Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
"Stört's dich, wenn ich zumache?", fragte die zwanzigjährige, etwas dickliche junge Frau, nachdem sie ihre ausgerauchte Zigarette in den Innenhof des Altbaus geworfen hatte, und mit glasigen Augen dem zischelnden Verlöschen des Stummels in einer der Pfützen folgte.
"Pfui, dieser Regen, schon seit drei Tagen", sagte sie und wandte sich dabei wieder dem Brett zu, auf dem geschälte Kartoffeln im fleckigen Licht der Küche matt glänzten.
"Nein, nein", sagte Sebastian, geistesabwesend und in Gedanken an den seit gestern Abend erwarteten Anruf.
Sebastian Calan, Student der Philosophie, bewohnte mit zwei weiteren - er pflegte nicht "Mitbewohner", sondern nur das unverfänglichere Wort "Menschen" auf diese anzuwenden - Menschen also eine Wohnung eines alten Hauses im fünften Wiener Gemeindebezirk mit hohen Zimmerdecken und knarrenden Fußböden.
Betrat man die in vier einzelne Zimmer mit gemeinsamer Küche geteilte Wohnung, durchquerte man einen immer im Dunkeln liegenden Vorraum mit einem im Laufe der vielen Jahre schon schwarz gewordenen Parkettboden; linkerhand befand sich ein kleines Badezimmer; geradeaus gehend gelangte man in einen gemeinschaftlich genutzten Raum, in dessen einer Ecke ein Aquarium stand und an dessen Ende sich ein weiterer Flur in das mit vielen Teppichen ausgelegte Zimmer des anderen "Menschen" öffnete. Von der Diele kommend, gellte einem sogleich das Weiß der alten Kacheln der Küche entgegen, in deren einem Eck sich der Raum mit der Toilette befand, die einer der ehemaligen und schon längst ausgezogenen Bewohner mit alten Filmplakaten, Werbebändern und eigenen Zeichnungen beklebt hatte: ein winzig kleiner Raum, in welchem man stets das Gefühl hatte, als ob ein eiskalter Luftzug die entblößten Beine umwehte, in welchem sich länger als notwendig aufzuhalten jedoch um der vielen Bildchen willen nicht unbedingt unangenehm war, wie Sebastian schon oft festgestellt hatte.
So saß auch jetzt der dritte "Mensch", Bruno, ein vierzigjähriger und, wie auch die junge Frau, etwas dickerer Mann, auf ebenjenem Ort, wobei sein ausgestoßenes Gepfeife die Räume halb mit Lustigkeit, halb mit einer gekünstelten und darum, zumal für Sebastian, nicht unbedingt leicht erträglichen Unbefangenheit erfüllte. Das Mädchen, ähnlich unbedarft wie ihr älterer Mitbewohner und von weniger anspruchsvollem Gemüt, begann zu lächeln. Zwischen den beiden entspann sich ein sorgloses Geplänkel, das mit der knarrenden Wasserspülung, deren krachendes und schäumendes Kreischen die gesamte Wohnung auszufüllen schien, ein jähes Ende fand. Der Mann, der eine einer Tonsur ähnelnde Glatze hatte, strich sich, aus dem kleinen, kalten Raum tretend, mit selbstgefälliger Zufriedenheit über den Bauch und platzierte sich auf einer der Arbeitsflächen. Während er sich streckte, wippte er mit den Beinen hin und her, wobei er, nach einigem Gähnen und Knacken mit den wulstigen Fingern - Sebastian wunderte sich immer aufs Neue, dass aus diesem weichen Wulst sich ein derartiges Knacken überhaupt vernehmen ließ - sagte: "Mmhh, das riecht gut. Was wird das, wenn's fertig ist?"
"Ein ganz normaler Kartoffelauflauf", sagte Beate.
"Mmhh, ich mag Kartoffeln sehr", sagte Bruno.
