Schweitzer Fachinformationen
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»Schönes Wetter«
»Horst, zum Chef. Sofort!« Ich lege den Hörer auf. Wenn Rabe derart kurz angebunden ist, droht meist Ärger. Was kann da wieder schiefgelaufen sein? Der Abteilungsleiter befiehlt in der Regel nur zu sich, wenn etwas in die Hose gegangen ist. Ich verspüre keine Lust, darüber nachzudenken, was geschehen sein könnte, welche Quelle möglicherweise gefährdet oder gar aufgeflogen oder welche Nachricht, die wir in einem Westmedium platzieren wollten, nicht gedruckt worden ist. Alles denkbar. In der Vergangenheit lag ich mit meinen Vermutungen oft falsch, der Schuss kam stets aus einer Ecke, an die ich nicht gedacht hatte. Warum also sich unnötig das Hirn zermartern.
Bin ich verunsichert? Bekomme ich nach einem solchen Anruf weiche Knie? Nein, dazu arbeite ich schon zu lange bei der Aufklärung, hier im Referat III der X. Unsere Abteilung ist eine der wenigen der etwa zwanzig, die dem Chef der Hauptverwaltung Aufklärung direkt unterstellt sind. Das unterstreicht unsere Bedeutung. Wir sind zuständig für politisch-aktive Maßnahmen im Operationsgebiet, also in Westberlin und in der Bundesrepublik. Wir bearbeiten zum Beispiel Journalisten, um mit ihrer Hilfe bestimmte Nachrichten in die Öffentlichkeit zu bringen. Auf diese Weise erzeugt man Stimmung gegen oder für eine Sache oder Person oder setzt ein Thema in den Medien, das wir in der DDR aus politischen Erwägungen im Westen behandelt wissen wollen. Wir führen unter den Journalisten nicht wenige Quellen als inoffizielle Mitarbeiter, wobei nicht jeder von ihnen weiß, für wen er arbeitet. Viele glauben für eine westeuropäische oder US-amerikanische Institution tätig zu sein, von der sie Geld dafür beziehen, dass sie bestimmte Nachrichten lancieren oder uns informieren, was in ihrer Redaktion geplant wird, welcher Kollege an welchem Projekt sitzt und dergleichen.
Nicht wenige dieser inoffiziellen Mitarbeiter sind unter »fremder Flagge« geworben worden - übrigens eine Spezialität von mir. Ich habe einige IM auf diese Weise gewonnen und nutze sie, um Informationen für die Aufklärung zu gewinnen und um spezielle Informationen aus unserem Hause in ihrer Zeitung oder Zeitschrift, in Rundfunk- und Fernsehsendern unterzubringen. Oder ich bin den »Kollegen« bei ihren Recherchen behilflich. Wenn sie etwa irgendwelche Persönlichkeiten, Einrichtungen oder Institutionen in der Bundesrepublik bloßstellen oder attackieren wollen, liefern wir gern, so vorhanden, gewisse Unterlagen. Solches »Enthüllungsmaterial« ist besonders gefragt, weshalb einige, die durchaus wissen, aus welchen Arsenalen ihre Munition stammt, regelmäßig bei uns anklopfen.
So beeinflussen wir innenpolitische Diskussionen in der BRD, die wiederum Konsequenzen für die Politik der Bundesrepublik nach innen wie außen zeitigen. Die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS der DDR nimmt also intelligent Einfluss auf die Politik im Westen. Indirekt, aber durchaus spürbar. Wir betrachten das keineswegs als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates. Trotz Betonung der Eigenständigkeit der DDR gehen wir unverändert davon aus, dass die deutsche Zweistaatlichkeit nur ein historischer Übergang ist. Die deutsche Nation besteht fort, auch wenn die westdeutschen Separatisten, im Bunde mit den Westalliierten nach dem Kriege das Land geteilt und den Kapitalismus restauriert haben. Die Gründung der DDR war lediglich ein Reflex auf die Spaltung, bei uns entsteht die gesellschaftliche Alternative zu jenem System, aus dem der Faschismus kroch und in modifizierter Form jederzeit wieder entstehen kann. Deshalb verstehen wir uns als eine Art Brückenkopf des Fortschritts in Deutschland, als Zentrum der Revolution auf deutschem Boden. Wir sind der bessere, der progressive Teil, von dem aus das Land eines Tages wieder vereint und der Kapitalismus überwunden werden wird. Alles, was diesem strategischen Ziel nützt, ist darum gerechtfertigt. Vordringlich dabei bleibt natürlich die Sicherung des Friedens. Durch Deutschland läuft schließlich die Front des Kalten Krieges, NATO und Warschauer Vertrag schauen sich hier gegenseitig in die Gewehrläufe. Die beiden deutschen Staaten gelten als militärische und nachrichtendienstliche Bollwerke der beiden Pakte und werden von der jeweiligen Führungsmacht auch so behandelt .
Ich lege den Notizblock wieder zurück in meinen Schreibtisch. Es hinterlässt keinen guten Eindruck, wenn man sich bei einer Dienstbesprechung Aufzeichnungen macht. Wir sind ein Geheimdienst, auch wenn wir uns nicht so bezeichnen, offiziell sind wir »Schild und Schwert der Partei«. Wir wirken konspirativ, die Öffentlichkeitsarbeit ist so gut wie abgeschafft. Außerdem bin ich erst Ende dreißig, da arbeitet der Kopf noch exzellent. Mein Gedächtnis gleicht ohnehin dem eines Elefanten. Noch einmal ein kontrollierender Blick auf die Schreibtischplatte. Es liegt nichts mehr dort, was ich wegschließen müsste. Die Schubfächer sind versperrt, der Stahlschrank mit den Unterlagen auch. Alles o.B.
