei Polizisten. Sie fixierten einen Mann mit Blicken, der den Kopf gesenkt hatte. Vor ihm stand ein Krug. Wasser darin. Die Gläser der beiden Polizisten waren leer, das des Mannes, es musste Tanner sein, war voll. Auf einem Teller lagen zu Dreiecken geschnittene Apfelstücke. Als die Polizisten sich umdrehten und Grauner erkannten, standen sie auf und entfernten sich vom Tisch. Der Commissario zog einen der Stühle zurück und setzte sich. Beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Treber. Das, was er für Wasser gehalten hatte, war klarer Schnaps. Der Bauer, der die beiden toten Frauen auf seinem Grundstück gefunden hatte, der vielleicht der Mörder war, regte sich immer noch nicht.
Das fettige Haar hing ihm übers Gesicht, sodass Grauner nicht sehen konnte, ob er die Augen geöffnet oder geschlossen hatte. Etwas tropfte zu Boden. Grauner wusste nicht, ob es Tränen waren. Die Hände hielt der Mann unter dem Tisch versteckt. Der Commissario war sich sicher, dass er die Initiative übernehmen musste, dass Tanner nicht von sich aus den Kopf heben und sprechen würde. Er dachte nach, er ließ ein, zwei Minuten verstreichen.
»Herr Tanner, mein Name ist Johann Grauner. Ich bin Kommissar der Staatspolizei. Ich ermittle in diesem Fall. Mir wurde gesagt, Sie hätten die beiden toten Frauen heute am frühen Morgen gefunden. Nach dem jetzigen Ermittlungsstand ist es mehr als wahrscheinlich, dass sie ermordet worden sind. Wir befinden uns hier auf Ihrem Grund und Boden, Herr Tanner. Ich frage Sie frei heraus: Haben Sie den beiden Frauen etwas angetan?«
Keine Reaktion. Wieder tropfte etwas von Tanners Gesicht unter den Tisch, es war ein zu großer Tropfen, um eine Träne zu sein.
»Zwölfer-Heinrich, Sie müssen mit mir reden .«, sagte Grauner sanft. Nicht fordernd.
Der Bauer zuckte zusammen. Es war eine Reaktion auf seinen Spitznamen, wahrscheinlich hatte ihn schon seit Jahren keiner mehr bei seinem richtigen Nachnamen gerufen. Kurz blickte er auf, kurz wurde sein blasses Gesicht unter den strähnigen Haaren sichtbar. Grauner schnappte sich den Krug, schenkte sich ein und erhob das Glas.
»Prosit!«
Wieder das Zucken des Bauern. Wenn einer einen Trinkspruch sprach, wenn einer das Glas erhob, dann hob der andere ebenso sein Glas, es war ein Reflex, das steckte in den Genen der Südtiroler, in denen der Bauern ganz besonders.
Tanner strich sich das fettige Haar aus der Stirn, dann griff er nach dem Glas, hob es an, führte es zum Mund. Beim Trinken lief ihm der Treber übers Kinn und tropfte auf sein rotschwarz kariertes Flanellhemd.
»Ich kenne die Frauen nicht.«
»Noch nie gesehen?« Grauner beeilte sich, das Gespräch am Laufen zu halten.
»Noch nie gesehen.« Tanner nahm erneut das Glas, trank den Schnaps in mehreren Schlucken leer.
So trank kein sorgenfreier Mensch seinen Schnaps. Bei Schnaps nahm man einen Schluck, pausierte, nahm wieder einen. In mehreren Schlucken, ohne das Glas abzusetzen, so tranken Menschen, in denen die Angst wütete. Tanners Augen waren glasig.
»Bis wann waren Sie gestern hier auf dem Moos?«
»Ich . ich .«
»Sie leben hier unten, nicht wahr?«
»Ich .«
Tanner schaute wieder zu Boden. Grauner war klar, dass der Mann sich schämte. Etwas sagte ihm, dass Tanner Schlimmes im Leben wiederfahren war. Er beschloss, ihn nicht zu fragen, warum er hier unten wohnte, er würde es früher oder später sowieso erfahren.
»Wann sind Sie gestern Abend zu Bett gegangen? Wann haben Sie die Lichter ausgemacht?«
Tanner schaute überrascht auf. Er hatte wohl mit einem anderen Fortgang des Gesprächs gerechnet. In seinem Blick lag Dankbarkeit. Er wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Lippen.
»Gegen Mitternacht.«
»Ist Ihnen gestern Abend irgendetwas aufgefallen hier unten?«
Kopfschütteln.
»Oder im Laufe des Tages? Haben Sie Menschen gesehen, die hier nichts zu suchen haben? Auf Ihrem Grundstück? Auf den nebenan liegenden?«
»Hier unten sind zur Erntezeit immer Menschen. Viele Menschen. Ich liebe den Herbst, weil die Ernte Geld bringt .« Nun ergriff Tanner den Schnapskrug, schaute verächtlich auf Grauners Glas, das dieser zwar gefüllt, von dem er aber nicht getrunken hatte. Er schenkte sich selbst noch einmal ein, trank zwei Schlucke. ». aber ich hasse ihn auch. Weil ich dann keine Ruhe mehr habe. Weil dann die anderen Bauern aus den Dörfern jeden Tag hier unten sind, von früh bis spät, und Feldarbeiter mitbringen, Polen, Tschechen. Ich bin ganz gerne alleine, ich komme gut mit mir selbst zurecht. Ich brauche keine Gesellschaft.«
»Auch keine weibliche? Ich meine . Leben Sie alleine? Haben Sie keine Partnerin?«
Wie in Zeitlupe schlossen sich die Lider des Bauern.
