Die ersten Jahre
Mittwoch, 29. Juni 1932
Breda, Sankt Ignatiuskrankenhaus
An Paps' Hand steht Leny neben dem Krankenbett.
"Jetzt hast du eine Schwester. Eine richtige, kleine Schwester", sagt Silvain stolz. "Sie heißt Caroline Emilie."
Er hebt Leny hoch und setzt sie vorsichtig am Fußende auf die Bettdecke. Leny betrachtet nachdenklich das Baby, das, fest in eine flauschige, weiße Decke eingewickelt, in Mams' Armen liegt.
Sie hat es kaum erwarten können, endlich eine große Schwester zu werden. Ganz zappelig vor Aufregung ist sie mit Paps ins Krankenhaus spaziert. Kein einziges Mal hat sie gebettelt, getragen zu werden, weil sie weiß, dass große Schwestern flink und tüchtig beim Marschieren sind.
Aber nun macht das Baby die Augen nicht auf, um sie zu begrüßen, und hübsch ist es auch nicht, mit dem roten Gesicht.
Leny runzelt die Stirn. Eigentlich möchte sie Mams ganz fest küssen und mit ihr kuscheln.
Nur geht das leider nicht, weil das neue Kind im Weg ist. Und drüberklettern, um näher zu Mams zu gelangen, darf sie bestimmt nicht. Auf einmal ist es gar nicht mehr so schön, eine große Schwester zu sein!
Ihre Unterlippe zittert. Mams merkt es.
"Was ist denn, Kätzchen?", fragt sie behutsam.
"Darfst du das Baby auch ein bisschen weglegen?", flüstert Leny kleinlaut.
Ende September 1932
Breda
In der Veemarktstraat bleibt Silvain wie zufällig vor der Musikalienhandlung Bender stehen. Das macht er oft. Andere verweilen vor den Auslagen von Möbelgeschäften, Zuckerbäckern oder Fotografen. Für ihn jedoch sind die Regale mit den Noten und die polierten Pianos so unwiderstehlich wie eine Stange Wurst für einen Hund. Herr de Groot, der Filialleiter, ändert wöchentlich das Schaufenster, sodass es jedes Mal etwas anderes zu betrachten gibt. Aber heute wird Silvain nicht hier draußen stehen bleiben.
Schon als Kind hat sich sein musikalisches Talent gezeigt und sein Vater hat ihn deshalb zu Fräulein Emilie Foyer in die Klavierstunde geschickt. Als sie ihm, dem Zehnjährigen, bei den Fingerübungen streng den Takt auf den Klavierdeckel klopfte, hätte er nie geglaubt, dass er eines Tages ihre Nichte Rosa heiraten würde. Er lächelt, als er daran denken muss, wie sie ihm später bei jedem seiner Besuche in Maastricht vorgeschwärmt hat, wie tüchtig Rosa wäre und was für eine fantastische Arbeit sie dort im fernen Java leistete. Und als Rosa schließlich auf Heimaturlaub im Elternhaus verweilte, hatte Fräulein Foyer darauf bestanden, dass Silvain zum Kaffee eingeladen wurde.
Und so war aus dem Junggesellen doch noch ein Familienvater geworden. Als Zehnjähriger hatte er allerdings ganz andere Zukunftspläne gehabt. Pianist und Organist wollte er damals werden. Vor allem Organist. Das mächtige Instrument mit den Hunderten Pfeifen hatte ihn so in den Bann gezogen, dass er wochenlang gebettelt hatte, es erlernen zu dürfen. Schließlich hatte sein Vater nachgegeben und auch den Orgelunterricht bezahlt. Erst, als Silvain nach der Handelsschule keine Arbeit fand, begannen die Auseinandersetzungen zwischen ihnen.
"Stundenlanges Klavierspielen, davon wird niemand satt", schimpfte Meyer Goldstein. "Such dir endlich eine vernünftige Arbeit. Willst du als Bettelmusikant durch die Straßen ziehen? Oder glaubst du etwa, als gefeierter Konzertpianist deinen Lebensunterhalt verdienen zu können?"
Auch heute noch kann Silvain den spottenden Tonfall hören.
Vergeblich hatte er versucht, seinen Traum durchzusetzen.
"Carla durfte auf das Konservatorium. Warum ich nicht?", hatte er seinem Vater mehrmals an den Kopf geworfen. Aber Meyer Goldstein hatte über solcherart Flausen nur lachen können. Musik war eine schöne Liebhaberei, etwas für die Freizeit im Leben eines Mannes. Er selbst war seit Jahren ein angesehenes Mitglied im Maastrichter Männerchor.
"Deine Schwester singt außerordentlich gut, damit kannst du dich nicht vergleichen, und wenn sie vor der Ehe ein paar Jahre lang dieses Talent bei Konzertabenden und kleinen Opernaufführungen entfalten kann, ist das ein Gewinn. Aber glaubst du, ich würde je zulassen, dass sie ihren Unterhalt davon bestreiten müsste? Nein, ich sorge dafür, dass sie sich zur rechten Zeit mit dem Richtigen verbindet."
