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Mahler fragte sich, mit wie vielen Gedanken so ein Gehirn, sein Gehirn, wohl zeitgleich jonglieren konnte. Wie viele Eindrücke zeitgleich verarbeiten. Diese Sinne! Sind's nicht doch ein paar zu viele? Wäre der moderne Mensch nicht erst komplett, wenn er es schaffte, sie einzeln einzusetzen? Wie bei einem Orchester, da tost mal alles zusammen, volles Programm, dann ist da aber das Blech ja auch mal still, wenn das Holz rumort, so wie zu Beginn des finalen Adagios der Neunten. So ein Part, das befahl Mahler seinem Gehirn eindringlich, musste unbedingt auch in der Zehnten wieder vorkommen. Nur halt noch genialer, noch ungehörter, noch finaler!
In der dicken, schweißschwangeren Gasthausluft japste er nach Sauerstoff, überlegte sich, wie er sein Gehirn nur dazu zwingen könnte, diesen immens wichtigen Gedanken bis später zu behalten, dann überlegte er es sich anders, nein, zu wichtig war dieser Einfall, um ihn den Launen des Erinnerungsvermögens zu überlassen. Wie viele geniale Gedanken von genialen Menschenkindern waren der Welt wohl schon abhandengekommen, weil diese Genies sie nicht notiert hatten. Da hatte der alte Schopenhauer schon recht, viel zu viele geniale Gedanken waren durch Peitschenknalle vernichtet worden. Weg. Für immer.
Wir würden wohl längst in Maschinen durch die Luft schweben, den Mond besiedeln, Melodien nicht nur hören, sondern auch riechen und schmecken können, dessen war Mahler sich gewiss, wenn ein jeder geniale Gedanke eines jeden genialen Denkers der Menschheitsgeschichte vor dem Vergessen bewahrt worden wäre. Ja, ja, sein jüngster Gedankenstreich musste schriftlich festgehalten werden. Schnell!
Mahler fasste in die Seitentasche seines Jankers, zog einen Bleistift hervor, betrachtete die Tischplatte: Sie war verklebt, verschütteter Wein hatte kleine, rote Flecken hinterlassen, halb leere und leere Gläser standen herum, zwei Krüge. Sein Teekännchen, seine Teetasse vor ihm. Nicht ins Bild passend. Wie aus einer anderen Welt. Vom Mond. Mahler beobachtete die Hände der Menschen, die um ihn saßen, er sah Bubenhände, Männerhände, Bauernhände, braun gebrannt, mit krausem Haar auf den Fingerrücken und Dreck unter den Fingernägeln.
Er musterte seine eigenen Hände, seine Finger waren keinesfalls besonders lang, auch nicht fein, mitnichten käsig. Aber sie waren länger, feiner, käsiger als diese Bauernfinger, die Haare auf den Rücken zarter, ebenfalls länger, die Fingernägel wirkten poliert, im Vergleich beinahe wie Mädchennägel. Das erfüllte ihn mit Freude. Um die Schönheit dieser Nägel hatte er, der einst notorische Nagelbeißer, lange mit sich gerungen. Damals. Ihr zuliebe. Mit ihrer Liebe. Mit ihrer Hilfe. Alles an ihm alterte, nur die Nägel nicht, sinnierte sein Hirn, während der Blick weiterwanderte. Er entdeckte die Zeitung, den Pustertaler Boten, auf der Holzbank, er nahm sie zur Hand, überflog die Schlagzeilen der Titelseite.
Wiener Politikgeschacher, lästiges Zeug. Mahler machte mit dem Bleistift einen Strich auf den Zeitungsrand, nur zur Kontrolle, ob er denn auch schrieb, dann setzte er an und merkte sogleich, dass er vergessen hatte, was er sich notieren wollte. Er malte zwei Blumen an den Rand des Papiers. Das mit den Sinnen, das mit den vielen Gedanken, die so ein Schädel gleichzeitig zu denken hatte, darüber hatte er doch nachgedacht und dass er doch wohl ein noch viel besserer Komponist werden konnte, wenn er die Möglichkeit besäße, fünf der sechs Sinne herabzudimmen, volle Konzentration auf das Gehör.
Er lehnte sich zurück, kurz wurde ihm schwindelig, dann passte der Gemütszustand wieder, fast war ihm, als spürte er die klare Suppe durch die Venen krabbeln, er schloss die Augen, ja, er wollte das nun ausprobieren. Die Sinne regulieren. Los.
Nur noch helles Flackern unterm Dunkel der Augenlider, er drückte die Nasenflügel zusammen, tatsächlich, ihm war, als ob der Gasthausgeruch weniger wurde, weniger Weingeruch, weniger Kalbskopf - Gott, wie der stank! -, weniger Schweiß. Er versuchte, an nichts zu denken, keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur das Jetzt, und ja, da schau her, der Gasthauslärm, wie magisch verwandelte er sich in - Musik! Es klappte also, ja, wie neulich schon einmal. Dies Gasthaus, welch Inspiration! Das Brummeln, das Scheppern, das alles musste er unterbringen, eine vertonte Gasthausszene, ja, das wär's! Gasthausszene, kritzelte er immer noch geschlossenen Auges auf das Zeitungspapier, riss blind das Stück Papier vom Rest der Zeitung ab, steckte es in die Innentasche des Jankers, überlegte, welche Grundtonart das wohl war, was er da hörte, irgendwas in Moll auf jeden Fall.
Dann hörte er ein gackerndes Lachen, ein verstimmtes Cis-Dur ins Moll hineinprusten. Alma! Er öffnete die Augen. Ja, er hatte sich vorgenommen, nicht zu ihr hinüberzuschauen, nun tat er es doch. Er hatte sich längst eingestanden, dass er nie von ihr loskommen würde. Nie! Alma, seine Liebe, seine Lust, sein Leben, seine Sehnsucht, sein Schicksal.
