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Moskau, im Jahre 1564 .
Durch den Kreml-Palast gellten laute Schreie. Sie brachen sich an den dicken Steinwänden und verloren sich in den dämmrigen Gängen und den gruftähnlichen Zimmern und Sälen.
Die Türsteher an den niedrigen Eingängen, durch die man nur hindurchgehen konnte, wenn man demütig den Nacken beugte, diese stummen, mit über der Brust gekreuzten Armen dastehenden Leibeigenen, rührten sich nicht.
Schreie im Kreml - wen kümmert das? Was diese Quadermauern schon gehört hatten an Flüchen und Verwünschungen, an Stöhnen und Todesröcheln, hätte sie längst morsch werden lassen müssen. Aber sie waren für die Ewigkeit gebaut, meterdick, und schluckten jeden Schall.
Es waren zwei Frauenstimmen, die da schrien, eine helle und eine dunkle. »Einen Arzt!«, schrien sie. »Holt den Arzt der Zarin .«
Die Türsteher rührten sich nicht. Es war nicht ihre Aufgabe, Botengänge zu tun. Sie hatten wie Säulen zu stehen, Erzengel vor den Gemächern des Zaren. Aber aus den Augenwinkeln sahen sie sich an.
Was ist, Brüderchen? fragten ihre Blicke. Einen Arzt? Ist der Zar zurückgekommen? Ist er nicht oben in Litauen? Oder in Polen?
Man weiß es nicht, Väterchen. Der Zar ist weg, und der Zar ist da . Keiner sieht ihn kommen oder gehen. Wenn sein Schatten über Moskau fällt, merkt man es früh genug. Die Bojaren tragen den Kopf tiefer, die Kaufleute betreten bleich den Kreml, die Höflinge zittern, und die Djaki - das sind die speichelleckenden Beamten des Hofes - schrumpfen zusammen zu Zwergengröße.
Zwei Kammerfrauen rannten durch die niedrigen Türen. Jammernd verschwanden sie in den halbdunklen Gängen.
»Die Zarin«, sagte der linke Türsteher leise. »Gestern war sie noch gesund und betrunken. Sie tanzte in ihrem Zimmer, spuckte mich an und sagte: >Bist ein großer, strammer Kerl, du Aas!< Weißt du's noch?«
»Sie ist ein wildes Weibchen, mein Söhnchen. Ich glaube, der Zar ist nicht da, und sie langweilt sich. Da wird man schnell krank. Das heiße Blut kocht über.«
Die Kammerfrauen kamen zurück. Ihnen folgte ein großer, schlanker Mann in einem schwarzen Anzug und einer offenen Pelerine um die Schultern. Unter blondem Haar, das bis zu den Schultern reichte, blickten blaue Augen auf die beiden Türsteher, die ihre Piken vor dem Eingang kreuzten.
»Ich bin der Arzt«, sagte der schlanke, große Mann. »Die Zarin ruft mich.«
Die Piken blieben gekreuzt. Ausdruckslos starrten die Türsteher an dem Fremden vorbei ins Leere.
»Lasst ihn durch, ihr Idioten!«, schrie eine der Kammerfrauen. »Die Zarin ist ohnmächtig geworden. Der erhabene Zar wird euch vierteilen! Gebt den Weg frei!«
Die Piken zuckten zurück, so wie ein Schloss aufschnappt. »Danke«, sagte der Mann höflich. »Merkt euch mein Gesicht, Freunde. Der Zar wird befehlen, dass ich zu allen Räumen freien Zugang habe. Ich bin Arzt. Auch für euch .« Er beugte den Kopf tief hinunter und ging durch die Tür in die Räume des Zaren. Die beiden Türsteher blickten sich wieder aus den Augenwinkeln an.
Hast du gehört, Väterchen?, besagte der Blick. Ein neuer Arzt. Ein Ausländer, man hört's an der Sprache.
