1
Als sie den Vorraum des Juno Revolving Restaurants betrat und sich interessiert umblickte, fiel sie nicht mehr auf als all die anderen Gäste, die mit dem Lift hinauf in das 26. Stockwerk gefahren waren, um in Kowloons berühmtem gläsernem Luxustreffpunkt vorzüglich zu speisen, exzellent zu trinken und dabei einen unvergleichlichen Blick über Kowloon, Hongkong und die New Territories zu werfen - über Millionen Lichterketten, schimmernde Wasserflächen, Tausende von Dschunken und Sampans, Hochhäuser und Elendshütten, über breite Avenuen und enge, verwinkelte Gassen, Parks und Felsabbrüche, über ein buntes Meer von Leuchtreklamen . und die weite Dunkelheit, die sich hinüberzog zur rotchinesischen Grenze. Ein atemberaubendes Bild hier oben im Hochhausrestaurant in der Nathan Road Nummer 655; man vergaß es nicht für den Rest seines Lebens. Einmal in sechzig Minuten drehte sich der gläserne Palast auf dem Dach um seine Achse, und während man frischen Hummer, flambiert mit Whisky und garniert mit Kaviar, oder raffiniert gefüllte Fasane mit Bordeauxsauce und Weintrauben aß, lag einem die wundervollste Stadt dieser Erde zu Füßen, eine Stadt von heute und übermorgen und dabei Tausende von Jahren alt, immer geheimnisvoll bleibend bei aller modernen Offenheit - Hongkong!
Eine Stadt, die man mit all ihren Facetten nicht mehr zu erfassen, nicht mehr zu begreifen vermag. Eine Stadt, die das Wunder des menschlichen Daseins widerspiegelt: So tausendfach anders, verschieden, unbegreiflich kann man leben!
Die junge Frau wurde von den Empfangshostessen begrüßt, ließ sich den mit Goldfäden durchwirkten Abendmantel abnehmen, sah kurz in den Spiegel und ordnete mit drei Handbewegungen ihre fast schulterlangen, tiefschwarzen Haare. Sie war eine jener wunderschönen chinesischen Mischlinge, bei denen weder das Asiatische noch das Europäische überwiegt - größer als gemeinhin die Chinesinnen, schlank und doch mit einem Körper von jener sanften und vollendet deutlichen Formung, die Männer zu erregenden Phantasien anregt. Die Mandelaugen in dem schmalen Gesicht waren so schwarz wie ihr Haar, der Mund volllippig und sinnlich geschwungen. Wie sie jetzt im Foyer des Juno Revolving Restaurants stand, in einem engen flaschengrünen Abendkleid mit goldenen und silbernen, stilisierten Drachen- und Fabelwesenapplikationen, eine goldene Paillettentasche am linken Unterarm, war sie genau die Kategorie Gast, die man hier im Juno erwartete und für angemessen hielt.
Einer der Restaurantdirektoren kam auf sie zu, verbeugte sich leicht, blickte sich diskret um und fragte dann: »Madam sind allein? Ein Platz? Hatten Sie reserviert, Madam? Ich fürchte, alle Fensterplätze .«
Die Frau lächelte ihn an, etwas verträumt, ja fast abwesend. Es schien, als lächle sie durch ihn hindurch. Dann ging sie an dem verblüfften Restaurantdirektor vorbei, betrat den riesigen gläsernen Raum und schritt langsam, als sei sie sich ihrer Wirkung voll bewusst, den äußeren Rundgang hinunter.
»Madam!«, sagte der Direktor höflich hinter ihr. »Ich hätte noch einen Tisch in der zweiten Reihe . Wenn Sie mir bitte folgen würden .«
Sie reagierte gar nicht darauf, ging weiter und blieb vor einem Tisch stehen, einem sehr begehrten Vierertisch an der Glasfront, an dem vier Gäste saßen. Drei gehörten zusammen; es waren französische Touristen: Monsieur Jean-Claude Rivère, Madame Marie Rivère und der Bruder von Madame, Monsieur Louis Chamfort. Sie waren am Vormittag in Hongkong gelandet, wohnten hier in Kowloon im Feinsten vom Feinen, hatten es aber auf Ratschlag eines früheren Hongkong-Reisenden vorgezogen, im Juno Revolving statt im Gaddi's, dem Gourmettempel im Peninsula Hotel, zu essen - vor allem wegen des in der Welt wohl einmaligen Rundblicks.
Der vierte Gast am Tisch war ein bulliger Mann mit ergrauten Haaren, trank Weißwein zu Hasenfilet - was einem Franzosen Übelkeit verursachen würde - und hatte zwischen dem zweiten und dritten Gang des Dinners ein langes, mexikanisches Zigarillo geraucht, was Madame Rivère mit heruntergezogenen Mundwinkeln und stummem Protest zur Kenntnis nahm.
Der Mann trug einen maßgeschneiderten Smoking, nur passte dazu nicht die silberschillernde, blütengemusterte Brokatweste, die er darunter hervorblitzen ließ. Sein Englisch war breit und kauend, was sofort die Vermutung aufkommen ließ, dass er Amerikaner war. Vorgestellt hatte man sich am Tisch nicht . eine Bekanntschaft von vielleicht drei Stunden ist es nicht wert, dass man intimer wird als über einige der üblichen Floskeln hinaus.
Vor diesem Tisch blieb die auffallend schöne Frau nun stehen. Sie blickte den Mann im Smoking an und lächelte ihm zu. Dabei zeigte ihr Gesicht keinerlei Regung . die Augen blickten durch ihn hindurch, nicht ein Zucken ging über die Haut, nur der volle Mund lächelte, und die Lippen öffneten sich leicht.