Bei Rolf Wagenbreth, Abteilungsleiter seit Gründung der X, sitzt bereits Rolf Rabe. Er ist Wagenbreths Stellvertreter und mein Referatsleiter. Der aus Frankfurt/Oder in die Berliner Zentrale gerufene Wagenbreth hat das zu Beginn der 60er Jahre initiierte Sonderreferat VII/F »Auswertung und Information« aufgebaut und geleitet. Daraus entstand vor einiger Zeit die Abteilung X. Hier arbeiten drei, vier Dutzend Leute von der Abwehr, Journalisten, Historiker und andere Fachleute, die aus der ganzen Republik zusammengeholt worden sind. Im Referat 1 beschäftigen sie sich mit der NATO und der »Dritten Welt«, im Referat 2 mit dem Innenleben der Bundesrepublik. Die Referate 3 und 4 sind im Westen operativ tätig. Referat 5 hat die Zentralen der gegnerischen Geheimdienste im Visier, und das Referat 6 sorgt für den personellen Nachwuchs.
Unsere Abteilung X ist ein Instrument der psychologischen Kriegsführung. Und deshalb noch geheimer als geheim. Nur im neunten Stock des HV A-Blocks - der Chefetage der Aufklärung - hat man von unserer Existenz Kenntnis. Im ganzen Haus und für alle Mitarbeiter des MfS gilt: Jeder darf nur so viel wissen, wie er zur Durchführung seiner Aufgabe wissen muss. Oder wie der Volksmund sagt: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Selbst wenn zwei in einem Zimmer arbeiten, weiß der eine vom anderen nicht, womit er sich beschäftigt. Die Informationen verlaufen vertikal, nicht horizontal. Und irgendwo oben fließen sie zusammen, um dann - entsprechend gefiltert und dosiert - wieder nach unten gegeben zu werden. Das geschieht auch aus Gründen des Selbstschutzes: Sollte mal doch einer zum Verräter werden, kann er nicht viel mitteilen. Zumindest wenn er lediglich im unteren oder mittleren Teil der Hierarchie eingebunden war .
Die beiden nicken nur, als ich mich wie befohlen zur Stelle melde. Wagenbreth, nur wenig älter als ich, neigt seinen Kopf stumm in Richtung eines leeren Stuhls, was als Aufforderung zu verstehen ist, mich dorthin zu setzen. Ihre Gesichter blicken ernst drein. Das überrascht mich nicht: Im Dienst habe ich die beiden noch nie heiter erlebt. Selbst ihre Gesichter sind Verschlusssachen. Vom Wesen her aber ist Wagenbreth ein Bruder Leichtfuß, bierernst nimmt er die Sachen selten, mit denen er sich beschäftigt.
»Die Kacke ist mal wieder am Dampfen«, beginnt Wagenbreth und fragt, ob wir schon Nachrichten gehört hätten.
»Welche?«, erkundigt sich Rabe und erntet einen missbilligenden Blick seines Vorgesetzten.
»Natürlich die vom Klassenfeind«, sagt Wagenbreth. Die Unionsfraktion plane, Brandt wegzuputschen. Mit einem sogenannten konstruktiven Misstrauensvotum. Der Bundeskanzler müsse sich zur Wahl im Bundestag stellen, und falls er nicht die Mehrheit bekommen sollte, wäre er sein Amt los und der Oppositionsführer Barzel würde Kanzler werden.
»Das wäre in der Tat Scheiße«, sagt Rolf Rabe. Auch er hat inzwischen begriffen, dass ein sozialdemokratischer Kanzler für die DDR besser ist als einer von den Konservativen mit Nazi-Vergangenheit. Das war selbst im Politbüro anfänglich nicht klar, als Willy Brandt 1969 mit Hilfe der FDP Bundeskanzler geworden war. Am Wesen des westdeutschen Staates - man sprach unverändert bewusst von Westdeutschland und nicht von der Bundesrepublik Deutschland, selbst in den Schulatlanten stand auf der Deutschlandkarte: Deutsche Demokratische Republik und Westdeutschland - würde sich dadurch nichts ändern. Westdeutschland bliebe auch nach dem Regierungswechsel ein imperialistischer Staat und ein wichtiger Partner der USA, die in Vietnam Krieg führten, kurzum: eine der wichtigsten Stützen der aggressiven NATO in Europa. Aber, so hatte Staats- und Parteichef Walter Ulbricht deutlich gemacht: Zum ersten Mal stünde ein ehemaliger aktiver Antifaschist an der Spitze der Bonner Regierung, kein Alt-Nazi wie sein Vorgänger Kurt Georg Kiesinger.
Als jener von Beate Klarsfeld wegen seiner braunen Vergangenheit demonstrativ geohrfeigt worden war, hatte man in der Abteilung X Beifall geklatscht. Seit Jahren halten wir über Dr. Ludwig Nestler, einem Historiker, der als Offizier im besonderen Einsatz für uns arbeitet, Verbindung zu der französischen Nazi-Jägerin und ihrem Mann Serge. Wir liefern ihnen Unterlagen und Informationen über belastetes Personal in der westdeutschen Führung. Dass sie allerdings dem einstigen NSDAP-Mitglied und...
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