Die beiden "Menschen" hatten, nachdem sie hier, einige Monate vor Sebastian, eingezogen waren, Gefallen gefunden an der Tatsache, dass die Initialen ihrer Namen sich deckten; dies in mundfertig-rascher Schalkhaftigkeit als Schicksal ausgelegt und beschlossen, dass, nach Aufnahme der vierten und letzten Mitbewohnerin, man in der Wohngemeinschaft ein Herz und eine Seele sein wolle; welches Vorhaben weniger durch die nach Sebastians Einzug an ihm spürbar werdende Abstandnahme von einer allzu raschen und voreiligen Berührung der Lebenskreise anderer Menschen vereitelt wurde, denn eher durch die gereizte Verschlossenheit der neuen Mitbewohnerin Carolina, die sich, außer abends, kaum je blicken ließ und sich auch sonst in einer schweigsamen Ummanteltheit gefiel, in der sie, wie Sebastian beobachten konnte, ihr vorgeblich durch die Männer verursachtes Leid ungestört bejammern konnte. Auch an diesem Septembervormittag saß sie in ihrem Zimmer und versteckte sich vor den anderen. Man wusste davon. Um aber etwas zu sagen, flüsterte Bruno mit ernstem Gesichtsausdruck und so, als ob er auf Grundlage dieses Wissens weitere Aussagen tätigen wollte: "Und die Caro, wo ist die?"
"Im Zimmer, natürlich."
"Ach so", war die Antwort des ältesten der Mitbewohner. Dann schwieg man wieder und die vorgebliche Wichtigkeit der Sache verebbte.
Sebastian hatte für Bruno weder eine Zuneigung, noch war ihm dieser Mensch sonderlich angenehm. An die unteren Küchenschränke gelehnt, glitt sein Blick an Brunos Gestalt ab und er fragte sich: 'Was ist eigentlich an diesem Menschen dran? Wie kann es sein, dass er schon vierzig Jahre alt ist, sich aber benimmt wie ein Zwanzigjähriger? Was hat er sein Lebtag lang eigentlich gemacht? Wozu auch muss er sich in seinem Aquarium seit Neuestem eine kleine Schildkröte halten?' - Und indem Sebastian zugleich an das kleine Tier und an den dicken Menschen dachte, der in wippender Selbstgefälligkeit vor ihm stand, empfand er so etwas wie Mitleid mit der Schildkröte, die in einförmiger Nichtigkeit ihre traurigen Runden im Aquarium drehte, ab und an ihr Köpflein aus dem Wasser streckend, angewiesen auf die Gutmütigkeit von Menschen wie Bruno oder Beate, die, wenn sie geruhten, es nicht zu vergessen, das Tier fütterten; wobei sie dies aber häufig zu tun vergaßen. Das bald in erstickender Größe wie aufplatzende und bald wie unverhältnismäßig aufgequollene Mitleid mit dem Tier verdichtete sich in einem prüfend-wägenden Blick auf Bruno, der wieder mit seinem Pfeifen begann und an das schmale und hohe Fenster getreten war, dann das Pfeifen unterbrach und sagte: "Pfoah, so ein Wetter. Ich mag das Wetter im September überhaupt nicht. Eigentlich mag ich nur den Sommer. Im Sommer geh ich ins Gänsehäufl, aber man kann ja auch auswärts schwimmen gehen, oder? Ich meine, was willst du im Winter eigentlich machen; kannst ja nur zu Hause sitzen und nichts tun, ich meine: Was willst du im Winter machen? Ich verstehe die Caro schon irgendwie. Die liest ja viel, oder? Aber ich hab gar keine Kraft zu lesen. Das Wetter schlägt mir einfach zu sehr aufs Gemüt ." Sebastian horchte auf: Hatte Bruno soeben das Wort "Gemüt" verwendet? Aber wie sollte man sich diesen, nun, zwar nicht Koloss, aber anständig beleibten Menschen beim Schwimmen vorstellen, und das auch noch gemütvoll .? ".und dann fühl ich mich einfach so müd beim Lesen. Ich bewundere das, keine Frage, das muss ich schon sagen, genau. Ich habe letztens ein Buch über die Aura des Menschen ausgelesen. Sehr interessant. Du musst die Aura von unten bis oben entoden oder so irgendwie heißt das: Ich glaube, da sagt man 'entoden'. Das heißt: du musst dich hinstellen und dann dich ganz auf die Mitte deines Körpers konzentrieren und dann musst du gut und langsam atmen. Das ist deshalb, damit du deine Aura reinigst. Dann fühlst du dich sauber und kannst dich ganz mit voller Energie den Sachen widmen, genau." Bruno hatte die Angewohnheit, am Ende seiner Ausführungen das Wörtchen "genau" zu verwenden, so als ob er jene Bestätigung, deren er auswärts nicht teilhaftig wurde, sich einfach selber gebe.