Der Mann im Smoking starrte sie verblüfft an, in den Augen Begeisterung, aber auch Erstaunen darüber, wie er zu der Ehre kam, von solch einer traumhaften Schönheit angelächelt zu werden. Er hob den Kopf höher, die vielen Falten in seinem Gesicht gerieten in Bewegung, er lachte zurück, noch etwas gehemmt und verwundert - und auch die Familie Rivère wartete sichtlich gespannt darauf, was nun kommen würde.
Die wunderschöne Frau öffnete mit einer grazilen Handbewegung ihre goldene Paillettentasche, zog eine kleine, verchromte Pistole hervor, eines der verfluchten tödlichen Damenspielzeuge, wie man sie in Hongkong überall in den Seitenstraßen kaufen kann, und lächelte noch immer. Sie hob die Waffe, zielte auf die Stirn des Mannes und drückte zweimal ab.
Wie von zwei Hammerschlägen getroffen, zuckte der Kopf zurück, zwei kleine Einschusslöcher über dem Nasenbein begannen schwach zu bluten . mit hängenden Armen, noch immer staunenden Augen und einem lächelnden Mund blieb der Mann auf dem Stuhl sitzen, gestützt auch durch die Seitenlehne, aber er begriff nichts mehr. Er war sofort tot.
Mit einer ebenso anmutigen Bewegung wie zuvor steckte die Dame die Pistole in die Abendtasche zurück und drehte sich lächelnd um. Der Restaurantdirektor starrte sie mit offenem Mund an, vom Entsetzen sekundenlang gelähmt. Erst als Madame Rivère hell aufschrie, legte sich der Schock: Mit einem tigerhaften Satz warf er sich auf die elegante Dame. Aber dieses Kraftaufwandes bedurfte es keineswegs, denn die Dame wehrte sich überhaupt nicht. Sie ließ sich ohne weiteres abführen. Sie schwieg und lächelte, als man sie in den Vorraum der Küche schleppte und dort auf einen Hocker drückte.
Im Restaurant bewies der Oberkellner ein erstaunliches Reaktionsvermögen: Er breitete ein großes Tischtuch über den Toten, verbeugte sich vor der Familie Rivère und sagte: »Darf ich den Herrschaften einen anderen Tisch anbieten?« Mit einer sicher ungewollten Kaltschnäuzigkeit fügte er hinzu: »Die Direktion des Hauses erlaubt sich, auf den Schreck hin eine Flasche Champagner servieren zu lassen.«
»Ich will gehen!«, schrie Madame Rivère hysterisch. »Ich will hier raus! Raus! Raus!«
»Wir bitten um Geduld.« Der Oberkellner hatte wirklich Nerven. »Sie werden vermutlich noch als Zeugen benötigt .«
Im Küchenvorraum stand der erste Direktor vor der Dame und fragte immer wieder: »Warum haben Sie das getan, Madam? Wer sind Sie? Nennen Sie doch Ihren Namen! Erklären Sie uns . die Polizei wird gleich hier sein . da nützt Ihnen kein Schweigen! Madam, Sie müssen doch einen Grund gehabt haben .«
Die schöne Frau schwieg, lächelte verträumt, lehnte den Kopf nach hinten an die Wand und schloss ihre märchenhaften Mandelaugen. Dabei veränderte sich ihr Gesicht . es schrumpfte irgendwie zusammen und sah plötzlich viel älter aus.
Sie öffnete auch die Augen nicht wieder, als nach zwanzig Minuten die Polizei eintraf, ihr die Tasche wegnahm, den Toten untersuchte und fotografierte und knapp und höflich, wie Chinesen sind, die Franzosen verhörte. Madames Ausbruch, sie habe schon immer gewusst, dass Hongkong voller Gangster sei, überhörte man mit noch größerer Höflichkeit.
Kommissar Ting Tse-tung vom 1. Kommissariat der Polizei von Kowloon blickte auf die beiden Einschusslöcher in der Stirn des Toten, als betrachte er tief sinnend eine neue Ausgrabung im archäologischen Museum.
»Haben Sie dafür eine Erklärung, Kommissar?«, fragte der Direktor neben ihm mit belegter Stimme. »Kommt rein wie eine Prinzessin, lächelt und tötet! Und das bei mir!«
»Irgendwo musste es ja geschehen«, sagte Ting Tse-tung sarkastisch. »Das Schicksal traf eben Sie. In einer Viertelstunde ist der Tote weg. Dann wird es hier wieder so aussehen, als sei nichts gewesen.«
»Herr Kommissar . die Presse . Morgen steht es in allen Zeitungen .«
»Dann überlegen Sie doch mal«, meinte Ting Tse-tung trocken, »was Sie an Propaganda sparen .«
Er ging zurück zur Küche, wo noch immer die schöne Dame auf dem Hocker saß. Sie hatte die Augen jetzt geöffnet und sah den Kommissar mit einem seltsam starren Blick an.
»Kommen Sie mit!«, forderte Ting Tse-tung sie auf. »Können Sie gehen?«
Sie gab keine Antwort, erhob sich und schritt würdevoll aus dem Küchenvorraum. Im Foyer stieß man auf die Sargträger, die den Toten abholen wollten. Sie blieb stehen, warf einen Blick auf den Sarg, schüttelte den Kopf und ging dann weiter.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Ting Tse-tung an ihrer Seite.
»Gut!« Es war das erste Wort, das sie sprach.
»Sie haben vor einer halben Stunde einen Mann erschossen.«
»Wirklich?« Sie standen vor dem Lift. Ting Tse-tung ließ sie vorausgehen, winkte seinen Beamten, draußen zu bleiben, und fuhr mit ihr allein...