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Kapitel 2
Alexander blickte ängstlich auf das große Theater, als er mit Gry durch die Passage ging, die den Gasværksvej mit dem Gammel Kongevej verband. Das Det Ny Teater ragte mit seiner goldenen Fassade und der mit einer Krone geschmückten Dachkuppel über ihnen auf und flößte Alexander wie immer ein besonderes Gefühl der Andacht ein. Wenn er auf das Theater zuging, kam er sich manchmal wie ein Gläubiger vor, der sich Notre Dame oder der Peterskirche näherte - die Bühne war der Altar und der Bühnenraum das Kirchenschiff, in dem man seine künstlerischen Überzeugungen entfalten konnte.
Und wenn es gelang, war die Kunst göttlich.
Sie betraten das Theater durch den Hintereingang und erhielten von Mahmoud ihre Gästekarten, der, wie gewöhnlich,mit seinem freundlichen Lächeln und seiner riesigen Haarpracht diesen Zugang bewachte. Anschließend wurden sie durch die langen Gänge hinter der Bühne zu Lillians Garderobe geschleust. Fotografien von Künstlern früherer Zeiten hingen an den Wänden, auch mehrere Fotos von Lillian, die im Laufe der Jahrzehnte bei großen Vorstellungen von ihr gemacht worden waren. Obwohl die Koppelman-Sippe eine weit verzweigte Familie war, die dem dänischen Kulturleben seit Generationen ihren Stempel aufgedrückt hatte, war Lillian zweifellos die bedeutendste Künstlerin von ihnen, allerdings auch diejenige, die nicht nur auf der Bühne den größten Raum einnahm.
»Ich bin es doch, die der Familie zu ihrem guten Namen verholfen hat«, verkündete sie gern. Vor allem, wenn sie jemanden aus Alexanders Freundeskreis kennenlernte, blätterte sie ihren ganzen selbstherrlichen Katalog an Theatererfolgen und Preisen auf und erzählte viel zu detailliert von den umfassenden Vorbereitungen auf Rollen, an die sich inzwischen nur noch die wenigsten erinnern konnten. Alexander ging daher stets mit gemischten Gefühlen in das Det Ny Teater. Einerseits liebte er die Stimmung und den Geruch, vor allem vor einer Premiere, diese Mischung aus frischem Holz und Farbe, die Kostüme an der Stange und die schweren Vorhänge. Das gedämpfte, konzentrierte Summen der Bühnenarbeiter, die miteinander flüsterten, die Schauspieler, die ihre Texte repetierten, in der Ferne die Töne eines Pianisten, der sich warm spielte. Alle arbeiteten auf die Abendvorstellung hin, auf die große Gemeinschaftsleistung, die Kulisse des demokratischsten Zusammenhalts, aber auch der egozentrischsten Solodarstellungen. Es hatte definitiv etwas Verführerisches.
Andererseits verspürte Alexander aber auch eine gewisse Unruhe, wenn er sich durch die Gänge bewegte. Eine Unruhe, die in ihm steckte, seit er als Kind im Keller bei Ivar, dem Hausmeister des Theaters, untergebracht wurde, wenn Lillian auftrat. Es war das Gefühl, übersehen zu werden, seiner Mutter im Weg zu stehen, sie zu stören. Gleichzeitig war er aber auch erleichtert, wenn er bei Ivar zur Ruhe kommen konnte und weit weg von all dem war, was ihm seine Mutter entzog.
Anfangs durfte er in ihrer Garderobe sitzen, während sie auf der Bühne stand. Es war magisch, aber auch ein bisschen langweilig, wenn er warten musste, bis die häufig mehrere Stunden dauernden Musicalvorstellungen zu Ende waren. Als die »Rocky Horror Show« das erste Mal aufgeführt wurde, erschrak er dermaßen, als er sah, wie seine Mutter hinter der Bühne erst von einem buckligen Butler, dann von einem Monster im Rollstuhl betatscht wurde, dass er, kurz bevor der Vorhang aufging, in die Hose pinkelte. Lillian hatte ihn ausgeschimpft und angeordnet, er solle sich bis zum Ende der Vorstellung auf die Toilette setzen. Dort hatte er mit nasser Hose gesessen und geweint, während die Harnsäure an der Haut seiner Oberschenkel brannte.
Ivar hatte den siebenjährigen Alexander auf der Toilette gefunden, ihn bei der Hand genommen, und gemeinsam hatten sie eine trockene Hose aus einer alten Kostümkiste gefischt, eine viel zu große Rokokohose aus rotem Samt. Dann hatte er eine Tasse Kaffee bekommen, denn außer Bier konnte Ivar sonst nichts anbieten, und kurz darauf war er auf der kleinen Bank in dem abgelegenen Hausmeisterraum eingeschlafen - zu den Tönen von Brahms Streichsextett Nr. 1, das der freundliche Hausmeister als seine Lieblingsmusik bezeichnete. Währenddessen wurde Lillian vom Publikum wieder und wieder auf die Bühne gerufen und hinter der Bühne mit Champagner, Blumen und Glückwünschen des Theaterchefs und des Regisseurs gefeiert.
Es hatte viele solcher Erlebnisse gegeben, und Alexander erinnerte sich jedes Mal an sie, wenn er das Theater betrat. Die Freude, die produktive und kreative Atmosphäre eines Theaters zu erleben, existierte Seite an Seite mit dem Unbehagen, seiner Mutter im Weg zu sein. Es war eine Rechnung, die er als Erwachsener viele Male durchgegangen war, und das Resultat war immer dasselbe: Für seine Mutter war das Theater wichtiger als alles andere. Wichtiger als er. So war es schon immer gewesen.
