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Das ist also deine Auffassung von Glück, dachte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Da liegst du nun auf den von der Tropensonne ausgebleichten Planken eines alten Motorkahns, um dich der Stille Ozean, und genießt die sogenannte Freiheit. Das hast du dir immer gewünscht, nicht wahr, du Spinner Ron Edwards, der einmal Rudolf Eduard Hamacher hieß, in Köln geboren wurde und es bis zum Abteilungsleiter einer großen Bank gebracht hat. Er war Abteilungsleiter für Kredite und Darlehen gewesen, hatte Lohnabrechnungen geprüft, Sicherheiten zusammengestellt, Konditionen ausgehandelt und Zinsfestschreibungen festgesetzt - bis ihn das alles anwiderte und er seine Kündigung einreichte.
Bankdirektor Johannes Vielig von der Zentrale ließ ihn kommen, bot ihm Kaffee und eine Zigarette an und fragte dann ohne Einleitung: »Herr Hamacher, sind Sie verrückt geworden?«
»Vielleicht.« Er hatte damals so selbstsicher gelächelt wie einer, der im Lotto Millionen gewonnen hat und nun keine Existenzangst mehr kennt. »Aber ich fühle mich jetzt, nach der Kündigung, sehr wohl .«
»Noch habe ich nicht zugestimmt!«, sagte Vielig mahnend.
»Eine Formsache, denke ich.« Hamacher trank einen Schluck Kaffee. »Angenommen, Sie nehmen die Kündigung nicht an - was geschieht dann? Ich bleibe einfach weg - das ist alles. Darauf werfen Sie mich raus. Das Endergebnis ist also das gleiche: Kündigung. Nur etwas lautstärker, wo man doch alles so still regeln könnte.«
»Warum wollen Sie uns verlassen, Hamacher?« Direktor Vielig steckte sich nervös eine Zigarre an. Er brauchte ein so intensives Raucherlebnis, vor allem wenn er erregt war. Seine Mitarbeiter sagten: Der Chef hält sich an der Zigarre fest. Und Vielig war jetzt sehr erregt, wenn er es auch zu verbergen suchte. Trotz angestrengten Nachdenkens hatte er keinen Grund gefunden, der Hamacher zu einer Kündigung veranlassen konnte. Hamacher war jetzt zweiunddreißig Jahre alt und hatte in der Bank eine schnelle Karriere gemacht. In diesem Alter schon Abteilungsleiter für Kreditwesen - das bewies Kompetenz und überdurchschnittliche Begabung.
»Haben Sie ein besseres Angebot bekommen?«, wollte Vielig wissen.
»Von wem?«
»Das gerade möchte ich von Ihnen hören. Nennen Sie mir keinen Namen, ich weiß, das wäre ein Vertrauensbruch, und den traue ich Ihnen wirklich nicht zu. Nennen Sie mir nur die Summe, die man Ihnen geboten hat. Das genügt mir schon.«
»Es gibt kein Angebot, Herr Direktor.«
»Was sonst hat Sie bewogen, so überraschend zu kündigen?«
»Ich will weg, ganz einfach weg! Von der Bank, von dieser Stadt, von meinem bisherigen Leben .«
»Aha! Ein Aussteiger!« Vielig räusperte sich, saugte an seiner Zigarre und blies eine mächtige Rauchwolke gegen die Decke. »Hat dieser idiotische Virus auch Sie erfasst? Alles hinschmeißen und eventuell als Bananenpflücker in Honduras arbeiten . Das ist doch Blödsinn!«
»Vielleicht.« Hamacher hatte seinen Vorgesetzten angelächelt. »Auch Bananenpflücker müssen sein . schade, wenn gerade die Banane im Obstsalat fehlen würde.«
»Nun reden wir mal ernst, Hamacher.« Vielig hüllte sich wieder in dichte Rauchwolken. »Das sollten Sie noch gar nicht wissen, erst zum Jahresende, aber unter den gegebenen Umständen sage ich es jetzt schon: Im Mai wird der Direktorposten in der Filiale Euskirchen frei. Dafür hatte ich Sie ausersehen. Und nun setzen Sie mir den Stuhl vor die Tür! Hamacher, Mensch . Aussteigen ist doch ein Irrsinn! Hier sind Sie wer, haben eine sichere Position, sind eine geachtete Persönlichkeit . was wollen Sie denn noch mehr?«
»Freiheit! Absolute Unabhängigkeit!«
»Mein Gott, was verstehen Sie darunter? Sie leben in einer freiheitlichen Welt, in einem freien Staat, sind ein freier Mensch in einer musterhaften Demokratie .«
». aber ich habe über mir Sie, dann den Generaldirektor, dann die Bankenaufsichtsbehörde - überall muss ich buckeln.«
»Ich habe noch nie etwas Derartiges von Ihnen verlangt!«, sagte Vielig geradezu entsetzt. »Hamacher, ich glaube fast, Sie sind krank.«