»Das . das mit der Liebe . das ist bei mir nichts geworden.« Die Stimme zitterte.
»Ich nehme an, wie Sie die beiden toten Frauen heute Morgen gefunden haben, haben Sie bereits zu Protokoll gegeben?«
Tanner schluchzte nun wimmernd. Das Gesicht war wieder hinter dem Vorhang aus Haaren verschwunden. Da von ihm keine Antwort zu erwarten war, drehte sich der Commissario zu den beiden Polizisten um.
Sie nickten unisono. »Steht alles im Vernehmungsprotokoll«, sagte der eine.
Nun nickte auch Grauner. Er erhob sich vom Stuhl, drehte sich einmal um die eigene Achse. Er sah die Fettschicht, die an dem vergilbten, vergitterten Fenster klebte. Dieser Raum erinnerte ihn an die Zellen des baufälligen Gefängnisses von Bozen. Nur dass diese dort weitaus sauberer waren. Sein Blick schweifte über die Küchenzeile, er blieb am Pin-up-Kalender hängen. Das März-Mädchen hatte welliges, kastanienbraunes Haar. Es fiel auf die entblößten Brüste. Die ebenso kastanienbrauen Augen blickten verführerisch.
Der Commissario murmelte die letzten Worte des Bauern halblaut vor sich hin: »Das mit der Liebe ist bei mir nichts geworden.«
Er schaute auf die Matratze, die auf dem einfachen Holzgestell lag. Sie wirkte nicht so schmuddelig wie alles andere in diesem Raum. Das Federbett war mit einem ockerbraunen Stoff überzogen und akkurat gefaltet. Das Kissen lehnte ausgeklopft am Kopfende des Bettes. Grauner ahnte, dass das, was er nun tun würde, die beiden Polizisten verwundern würde, doch das machte ihm nichts. Er wusste, dass er bei den neueren Kollegen in der Questura ohnehin den Ruf des etwas schrulligen Bauerntölpels vom Berg hatte.
Gestört hatte ihn das noch nie. Im Gegenteil, er genoss es, als Einziger unter den Kollegen, die alle mehr oder weniger eine Polizeikarriere ohne Abzweigungen und Umwege hinlegten, noch ein Leben jenseits des Staatsdienstes zu haben. Es schlugen zwei Herzen in seiner Brust. Wenn die Mörder gefasst, die Fälle geklärt waren und die Kühe gemolken und zufrieden schmatzend im Stall standen, dann war er glücklich, dann schlief er gut.
Das Gequatsche der Kollegen, die Witzeleien hinter seinem Rücken, die er manchmal vernahm, raubten ihm nicht den Schlaf. Grauner war klar, dass er gut war, dieses Selbstvertrauen hatte er sich Fall für Fall erarbeitet.
Er bückte sich, löste die verknoteten Schnürsenkel, streifte die Stiefel ab. Er schaute auf seine Socken. Keine Löcher. Er setzte sich auf die Bettkannte, wippte kurz, so wie es Kunden in einem Matratzenladen machten. Dann ließ er sich zurückfallen. Kurz lag er stumm und bewegungslos da, wissend, dass er von den beiden Polizisten fragend angeglotzt wurde und dass auch Tanner den Kopf gehoben hatte. Er wartete noch ein Weilchen, dann drehte er sich um, vergrub das Gesicht im weichen Kissen.
Er atmete tief ein. Der Geruch von Benzin, der im ganzen Raum wahrzunehmen war, hatte sich auch auf den Stoff gelegt, doch da war noch mehr. Kein Seifengeruch. Das Bettzeug war wohl schon länger nicht gewaschen worden. Da war Schweiß und ein süßlicher Duft, der ihn an Rosenblätter erinnerte. Noch einmal sog er die Luft tief ein, schloss die Augen, verharrte regungslos. Ja, Rosenduft.
»Commissario Grauner, tutto bene? Schlafen Sie?«
Einer der beiden Polizisten war ein paar Schritte an ihn herangetreten. Grauner öffnete die Augen. Dem linken Auge war die Sicht vom Kissenbezug versperrt. Das Bild war verschwommen, er blinzelte einmal, zweimal, dann sah er direkt vor seiner Nase, ganz deutlich, ein Haar, das auf dem Stoff lag. Ein langes Haar.
»Das mit der Liebe ist bei mir nichts geworden«, flüsterte er noch einmal.
Er setzte sich auf, zog seine Jacke zurecht, schnappte seine Stiefel, schlüpfte hinein, schnürte sie sorgsam zu. Er erhob sich, deutete auf...
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