Seine Liebe, seine Lust, sein Leben, seine Sehnsucht, sein Schicksal hatte sich eng an einen Bauernbuben geschmiegt. Mahler spürte den Liebeshasszorn in sich. Plötzlich taten ihm all seine alten Knochen noch mehr weh, als sie ihm eh schon wehtaten seit ein paar Wochen. Jeder einzelne, so schien ihm, schmerzte. Wie jung und schön der Bub war! Milchige Haut. Mahler stellte sich dessen nach frischer Kuhmilch duftenden Atem vor, den sie in diesem Moment wohl in sich aufsog. Was würde er geben, noch ein kleines bisschen von dieser jugendlichen Kraft und Zartheit in sich zu tragen? Er könnte noch zehn Symphonien schreiben, noch zwanzig Lieder, vielleicht tatsächlich einmal noch eine Oper, er konnte Wagner übertrumpfen, den Allergrößten, er könnte in tausend Jahren noch gehört werden, doch so jung sein, so begehrenswert, so zart, so stark, konnte er nicht mehr. Nie mehr.
Er schaute nun doch zu ihr. Sah ihren begierigen Blick. Ihre hohen, rosafarbenen Wangenknochen, ihre feinen Augenbrauen, ihre dicken Ohrläppchen, ihr zartes Haar, ihr üppiges Kinn, den vollen Mund, die weiche Haut. Ja, er liebte das alles. Auch, allem voran und doch auch überhaupt nicht: ihre krankhafte, hysterische Lustigkeit.
Alma hielt den Kopf ihm abgewandt, aber er war sicher, sie kämpfte damit, sich nicht umzudrehen, er war sicher, sie wünschte sich, im Hinterkopf Augen zu haben, um seine eifersüchtigen Blicke zu sehen. Eifersucht, verdammte! Geht nicht ohne. Die Eifersucht nicht zeigen, das hatte er sich selbst geschworen, wie oft schon? Er wusste, dass er dies alles auf Dauer nicht durchhalten würde, er wusste, dass sie den längeren Atem hatte, keine Eifersucht zu kennen schien, er hatte das alles schon zu oft erlebt, er fürchtete sich davor, es darauf ankommen zu lassen. Das einzig Gute: Diese verdammte Eifersucht, sie half beim Komponieren.
Er schloss die Augen erneut, alle Sinne möglichst ruhen lassen! Alle bis auf die Ohren. Doch es klappte nicht mehr. Das Gasthausgeklimper folgte keiner Melodie mehr, da war nur noch anarchischer Lärm, auch Almas Gackern war weg, die Stimmen am Tisch nebenan legten sich über das Grundrauschen. Es wunderte Mahler, wie klar er jedes Wort der krächzenden Bauernkehlen vernahm. «Ein Genie», sagte einer. «Ein Besessener», sagte ein Zweiter. «Ein Kaliber», pflichtete ein Dritter bei. «Ein Schöpfer von Meisterwerken .», er beendete den Satz nicht. Ließ sich vom Ersten erneut unterbrechen: «Der tut Toblach gut, der bringt uns wieder in aller Munde.»
Mahlers Herz pochte hitzig. Genie! Schöpfer von Meisterwerken. Zufrieden sank er in sich zusammen. Er bemerkte, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen. Sie hatten wohl gar nicht gesehen, dass der, über den sie sprachen, am Nachbarstisch saß. Zumal ihnen den Rücken zugedreht. Er und Alma waren ja schon früh ins Gasthaus gekommen, er hatte seine Suppe und die zweieinhalb Fleischstreifen - ohne Würze, ohne Salz, ohne Soße, ohne Butter! - ja schon verspeist. Er hatte sich mit Alma ja schon gestritten, während der Goldene Hirsch sich gefüllt hatte, noch bevor die Männer, denen er nun lauschte, sich an den Nachbarstisch gesetzt hatten. Noch bevor sie ihre Kalbsköpfe bestellt hatten, da war Alma schon längst wütend aufgestanden, weil er nicht mit ihr tanzen wollte.
Alma hatte alleine auf einem Stuhl eine Pirouette gedreht, zur Belustigung des Gasthauspöbels um sie herum, dann hatte sie sich an die Theke gestellt, sich einladen lassen. Mal von dem, mal von dem. Zu ihm an den Tisch hatten sich ungefragt Bauern und Hirtenbuben gesetzt. Diese Flegel. Das machte man doch nicht, sich einfach hinsetzen. In New York vielleicht, aber in Wien ganz bestimmt nicht. Ja, Nein. Die am Tisch nebenan, die ihn lobpreisten, sie hatten ihn wohl einfach nicht gesehen. So musste es sein.
Nun schwiegen die Männer. Er überlegte, was er tun sollte, wenn sie wieder anfingen, ihm zu huldigen. Aufstehen, sich umdrehen, an ihren Tisch gehen. Würden sie ihn sofort erkennen? Oder wussten sie vielleicht überhaupt nicht, wie er aussah? Kannten ihn nur vom Namen, aus der Zeitung - er schielte kurz zum Boten - oder von seinen Melodien her?
Konnte sein. War wohl so. Er war ja so selten im Dorf gewesen, noch seltener hier im Gasthaus, in den vergangenen Tagen, in den vergangenen Sommern. Nein. Sie konnten ihn nur vom Hörensagen kennen. Er schloss die Augen wieder. Wartete. Ja er würde sich wohl umdrehen, das Glück in ihm wallte, er musste .
«Musst du mir erst...
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