Schweitzer Fachinformationen
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1.
Mit Eulenaugen und zu Tode erschrocken saß Warren Snyder auf einem Sessel in seinem Wohnzimmer. Seine Haltung war steif, sein Rücken kerzengerade, und seine Hände lagen mit den Handflächen nach oben auf seinem Schoß. Ab und zu zitterte seine rechte Hand. Sein Mund war einen Spalt geöffnet, seine Kinnlade leicht herabgesackt, und seine Unterlippe bebte beinah unablässig.
An seiner linken Schläfe schimmerte eine silberne Perle. Sie war so abgerundet und so blank poliert wie der Kopf eines dekorativen Polsternagels und sah aus wie ein Ohrring am falschen Fleck.
In Wirklichkeit war das Kügelchen mit Elektronik vollgepackt, mit Nanoschaltkreisen, und hatte insofern etwas vom Kopf eines Nagels, als es sich um den sichtbaren Teil einer nadeldünnen Sonde handelte, die durch ein pistolenähnliches Gerät in sein Gehirn geschossen worden war. Die sofortige chemische Verätzung von Fleisch und Knochen hatte jegliche Blutung verhindert.
Warren sagte nichts. Ihm war befohlen worden, still zu sein, und er hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam verloren. Bis auf seine zuckenden Finger und das Beben, beides unfreiwillig, rührte er sich nicht, noch nicht einmal, um seine Haltung zu verändern, da ihm gesagt worden war, er solle stillsitzen.
Sein Blick wanderte zwischen zweierlei Sehenswertem hin und her: seinen Ehefrauen.
Mit einer silbernen Perle an der linken Schläfe und den glasigen Augen eines dieser ausgebrannten Amphetamin-Junkies hockte Judy Snyder auf dem Sofa, die Knie geschlossen, die Hände friedlich auf dem Schoß gefaltet. Sie zuckte und zitterte nicht so wie ihr Mann. Sie schien furchtlos zu sein, was vielleicht daran lag, dass die Sonde ihr Gehirn auf unbeabsichtigte Weise beschädigt hatte.
Die andere Judy stand an einem der Wohnzimmerfenster zur Straße, blickte in die verschneite Nacht hinaus und musterte zwischendurch verächtlich ihre zwei Gefangenen. Sie gehörten zur Gattung der Plünderer der Erde. Bald würden die beiden fortgeführt werden wie zwei Schafe, zur Gestaltung und Weiterverarbeitung. Und eines Tages, wenn die letzten Menschen ausgerottet waren, würde die Welt wieder so paradiesisch sein wie einst oder wie es jemals denkbar sein könnte.
Diese Judy war kein Klon derjenigen, die auf dem Sofa saß, nichts so Widerwärtiges wie eine bloße Maschine aus Fleisch, denn mehr als das waren die Menschen nicht. Sie war dazu entworfen worden, als die echte Judy durchzugehen, doch diese Illusion würde nicht standhalten, falls ihre innere Struktur und die Beschaffenheit ihres Fleischs von Ärzten untersucht werden sollte. Sie war innerhalb weniger Monate im Bienenstock tief unter der Erde erschaffen, programmiert und als Erwachsene ausgeworfen - »geboren« - worden, ohne andere Glaubenssätze als ihr Programm, ohne die Illusion, sie besäße einen freien Willen, ohne jegliche Verpflichtung gegenüber irgendeiner anderen höheren Macht als Victor Leben, ihrem Schöpfer, dessen wahrer Nachname Frankenstein war, und ohne ein Leben nach diesem hier, dem all ihr Trachten zu gelten hatte.
Durch den Spalt zwischen den Vorhängen beobachtete sie, wie ein hochgewachsener Mann die schneebedeckte Straße überquerte, die Hände in den Manteltaschen und das Gesicht dem Himmel zugewandt, als begeisterte er sich für das Wetter. Während er sich dem Haus auf dem Gehweg näherte, ließ er zum Spaß mit spielerischen Tritten Schnee aufwirbeln. Judy konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie nahm an, er müsse Andrew Snyder sein, der neunzehnjährige Sohn der Familie. Seine Eltern erwarteten etwa um diese Zeit seine Rückkehr von der Arbeit.
Sie ließ den Vorhang sinken und trat aus dem Wohnzimmer in die Diele. Als sie Andrews Schritte auf der Veranda hörte, öffnete sie die Tür.
»Andy«, sagte sie, »ich habe mir ja solche Sorgen gemacht.«
Andrew zog seine Stiefel aus, um sie auf der Veranda stehen zu lassen, und schüttelte lächelnd den Kopf. »Du machst dir zu viele Sorgen, Mom. Ich habe mich noch nicht einmal verspätet.«
»Nein, du bist nicht spät dran, aber heute Abend sind in der Stadt furchtbare Dinge geschehen.«
»Furchtbare Dinge? Was soll das heißen?«
Als Andrew auf Strümpfen in die Diele trat, schloss die Replikantin von Judy die Tür, drehte sich zu ihm um und begann seinen warmen Marinemantel aufzuknöpfen. Um, so gut sie konnte, mütterliche Sorge vorzutäuschen, sagte sie: »Du holst dir noch den Tod bei diesem Wetter.«
Er nahm den Schal ab und fragte noch einmal: »Was für furchtbare Dinge?« Verwirrt und ärgerlich zog er die Stirn in Falten, als sei es total untypisch für sie, sich solche Umstände mit seinem Mantel zu machen.