Er wird nicht lange im Palast bleiben, Söhnchen.
Den letzten Arzt hat der erhabene Zar geblendet, ihm die Zunge herausreißen lassen und entmannt. Warum? Er hat dem Zarewitsch ein Pülverchen eingegeben, nachdem er sich erbrochen hatte. Das war nötig, aber der erhabene Zar dachte an Vergiftung. Er ist misstrauisch geworden, unser großes Väterchen, nachdem man sein erstes Weibchen, die schöne Anastasia, mit einem Gifttrunk umgebracht hat. Überall sieht er Mord und Feinde. Gott habe Gnade mit ihm! Aber dieser neue Arzt . auch er wird nicht alt werden.
Die Zarin Marja Temrjuka war eine Frau, von deren Schönheit man träumen konnte.
Iwan IV. hatte sie erobert, wie man eine Festung erobert. Zuerst war sie nichts als eine Beute gewesen, eingefangen mit anderen Tausenden, die beim Fall von Kasan in die Hände der russischen Truppen geraten waren. Nach der blutigen Niederwerfung der Tataren, nach langen Belagerungen und Gemetzeln, war auch der Tscherkessenfürst Temrjuk Tscherkassky mit seiner Tochter Marja vor Iwan hingetreten. Er hatte sein Haupt gebeugt, sein Schwert dem großen Zaren vor die goldenen, bestickten Schuhe gelegt und sein Leben in die Hand des Erhabenen gegeben.
Damals wusste jeder: Tscherkassky hatte keine Chance, zu überleben. Vor ihm waren alle tatarischen Fürsten enthauptet oder gehenkt worden. Der Siegeszug Iwans war zur blutigen Straße geworden. In Kasan hallten die Gassen tagelang wider von den Schreien der Gemarterten.
Tscherkassky hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Er wartete auf Iwans kurzes Wort: »Tötet ihn!« Aber dieses Wort blieb aus. Der Zar blickte Marja an, kurz und kritisch. Seine harten Augen über der mächtigen Hakennase glitzerten.
»Ich will dich und deine Tochter in Moskau sehen«, sagte Iwan knapp. »Steh auf, Temrjuk, und danke Gott.«
Marja blieb in Iwans Nähe. In Moskau nahm er sie zur Frau. Sie war ein Weib mit vollen Brüsten, schmalen, biegsamen Hüften und langen, schlanken Beinen. Ihre großen, dunklen Augen waren ein ständiges Feuer, eine immerwährende Lockung, eine nie versiegende Begierde. Meist trug sie einfache tscherkessische Kleider wie die Hirtenmädchen in den endlosen Steppen. Aber immer waren in ihr langes Haar Rosen und Nelken, Glockenblumen oder Mohn geflochten. Die Fingernägel waren rot gefärbt und leuchteten wie die bemalten Lippen. Und um den herrlichen Körper klimperte eine Fülle von Armreifen, Goldketten und orientalischen Fußreifen.
Ihr Vater hatte Marja Unterricht in der Liebe erteilen lassen - nach Art der Haremsfrauen und mit allen Raffinessen orientalischer Verzauberung. Vor diesen Künsten hatte der große, starke Iwan kapituliert. Wenn Marja ihren türkisch-tscherkessischen Tanz vor ihm vollführte, dann in seine Arme flog wie ein wilder Vogel und alle Liebeskünste über ihn ausschüttete wie eine Sturmflut, schwankte Iwan am nächsten Morgen hohläugig und bis ins Mark erschöpft aus dem Zimmer, und stierte den Hofmarschall an, der jeden Morgen im Vorzimmer auf seinen Herrn wartete.
»Sie kann einen umbringen«, sagte Iwan einmal nach einer solchen Nacht. »Aber es ist ein herrlicher Tod.«
Jetzt war der Zar fern von Moskau. Irgendwo im Norden wütete er, ließ seine Feinde - oder die, die er dafür hielt - hinrichten, blenden, entmannen, immer in aller Öffentlichkeit, wie der Chef einer Theatergruppe, der keine Harlekinaden spielt, sondern seinem Publikum die Schrecken absoluter Herrschaft vorführt.
