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Kapitel 1
Das Asylrecht, wie es im deutschen Grundgesetzartikel 16a, in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und in den darauf aufbauenden Regelungen in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im EU-Recht festgelegt ist, beruht auf dem humanitären Grundprinzip, dass Menschen, die politisch verfolgt werden oder die aus anderen Gründen um ihr Leben oder ihre Freiheit fürchten müssen, ein Recht auf Schutz haben. Situationen wie in den 1930er-Jahren, als nur ein Teil der deutschen Juden, die vor Verfolgung durch das Naziregime Schutz suchten, von Nachbarländern wie der Schweiz oder den Niederlanden aufgenommen wurden, während anderen der Zugang verweigert wurde, dürfen sich nicht wiederholen. Niemand, der ein Mindestmaß an menschlichem Mitgefühl besitzt, würde bestreiten, dass wir ein Asylrecht brauchen, das eine Wiederholung des schrecklichen, für viele tödlichen Unrechts ausschließt, das jüdischen Flüchtlingen in den 1930er-Jahren angetan wurde.
Leider erfüllt das geltende europäische Asylrecht diesen moralischen Anspruch nicht einmal annähernd. Es lässt viele Schutzbedürftige völlig im Stich und zwingt sie, einen lebensgefährlichen Weg auf sich zu nehmen, um Europa zu erreichen. Zugleich bietet es - wenn nicht rechtlich, dann doch faktisch - Menschen ein Bleiberecht, die unseren Schutz weniger oder gar nicht benötigen, und es sind oft gerade diese Gruppen von Asylsuchenden, die für die erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verantwortlich sind, die ich in den Kapiteln 4 und 5 dokumentieren werde. Das moralische Grundprinzip des geltenden Asylrechts ist, dass Menschen, deren Leben und Freiheit in Gefahr sind, geholfen werden muss. Die Praxis ist aber viel banaler. Jeder, der es schafft, eine europäische Grenze zu erreichen, kann den Schutz des Asylrechts beanspruchen, und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich zwingende Schutzgründe vorliegen. Selbst wenn das Asylgesuch nach sorgfältiger und oft langwieriger Prüfung abgelehnt wird, kann fast jeder trotzdem bleiben, weil die Abschiebung in die Herkunftsländer nur in wenigen Fällen durchsetzbar ist oder weil das Herkunftsland wegen fehlender Dokumente nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. Zugleich bleiben sehr viele Flüchtlinge, die dringend unsere Hilfe brauchen würden, außen vor, weil ihnen die körperlichen oder finanziellen Voraussetzungen für die schwierige Reise bis zur EU-Grenze fehlen oder weil sie aus Ländern stammen, von denen aus es für sie überhaupt keinen gangbaren Weg nach Europa gibt.
Die Realität des europäischen Asylsystems sieht daher so aus: Wir helfen allen, die es über die europäischen Grenzen schaffen, ganz unabhängig davon, ob sie triftige Asylgründe haben oder nicht; und wir helfen niemandem, der es nicht schafft, Europa zu erreichen, und auch das ganz unabhängig davon, ob er Schutz benötigt oder nicht. Das europäische Asylsystem gleicht einer Lotterie um Leben und Tod, um Freiheit und Unterdrückung - einer Lotterie freilich, bei der die Gewinnchancen ungleich verteilt sind. Klar im Vorteil ist, wer jung, männlich und gesund ist, über ausreichende finanzielle Mittel verfügt und sich in erreichbarer Nähe Europas befindet. De facto entscheidet nicht das Asylrecht über Aufnahme oder Zurückweisung, sondern die Schlepper. Es gibt nur wenige Ausnahmen, denn die Zahl der abgelehnten Asylsuchenden, die tatsächlich abgeschoben werden oder freiwillig in ihre Heimat zurückkehren, sowie andererseits die Zahl der Flüchtlinge, die über Resettlement-Programme und Kontingente aufgenommen werden, ohne zuerst den gefährlichen Weg nach Europa gehen zu müssen, sind sehr gering.