Der Richtige war Frans de Vries gewesen, stark, athletisch, vierfacher holländischer Meister im Boxkampf und bald über beide Ohren in Carla verliebt. Bei einem Gesellschaftsabend im Hotel Momus hatten sie sich das erste Mal gesehen.
"Sie singt bezaubernd, wie eine Göttin. Wenn ich sie höre, vergesse ich alles um mich herum. Ein Talent, das nur wenige besitzen. Die Welt sollte ihr zu Füßen liegen", hat Frans Silvain gegenüber einige Wochen später geschwärmt.
Aber nach der Verlobung war es ihm nicht recht, dass Carla weiterhin vor Publikum auftrat.
"Wenn du für mich singst, ist es genug", entschied Frans, und Carla fügte sich. Sie hängte ihre Abendkleider und Stolen in den Schrank, band sich die Schürze um und sang von diesem Zeitpunkt an in der Küche ihre Arien und Lieder.
Frans war zufrieden, und Meyer umso mehr, denn sein tüchtiger Schwiegersohn hatte auch für seine beiden Söhne, Silvain und Jacques, Arbeitsstellen als Vertreter gefunden. Und statt die Finger über die Klaviertasten gleiten zu lassen, musste Silvain mit dem Auto quer durch das Land fahren, um Leinen und andere Stoffe zu verkaufen. Die einzige Musik, die nun zählte, war das Klirren der Münzen in der Kasse.
Nur hie und da konnte er, wenn er nach Maastricht musste, auch bei Fräulein Foyer vorbeischauen und auf ihrem Klavier spielen, oder sich den Schüssel für die Kirchenorgel organisieren. Ein paar heimliche Stunden, in denen er seinen alten Traum ein wenig zum Leben erweckte.
Aber ab heute soll sich das ändern. Er hat endlich genug gespart, und Rosa ist einverstanden.
Er öffnet die Tür. Das Glockenspiel schellt. Von hinten, aus dem Büro, tritt ein Mann, klein gewachsen und mit einem freundlichen Lächeln. Er hinkt leicht.
"Guten Nachmittag. De Groot, was kann ich für Sie tun?"
Silvain lüftet seinen Hut.
"Goldstein. Ich würde gerne ein Pianino kaufen", sagt er schlicht, als ob er so eine Anschaffung täglich machte. Dabei hat er den Satz mehrmals heute Vormittag beim Rasieren vor dem Spiegel geprobt und jedes Mal die Vorfreude genossen, die er dabei spürte.
Sie gehen von Pianino zu Pianino. Vier Stück stehen im Geschäft. Hübsche, ordentliche Instrumente mit festem Klang, und doch . Silvain kann es nicht benennen. Etwas fehlt bei jedem.
"Ich hätte da noch drei weitere im neuen Magazin gleich gegenüber", schlägt Herr de Groot vor. "Wenn Sie Zeit haben?"
Gemeinsam queren sie die Gasse. Herr de Groot sperrt ein Tor auf. Dahinter liegt ein großer Garten. Eine Frau sitzt mit einer Decke im Liegestuhl vor einem Maulbeerbaum und liest ein Buch. Daneben spielt ein kleines Mädchen eifrig in einer Sandkiste und singt dabei selbstvergessen ein Lied.
"Wie Leny", denkt Silvain und nickt der fremden Dame und dem Mädchen freundlich zu.
"Meine Gattin Marie und mein Töchterchen Lidy", sagt Herr de Groot und geht zu einem festen Holzschuppen, der an die Gartenmauer angebaut wurde.
Er sperrt die Tür auf und lässt den Kunden eintreten. Drinnen ist der Holzboden frisch gewachst. Die Wände sind in einem kräftigen Grün tapeziert, mit einem hellgrünen Abschlussrand. Auch die zwei Holzsäulen, die die Decke in der Mitte stützen, sind hellgrün. An der Wand entlang stehen Pianinos. Herr de Groot geht auf sie zu, aber Silvains Blick bleibt an einem Flügel aus schwarzem Holz hängen, der den Raum zwischen den beiden Säulen ausfüllt.
Er kann sich keinen Flügel leisten. Außerdem fehlt ihnen in der Wohnung der Platz für so ein Instrument. Dennoch sitzt er wenig später davor, schlägt den Deckel zurück und spielt.
Die Akustik im Magazin lässt zu wünschen übrig, aber Silvain kann sich den Klang vorstellen, und er weiß, dass er genau danach gesucht hat.
Herr de Groot lässt ihn spielen. Erst als Silvain langsam den Deckel schließt, meint er: "Ein Pleyel, aus dem Jahr 1929. Nicht mehr ganz neu, aber von seinem Vorbesitzer sorgfältig gepflegt."
Silvain nickt. Er weiß, dass er eines der Pianinos kaufen sollte. Bestimmt wird er sich daran gewöhnen können.
Er hört wieder die Stimme seines Vaters: "Junge, es ist und bleibt eine Liebhaberei! Zuerst musst du deinen anderen Verpflichtungen nachkommen."
"Er ist natürlich teurer als ein Pianino, aber ich kann Ihnen einen günstigen Preis...