"Und, kommt die Lydia heut übrigens?", fragte Bruno, sich in einem jähen Ruck vom Fenster zu Sebastian wendend, der, noch am Faden wie tropfenweise sich formender Gedanken spinnend, nicht sofort zu antworten vermochte. Nach einigen Augenblicken erst nickte er. Dann, als sich Bruno erneut zum Fenster drehen wollte, um sein Selbstgespräch fortzusetzen, sagte Sebastian: "Ach so, nein, nein, sie kommt nicht. Ich fahre hin. Ich fahre zu ihr."
"Ach so, du fährst heute nach Blumau?", fragte Beate.
"Ja, ja", sagte Sebastian.
"Blumau ist übrigens ein schöner Ortsname, findest du nicht? Lass dir das auf der Zunge zergehen: Blum. Au. Die Au, wo die Blumen blühen, fast wie im Paradies, oder? Die Lydia hat dort ein Pferd stehen, oder?" Sebastian bejahte die Frage.
"Seit wann kennt ihr euch eigentlich?", fragte Bruno, wobei er aber, ohne die Antwort abzuwarten, fortsetzte: "Genau. Blum. Au. Finde ich schön, oder? Da gibt es ja das Sommertheater und die Steinerschule ist dort, oder? Ich war einmal dort, in der Gegend, Fliesen legen. Ja, das ist aber auch schon zwanzig Jahre her. Da hab ich noch Kraft in den Muskeln gehabt, echt wahr. Ordentliche Muskeln und sogar einen Waschbrettbauch hab ich gehabt." Beate wandte sich um: "Echt?", fragte sie, das "E" in die Länge ziehend.
"Pfoah, wenn ich noch Fotos hätte, könnt ich die euch zeigen. Anfang der Neunziger war das, genau. Da habe ich noch einen Waschbrettbauch gehabt. Aber, na ja, man kann ja nicht alles haben. Die Zeiten ändern sich eben, oder? Ich mein, so ist das halt, da kannst du nichts machen. Ich weiß nicht, was ich heute als Student tun würde, wenn ich kein Geld hätte. Damals ist es uns wirtschaftlich ja noch gut gegangen. Du hast dich wo hingestellt, hast gesagt: Hallo, da bin ich, nehmt mich und - zack, bum - da haben sie dich dann genommen. Und ich hab wirklich gut verdient, als Student. Ich mein, ich war ja auch fesch, ich mein, mit Verlaub, jetzt kann ich das sagen. Ich hätte mehr Freundinnen haben können. Ich sage: 'hätte'. Ich weiß wirklich nicht, was ich heute tun würde, um zu Geld zu kommen. Heute kannst du einfach nichts machen. Du bist heute einfach total hilflos, ich meine, die Wirtschaftskrise und das alles. Was kannst du schon machen? Du kannst Plasma spenden oder Schmuck stehlen, genau . und dann verkaufen, oder du kannst...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.