Alexander eilte voraus. Als wollte er Gry damit signalisieren, dass die Begegnung mit seiner Mutter einfach rasch überstanden werden musste: Hinein in die Garderobe, ein hastiger Kuss auf die Wange, toi, toi, toi wünschen und dann die relativ schlechten Gästeplätze aufsuchen, die ihnen immer zugewiesen wurden, wenn sie auf der Gästeliste des Theaters standen. Natürlich waren die guten Plätze dem zahlenden Publikum vorbehalten. Aber wahrscheinlich war es ja ohnehin das letzte Mal.
Lillian war bereits vor einigen Jahren vom Theater verabschiedet worden. Da sie aber eine so bedeutende Musicalkarriere hinter sich hatte, hatte man zu ihrem siebzigsten Geburtstag ein Fest arrangiert, eine besondere Aufführung von Anatevka. Ein großartiger Abschied, mit dem sie als eine der größten dänischen Musicalstars der Geschichte geehrt wurde.
Wochen vor der Festvorstellung hatte sie Alexander angerufen und sich über ihr Leben beklagt, über den erzwungenen Rücktritt und ihre künftige Überflüssigkeit. Was sollte nur aus ihr werden? Wer würde sich noch für sie interessieren? Alexander hatte ihr versichert, sie bekäme bestimmt auch weiterhin Freelance-Aufgaben und er würde sie schon bald besuchen. Und dann hatte er ihr geraten, sich darauf zu konzentrieren, ein letztes Mal auf der großen Bühne ihre Lieblingslieder zu singen. Er hatte sie daran erinnert, dass sie es schließlich war, die seinerzeit dafür gekämpft hatte, Anatevka auf die Bühne zu bringen. Stets hatte sie von ihrer Faszination für diese jüdische Geschichte gesprochen, die in einem kleinen Schtetl spielte, und die Rolle der Golde war jahrzehntelang ihre Glanzrolle gewesen.
Alexander wusste kaum etwas über die Geschichte seiner Familie, nur dass Lillians Großeltern und Urgroßeltern ursprünglich auch aus einem solchen kleinen polnischen Schtetl stammten. Und die Familie gezwungen gewesen war, vor den russischen Pogromen zu fliehen. Und um dem obligatorischen jahrelangen Militärdienst in der russischen Armee zu entkommen. Aber sobald Alexander versuchte, Parallelen zwischen dem Stück und ihrer eigenen Familiengeschichte zu ziehen, wollte Lillian nichts davon wissen und sagte nur, so etwas interessiere sie nicht.
Wenn Lillian Alexander anrief, musste er ihr versichern, dass sie eine phantastische Karriere gehabt hatte und ihre Arbeit bedeutend gewesen war. Sie hätte die Herzen der Menschen berührt. Er gab sich Mühe, sie zu trösten, doch die Gespräche waren anstrengend. Und daher schaltete er beinahe instinktiv den Klingelton aus, sobald ihre Telefonnummer auf dem Display seines Handys erschien. Er bekam Atemnot, und sein Puls beschleunigte sich, während er sich bei der Überlegung ertappte, warum seine Mutter eigentlich nie anrief, um sich nach ihm zu erkundigen. Immer war sie es, die getröstet, unterstützt und bedauert werden musste. Hörte sie sich ausnahmsweise einmal seine Sorgen an, dann wurden sie bestenfalls mit einer Nebenbemerkung kommentiert - aber auch nur, wenn sie dabei eine ihre selbstgefälligen Lebensweisheiten unterbringen konnte.
Das wohlbekannte Gefühl blieb nicht aus, auch nicht, als sie ihn am Nachmittag vor ihrer Geburtstagsvorstellung angerufen hatte.
»Alexander am Apparat. Wer ist da bitte?«
Er empfand eine besondere kleine Freude darin, so zu tun, als wüsste er nicht, dass es seine Mutter war, die anrief. Und sie fing wie immer sofort an zu reden, ohne darauf einzugehen. Oft genug mit einer Reihe von Fragen, ohne die Antworten abzuwarten. Als er versuchte, das Gespräch zu beenden und seiner Mutter zu erklären, der Tag sei für Gry und ihn ein wenig schwierig gewesen, hatte das den entgegengesetzten Effekt.
»Wieso soll das mit der Samenqualität ein Problem sein? Das war doch noch nie ein Problem in unserer Familie. Seid ihr überhaupt sicher, dass ihr ein Kind wollt?«
Alexander wollte ihr antworten, Gry und er würden ein Kind in ihrem Leben sehr vermissen, doch Lillian ließ sich in ihrem Redestrom nicht unterbrechen.
»Wie kann man etwas vermissen, das man nie hatte? Ihr habt doch ein gutes Leben ohne ein Kind. Ihr seid inzwischen schon so lange zusammen, wie lange ist das jetzt her, zehn Jahre? Glaubst du nicht, ein Kind würde euch nur belasten, ja vielleicht sogar die Beziehung zerstören? Und bist du überhaupt bereit, Vater zu werden?«
Alexander hatte das Telefon ein Stück vom Ohr entfernt in der Hand gehalten, während er seine Wangen mit Luft füllte, die er gegen seine zusammengekniffenen Lippen presste. Gry würde begreifen, dass Lillian am anderen Ende der Leitung war, das wusste er. Sie hatte ihm verständnisvoll zugelächelt. Und er hatte an den Schmerzen im Kiefer...
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