Ab und zu brachten Kuriere auf zusammenbrechenden Pferden Botschaft von ihm.
An mein geliebtes Weib. An meine Rose von Kasan. An meinen Zauber der Liebe.
Marja las die Briefe, zerriss sie und empfing ihre heimlichen Liebhaber. Es gab Gänge im alten Kreml, die kaum jemand kannte. Er war ein Fuchsbau, ein Labyrinth - auf der Erde und tief unter der Erde. Und dort gab es Räume, die man betrat, um nie wieder an die Sonne zu kommen: das Reich der >Toten Seelen<. Ein Spielzeug für Iwan IV., den man auch den >Schrecklichen< nannte.
Der junge Arzt war in das Zimmer der Zarin geführt worden und verneigte sich tief. Hinter ihm verließen die Kammerfrauen eilig den Raum. Der Arzt blieb in der gebückten Haltung stehen und wartete auf ein Wort der Zarin.
Marja musterte den schönen Mann lange. Sie lag auf dem breiten Bett auf einem hellen Bärenfell, über das man noch eine Decke aus flaumweichem, fast schwarzem Zobel gelegt hatte. Sie trug nur ein Gewand aus mehrfach übereinandergelegten orientalischen, mit Goldfäden durchwirkten Schleiern, in die ihre Frauen kunstvoll Blumen gesteckt hatten.
»Wer seid Ihr?« Die Stimme der Zarin war dunkel wie ein satter Glockenton. Sie klatschte in die Hände, und der Arzt nahm das als Zeichen, sich aufzurichten. Sein Blick traf mit dem Marjas zusammen, und es war, als stießen zwei Speere aufeinander.
»Ich bin Andreas Daniel von Trottau, erhabene Zarin. Wundarzt und Fachmann der Inneren Medizin, studiert in Dorpat und Paris mit einem Diplom des Königs von Frankreich. Dem erhabenen Zaren hat es gefallen, mich als den Leibarzt der erhabenen Zarin einzustellen, nachdem ich in Litauen den Fürsten Kurbski von einer bösen Krankheit geheilt habe.«
»Ihr seid Deutscher?« Wieder der Blick, der wie ein geworfener Speer war. Ein Speer mit einer Spitze aus Rosen.
»Ja, ich bin in Memel geboren. Die erhabene Zarin ist krank?«
»Ich weiß es nicht.« Marja streckte sich auf der Zobeldecke aus. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte sie die goldenen Pantoffeln von sich. Einer flog so weit, dass Trottau ihn auffangen konnte. Langsam kam er damit näher.
»Welch ein zierlicher Fuß .«
Die Zarin lächelte. Die Schleier über ihrer Brust hatten sich verschoben. Weiß wie aus Alabaster, von jenem glänzenden Marmorton, für den die Mädchen aus dem Tscherkessenland berühmt sind, lag die Zarin im flackernden Licht der Fackeln und Öllampen.
»Mir ist schwindlig«, sagte sie. »Wenn ich die Hände aneinanderlege, werden sie feucht. Richte ich mich auf, fällt es wie ein Gewicht von hundert Pud auf mein Herz. Meine Augen zittern .« Sie dehnte sich und seufzte. »Erklärt mir die Krankheit, Doktor. Gibt es ein Mittel dagegen?«
»Ich müsste die erlauchte Zarin untersuchen.« Trottau trat zum Bett. »Ich müsste die Zarin anfassen.«
»Der Zar und der Arzt sind die Einzigen, die die Zarin berühren dürfen.« Sie lachte, schob mit beiden Händen die Schleier von sich und lag nackt vor ihm. Ein Körper, wie ihn kein Märchen beschreiben kann. »Früher...