Europa und die Weltmächte sind in der Lage,
innerhalb kurzer Zeit ganze Armaden und
Armeen, ganze Geschwader und Luftflotten
aufzubauen, aber um einige Schiffe ins
Südchinesische Meer zu entsenden, um dort
dem Massensterben ein Ende zu bereiten -
dazu ist Europa nicht in der Lage.
(André Glucksmann im »L'Express«, Paris)
I.
Neunzehn Nächte und neunzehn Tage waren sie auf dem Meer. Jetzt, in der zwanzigsten Nacht, wussten sie: Wir müssen sterben.
Sie waren dreiundvierzig Menschen auf einem flachen, seeuntüchtigen, halb verrotteten hölzernen Flussboot; zwölf Kinder, vierzehn Frauen und siebzehn Männer. In die Bootsmitte hatten sie einen niedrigen Holzverschlag gebaut. Darin lagen die kleineren Kinder, die schwächeren Frauen und die hochschwangere Thi Trung Linh, deren Mann Cuong am Heck neben dem stummen Motor saß und in die tiefschwarze Nacht starrte.
Bis zu dieser Nacht hatten Lam Van Xuong und die anderen gehofft, von einem der vielen Handelsschiffe, die auf der Schiffahrtsroute Singapur-Hongkong hin- und herfuhren, entdeckt und an Bord genommen zu werden. Aber die Hoffnung, diese verzweifelte Hoffnung, in ein neues Leben flüchten zu können, hatte sich als ein Irrtum erwiesen. Zwar war die Wasserstraße nach Hongkong oder Singapur wirklich eine Straße, auf der Tag und Nacht die großen Schiffe ihre Lasten transportierten. Doch nicht eines stoppte die Maschinen, um die winkenden, schreienden, weinenden Menschen aus dem winzigen Boot aufzunehmen, sie zu retten vor dem Verdursten, dem Verhungern, dem Ausdörren und dem Ertrinken.
Nicht, dass man die Verzweifelten in den Wellenbergen übersah. Man sah sie genau. Oft fuhren die Handelsschiffe in fünfzig oder sogar zwanzig Meter Entfernung an dem kleinen Flussboot vorbei. Die Winkenden und Schreienden konnten sehen, wie man sie von der Reling oder der Brücke aus betrachtete, wie sich die Ferngläser auf sie richteten, wie man auf sie zeigte und über sie sprach. Und dann rauschte das große Schiff an ihnen vorbei, schickte noch einige Wellen, die den Kahn gefährlich schaukeln ließen, und entfernte sich.
Das Leben flüchtete vor den Flüchtlingen. Neunzehn Tage und neunzehn Nächte lang. Xuong zählte zweiundvierzig Handelsschiffe und Tanker, die an ihnen vorbeizogen, ohne sie zu beachten. »Auch darauf sind Menschen«, sagte er einmal, als wieder ein Containerschiff in kaum dreißig Meter Entfernung an ihnen vorbeidröhnte, ohne die Maschinen anzuhalten. »Ich frage mich nur: Was für Menschen? Haben sie ein Herz in der Brust, oder nur noch ein Räderwerk?«
Lam Van Xuong konnte so sprechen - er war ein Lehrer, ein kluger Mann also, und weil er so klug war, hatte man ihn zum »Kommandanten« des Bootes gemacht. Er konnte auch den Kompass lesen, und er war es gewesen, der vorgeschlagen hatte, zur Route Singapur-Hongkong zu fahren, wo man sie bestimmt an Bord nehmen würde. Begeistert hatten alle zugestimmt. Das war wirklich die Rettung von aller Qual und Verfolgung, von Willkür und Zwang. Menschen, die das Leid nachempfanden, würden sie mitnehmen in ein neues, freies Leben.
Und diese Menschen fuhren nun an ihnen vorbei . neunzehn Tage lang.