Die Tatsache, dass de facto das Erreichen der EU-Grenze entscheidend ist, hat eine Reihe von weiteren unerwünschten Folgen, die das geltende Asylrecht auch aus der Perspektive der innen- und außenpolitischen Interessen der aufnehmenden Gesellschaften dysfunktional machen. Weil die europäischen Länder - anders als zum Beispiel Kanada, die Vereinigten Staaten, Australien und zum Teil auch Großbritannien - keine proaktive, planmäßige Flüchtlingspolitik betreiben, ist die Asylpolitik in Europa immer ein Spielball internationaler Ereignisse, die dazu führen, dass manchmal kaum jemand Europa erreicht, und zeitweise die Zahl der Flüchtlinge, die Europa erreichen, dramatisch zunimmt. Hohe Flüchtlingszahlen in relativ kurzen Zeiträumen führen regelmäßig zu Überbelastungen der Aufnahmekapazitäten der Zielländer, zu Asylverfahren, die sich stauen und in die Länge ziehen, und zu einer Überstrapazierung der Integrationsfähigkeit des Arbeitsmarktes, des (Aus-)Bildungssystems und des Wohnungsmarktes (siehe Kapitel 3). Die Tatsache, dass Migrationsmotive und Schutzbedürftigkeit, ja sogar die Feststellung der Identität und des Herkunftslandes für Bleibemöglichkeiten in Europa weitgehend unerheblich sind, führt außerdem zu beträchtlichen Sicherheitsproblemen in den Bereichen Terrorismus (Kapitel 4) sowie Gewalt- und Sexualkriminalität (Kapitel 5). Außerdem öffnet die Logik des europäischen Asylsystems Erpressungsversuchen durch Populisten und Autokraten jedweder Couleur innerhalb und außerhalb der EU Tür und Tor. Die Belastung des europäischen Asylsystems hängt ja nicht von der Zahl der Schutzbedürftigen ab, sondern von der Zahl der Personen, die eine bestimmte Grenze erreichen, und diese Zahl kann leicht von Politikern wie Erdogan, Tsipras, Lukaschenko oder Putin manipuliert werden, um Druck auf die EU oder auf bestimmte Mitgliedstaaten auszuüben.
Die ungewollten und den moralischen Ansprüchen des europäischen Asylsystems oft zuwiderlaufenden Folgen der aktuellen Praxis lassen sich in zehn Punkten darstellen. Die ersten vier betreffen die negativen Konsequenzen für Schutzbedürftige selbst, einer bezieht sich auf die Erstaufnahmeländer, drei auf die Interessen der aufnehmenden Gesellschaften und die letzten zwei auf die europa- und geopolitischen Konsequenzen des herrschenden Asylsystems.
Die schlimmste Nebenwirkung des europäischen Asylsystems ist die Tatsache, dass es mehr Menschen in den Tod treibt, als es Leben rettet. Auf der einen Seite hat Europa durch die Visumspflicht für fast alle Herkunftsländer von Asylsuchenden und deren strikte Handhabung - Fluggesellschaften, die Passagiere ohne gültiges Visum befördern, drohen hohe Geldbußen - sehr hohe Hürden für die legale Einreise geschaffen. Auf der anderen Seite erhält durch das herrschende Flüchtlingsregime jeder, der es trotzdem schafft, eine EU-Grenze zu erreichen, und der das Wort «Asyl» ausspricht, Zugang zu Europa und de facto meist auch ein Bleiberecht. In der Folge sind viele Menschen bereit, große Risiken auf sich zu nehmen und viel Geld an Schlepper zu zahlen, um ihren Traum von einem besseren Leben in Europa zu verwirklichen.
Nur wenige von ihnen sind politisch Verfolgte im klassischen Sinne, viele fliehen vor Bürgerkriegen oder Kriegsdienst, aber viele - wie die meisten Migranten aus westafrikanischen Ländern - sind auch Wirtschaftsmigranten, die ihre Chancen auf Arbeit und Wohlfahrt in Europa oft unrealistisch einschätzen. Da Europa von den Armuts- und Krisenregionen Afrikas und des Nahen Ostens fast ausschließlich über das Mittelmeer erreichbar ist, müssen sie eine riskante Seereise auf sich nehmen, die laut Angaben des UNHCR - des «United Nations High Commissioner for Refugees», also des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen - zwischen 2014 und 2021 über 22.000 Menschen das Leben gekostet hat.[1]
Wie Grafik 1.1 zeigt, ist von den drei Hauptrouten über das Mittelmeer die zentrale Route, die von Nordafrika nach Italien führt, bei Weitem die gefährlichste. Fast 18.000 Menschen ertranken hier bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Auf der westlichen Route nach Spanien verloren gut 2400 Menschen ihr Leben, wobei diese Zahl erheblich zu niedrig geschätzt sein dürfte, da darin die Todesfälle auf der gefährlichen Route von Westafrika zu den Kanarischen Inseln nicht enthalten sind. Laut der «International Organization for Migration» (IOM) starben seit 2014 auf dieser Seeroute 2800 weitere Migranten.[2] Etwa 2100 Menschen verloren schließlich bei der Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln ihr Leben, unter ihnen der dreijährige Alan Kurdi. Ein bestürzendes Foto von der Leiche des kleinen syrisch-kurdischen Jungen, die an einen türkischen Strand gespült wurde, ging Anfang September 2015 um die Welt. Bei einer Gesamtzahl ...
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