Während sie die Knöpfe öffnete, manövrierte sie ihn geschickt in eine Position, von der aus er die Tür zum Arbeitszimmer nicht einmal aus dem Augenwinkel sehen konnte.
»All diese Morde«, sagte sie. »Es ist grauenhaft.«
Andrew wandte ihr seine Aufmerksamkeit in einem höheren Maß als bisher zu und sagte: »Morde? Was soll das heißen?«
Während er diese Frage stellte, glitt sein Replikant lautlos aus dem Arbeitszimmer, kam direkt auf ihn zu und betätigte, sobald er die Mündung an Andrews linke Schläfe gepresst hatte, den Abzug seiner Pistole, die eine Gehirnsonde abfeuerte.
Die Züge des jungen Mannes verzerrten sich vor Schmerz, aber nur einen Moment lang. Dann wurden seine Augen vor Entsetzen groß, obwohl sich sein Gesicht gleichzeitig entspannte und einen Ausdruck annahm, in dem man kaum mehr lesen konnte als im Gesicht von jemandem, der im Koma liegt.
»Komm mit mir«, sagte Andrews Replikant und führte seinen Namensvetter ins Wohnzimmer. »Setz dich aufs Sofa.«
Eine silberne Perle schimmerte an seiner Schläfe wie ein Tropfen Quecksilber, als Andrew Snyder tat, was ihm gesagt wurde.
Hätte Andrews Replikant beschlossen, dem echten Andrew gegenüber Platz zu nehmen und den Abzug noch einmal zu betätigen, hätte die Pistole keine zweite Gehirnsonde abgeschossen, die seinen Schädel durchbohrt hätte. Der zweite Schuss wäre ein telemetrischer Befehl gewesen, der die Übertragung von der in der Gehirnmasse eingebetteten Nadel zu einem Datenspeichermodul im anorganischen Gehirn des Replikanten in Gang gesetzt hätte. Binnen neunzig Minuten, wenn nicht weniger, wäre dann ein Datentransfer der wesentlichen Erfahrungen im Leben des jungen Mannes - angeeignetes Wissen, Erinnerungen, Gesichter, Ströme von Bildern und Geräuschen - an seinen Doppelgänger erfolgt.
Der Replikant brauchte jedoch nur äußerlich als Andrew Snyder durchzugehen. Alles, was darüber hinausging, war überflüssig, denn bis zum übernächsten Abend um diese Uhrzeit würden sämtliche Einwohner von Rainbow Falls bereits getötet, gestaltet und weiterverarbeitet worden sein. Niemand, der den echten Andrew gekannt hatte, würde am Leben bleiben und von seinem im Labor gezüchteten Doppelgänger getäuscht werden müssen.
Unter diesen Umständen wären neunzig Minuten für den Download von Erinnerungen Zeitvergeudung gewesen. Replikanten verabscheuten Vergeudung und Ablenkung. Konzentration und Effizienz waren wichtige Prinzipien. Die einzige Moral war die Effizienz, die einzige Unmoral die Ineffizienz.
Die Gemeinschaft - so nannten Geschöpfe, die im Bienenstock entstanden waren, sich in ihrer Gesamtheit - würde bald einen geheimen Stützpunkt besitzen, von dem aus sie sich erbarmungslos erst über den Kontinent und dann rasch über die ganze Welt ausbreiten würde. Kommunitaristen waren die Verkörperung des Fortschritts. Sie standen für das Ende der Geschichte, das Ende des widerlichen Durcheinanders menschlicher Wahnvorstellungen und zufälliger Geschehnisse, und für den Beginn einer geplanten Zukunft, die nach einem präzisen Zeitplan eines Tages zur absoluten Perfektion aller Dinge führen würde.
Der Kommunitarist Andrew Snyder, der bereits die dem Winterabend angemessene Kleidung trug, verließ das Wohnzimmer, um sich dem Kommunitaristen Warren Snyder anzuschließen, der ihn in der Garage erwartete und schon in dem bereitstehenden Ford Explorer saß. Der echte Warren, der gelähmt auf dem Sessel im Wohnzimmer zurückblieb, war Hauptgeschäftsführer von KBOW, dem einzigen Rundfunksender der Stadt.
In einem frühen Stadium jeder gewaltsamen Revolution mussten diejenigen, die die herrschende Ordnung stürzen wollten, die Kontrolle über sämtliche Informationsvermittlungssysteme an sich bringen, um dem Feind eine Infrastruktur zu nehmen, die den Widerstand erleichtern könnte. Jeder, der Spätschicht beim Sender hatte, musste unter Kontrolle gebracht und dann in eines der Zentren transportiert werden, in denen die Leute von Rainbow Falls energisch weiterverarbeitet wurden.
Die Replikantin Judy blieb mit der Judy, die sie ersetzt hatte, und mit den beiden Männern zurück, die fügsam im Wohnzimmer saßen. Ihr Auftrag bestand darin, hier zu warten, bis ein Transportfahrzeug eintraf, um die drei mit den durchstochenen Gehirnen abzuholen und sie an den Ort ihrer Vernichtung zu befördern.
Selbst wenn die Angehörigen der Familie Snyder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen wären, wären sie kein akzeptabler Umgang gewesen....
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