Vor vierzehn Tagen hatte eine große Welle, die über den Bug des Bootes schwappte, Xuong den lebenswichtigen Kompass aus der Hand geschlagen. Seitdem benutzte Xuong seine Armbanduhr und die Sonne als Kompass. Sie blieben in der Nähe der Seestraße, steckten nachts eine Fackel an, um auf sich aufmerksam zu machen, winkten mit Hemden, Kleidern und Tüchern, wenn ein Schiff an ihnen vorbeifuhr, und kauerten sich dann wieder entmutigt in ihrer Zehn-Meter-Holzschale zusammen.
Jetzt, in der zwanzigsten Nacht, fragte Cuong, der Mechaniker, den klugen Lehrer Xuong: »Wie machen wir es?«
»Was?«
»Das Sterben.«
»Wir haben noch für zwei Tage Wasser.« Xuong kam zum Heck und setzte sich neben Cuong auf den Holzkasten, unter dem der Motor montiert war. »Für jeden dreimal täglich drei Löffel voll Wasser.«
»Und dann? Wir treiben ab. Seit drei Tagen treiben wir ab. Wieder zurück zur Küste. Warum helfen uns diese Menschen nicht? Wenn sie uns nicht an Bord haben wollen, könnten sie uns doch ein Fass Benzin rüberwerfen. Aber sie fahren weiter. Xuong, sollen wir zuerst die Kinder töten, dann die Frauen und dann uns? Du bist ein kluger Mann, gib uns einen letzten Rat.«
»Du könntest Thi töten?«
»Es ist besser, als wenn sie und das Kind in ihrem Leib verdorren. Es gibt nur einen Tod, und wir können ihn uns aussuchen .«
»Hast du mit Thi darüber schon gesprochen?«
»Wer spricht davon? Der Tod sitzt bei uns, das wissen wir.« Cuong stützte sich auf das mit einem Seil festgebundene Steuerruder und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit. Das flackernde Licht der Fackel drang nicht einmal bis zum Bug des kleinen Bootes, die Schwärze saugte es auf. Und doch war diese Fackel ein lautloser Schrei: Hier sind Menschen . helft uns, glücklichere Brüder! »Sie schläft und wird nichts merken. Sieh dir die Kinder an. Sie dörren aus. Ihre Haut schrumpft zu Leder wie bei einem Greis.« Er breitete die Arme aus und schüttelte die Hände. »Und die Schiffe fahren vorbei, Xuong, du hast zu viel von den Menschen erwartet.«
»Lass uns noch einen Tag abwarten . oder zwei .« Lam Van Xuong legte die Hände übereinander, lehnte sich an den Motorkasten zurück und blickte in die schwarze Nacht. Mit wie viel Hoffnung waren sie vor zwanzig Tagen aus dem kleinen Hafen Phu-winh im Mekong-Delta ausgelaufen. Wir haben ein Boot, endlich haben wir ein Boot! Nach einem Jahr Warten, bis man den Kaufpreis zusammengespart hatte, ein Jahr, in dem der Bootsbesitzer viermal den Preis erhöhte und freundlich lächelnd sagte: »Ich brauche nicht zu verkaufen, ihr müsst kaufen . dieser Unterschied ist eben teuer.«
Sie waren aus drei benachbarten Dörfern zusammengekommen. Xuong, der Lehrer, aus der Haft der politischen Polizei entlassen und mit Berufsverbot belegt, arbeitete als Holzfäller in einer Kommune, musste die schwersten und dreckigsten Arbeiten übernehmen, vor denen sich die anderen Kommunarden drückten. Aber er blieb der »Lehrer«, wenn er an einem freien Tag die Dörfer besuchte, aus denen die Schüler früher zu ihm in das Schulgebäude von Nha-duc gekommen waren. Mit wehem Herzen sah er die Not seiner Freunde, die von Mal zu Mal größer wurde, hörte die klagenden Frauen an, deren Männer zur Zwangsarbeit abgeholt worden waren, sprach mit dem ehemaligen Bürgermeister Phan Kim Trong, den die Geheimpolizei vier Monate lang gefoltert hatte, nur auf den Verdacht hin, er habe vier Säcke Reis zur Seite geschafft und heimlich verkauft, was nie bewiesen werden konnte, da er es nicht getan hatte. Nun war Trong ein Krüppel, körperlich und seelisch, zerbrochen an einem System, das nur Misstrauen und blinde Unterwürfigkeit kennt. Und bei einem dieser Besuche hatte Xuong beschlossen, ein Boot zu kaufen und über das Meer zu flüchten in eine Welt ohne Verfolgung und Folter, ohne Angst und ohne Schläge. Vielleicht nach Thailand oder nach Singapur, nach Sumatra oder den Philippinen, oder in eine weite Ferne, in einen anderen Teil dieser Erde, wo Menschen lebten, die wussten, was Menschlichkeit bedeutet. Humanität nannte es der kluge Lehrer. Die Frauen und Männer, die ihm zuhörten, hatten dieses Wort noch nie gehört, aber als er es ihnen erklärte, leuchteten ihre Augen.
Gab es das überhaupt? Humanität? Anerkennung der Würde aller Menschen, ganz gleich, welcher Rasse, aus welchem Staat, von welchem Stand? Vorbei mit aller Sklaverei unter einer diktatorischen Regierung? Politische Gleichberechtigung aller Auffassungen und Gedanken? Freie Gedanken? Freie Rede? Ein Mensch mit Menschenrechten . mein Gott, gab es das wirklich?! Keine Tritte und Schläge mehr, kein Arbeiten bis zum Umfallen für eine Schüssel Reis mit Fisch? War das nicht das Paradies, von dem der Pater immer predigte? Und das soll vor der Tür liegen, nur ein paar hundert Meilen weiter, jenseits der Linie, an der auf jeden geschossen wird? So nah, und doch so unerreichbar wie ein Stern .
Aber nein. Hört euch doch Xuong, den klugen Lehrer an. Hört, was er erzählt, was er vorschlägt, welchen Weg es gibt zu dieser sagenhaften Humanität: Über das Meer! Nur ein gutes Boot braucht man und etwas Mut. Und da draußen auf dem freien Meer werden die humanen Menschen die Flüchtlinge auffischen und in die Länder bringen, wo ein Mensch noch das Recht hat zu leben. Auch das hat der Pater gepredigt, und Xuong sagt es jetzt auch: Wir sind alle Brüder! Nur, die einen wissen es, und die anderen wissen es nicht. Lasst uns zu jenen flüchten, die es wissen!
Es waren zwanzig Männer, sechzehn Frauen und vierzehn Kinder, die Xuong die Hand drückten, Stillschweigen schworen und dann begannen, für dieses Paradies zu arbeiten und zu sparen. Ein Jahr lang, bis Xuong das kleine flache Flussboot kaufen konnte. Drei Männer starben in diesem Jahr, zwei Frauen und zwei Kinder. Man verkaufte auf dem Markt von Vinh-long, was sie hinterlassen hatten, und gab das Geld dem Lehrer.
Eines Tages sagte Xuong: »Im nächsten Monat, im Mai, wenn das Meer noch ruhig ist, können wir fahren. Das Boot liegt bereit, mittschiffs habe ich einen Raum aus Holz für die Frauen und Kinder bauen lassen. Nudeln, Fässer mit Frischwasser, Treibstoff, Reis, getrocknetes Obst und Spiritus besorge ich noch. Das Meer wird uns die Fische liefern. Töpfe und Pfannen und alles, was ihr braucht, bringt ihr selbst mit. Wenn wir die Schiffahrtsroute Singapur-Hongkong erreicht haben, sind wir gerettet. Es werden bis dahin nur ein paar Tage und Nächte sein. Beten wir alle,...