»Ja. Krank vor Sehnsucht nach der völligen Freiheit. Ich möchte morgen in Shanghai sein, zwei Tage später in Manila, nächste Woche am Strand von Waikiki liegen . kann ich das?«
»Das ist doch nicht das wahre Leben! Das ist alles irreal!«
»Für Millionen Menschen vielleicht, nicht für mich. Vielleicht bin ich wirklich verrückt, aber ich fühle mich wohl dabei.«
»Und Ihre Verlobte - was sagt die dazu?«
»Von Barbara habe ich mich getrennt. Vor zwei Wochen bereits. Meine Wohnung habe ich gekündigt, meine Möbel und alles drumherum wird am kommenden Montag en bloc verkauft. Herr Vielig, ich habe in den letzten Jahren gut verdient, zudem die günstige Aktienlage ausgenutzt, billig gekauft und teuer wieder verkauft. Ich habe genug Kapital angesammelt, um in diese enge Welt zurückzukehren, wenn sich die absolute Freiheit auch nur als ein Hirngespinst erweisen sollte, wenn ich sehe, dass Erwartung und Wirklichkeit sich nicht vereinen lassen. Aber erst muss ich raus aus diesem Alltagsmief. Jeder Mensch ist anders, Gott sei Dank, und ich bin nun mal extrem freiheitsliebend. Und mit meinen zweiunddreißig Jahren bin ich auch nicht mehr umzuerziehen, aber jung genug, ein anderes Leben zu versuchen.«
»Sie sind ein verkappter Abenteurer, nicht wahr? Und nun lockt Sie das Unbekannte, die Fremde.« Direktor Vielig sog zweimal hintereinander an seiner Zigarre, blies heftig den Rauch aus.
»Vielleicht .«, gab Hamacher zu.
»Ich sehe, es hat keinen Sinn, mit Ihnen vernünftig zu reden. Reisende soll man nicht aufhalten. Lieber Himmel, da ist ein Mann, dem sich eine glänzende Zukunft bietet, und was tut er? Er geht in die Wüste!« Direktor Vielig sah Rudolf Hamacher abschätzend an. »Und Sie glauben, dass Sie für dieses dämliche Abenteuer fit genug sind?«
»Ja. Im letzten Urlaub habe ich ein Überlebenstraining absolviert. Ich habe ein Motorboot-Patent, besitze den Führerschein aller Klassen, habe mich ärztlich durchchecken lassen mit allem, was dazugehört: Computer-Tomographie, Ultraschall und Doppler. Ergebnis: Ich bin direkt unanständig gesund! Außerdem habe ich einen Kung-Fu-Lehrgang gemacht, kann schießen und mit Pfeil und Bogen umgehen. Ich kann schwimmen, tauchen und Fallschirm springen, mit allen Waffen umgehen und Messer werfen.«
»Ein Abteilungsleiter muss ja 'ne Menge Zeit haben«, stellte Vielig sarkastisch fest. Er stand auf und reichte dem Jüngeren die Hand. »Erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen Glück wünsche zu diesem Irrsinn. Aber ich möchte doch, dass wir uns wiedersehen, wenn Ihnen Ihre absolute Freiheit mal leid geworden ist.«
Ja, so war das damals gewesen. Und dann die erste Station: USA Texas. Auf einer Farm. Knochenarbeit. Und reiten musste er lernen, obgleich er in Köln Reitunterricht genommen hatte. Es ist aber etwas anderes, einen jungen Bullen aus der Herde herauszufangen, als im Stadtwald von Köln elegant über die Reitwege zu traben oder einen Galopp über die Jahnwiese zu absolvieren.
Hier in Texas, in der kleinen Stadt Ebony, hatte er sich auch für siebenhundert Dollar einen Pass auf den Namen Ron Edwards verschafft und damit für immer den Namen Hamacher gelöscht. Den Abteilungsleiter für das Kreditwesen gab es nicht mehr, er war aus seinem bisherigen Leben verschwunden.
Texas . dann San Francisco . hinüber nach Hawaii . weiter nach Samoa und Palau . Papua Neuguinea lockte . Von dort war er nach Australien gegangen, wo er ein Jahr blieb und im Outback, der roten Wüste mitten im Kontinent, Kängurus und wilde Kamele jagte, bei den Aboriginals, den Ureinwohnern, auf der Erde schlief und von einem Medizinmann lernte, wie man aus ausgekochten Schlangenköpfen eine Heilsalbe herstellt.
Ja, und nun Tonga, das letzte Königreich der Südsee, mit seinem fast vier Zentner schweren König Taufa'ahau Tupou IV., der Tränen in die Augen bekam, wenn er deutsche Volkslieder hörte oder eine Sinfonie von Beethoven. Tonga mit seinen unzähligen Inseln und der blitzsauberen Hauptstadt Nuku'alofa, in der es kein Hochhaus gibt, denn alle Gebäude sind nur zwei Stockwerke hoch, selbst der Königspalast mit seinem rotleuchtenden Dach und dem kleinen Türmchen.
Nur zwei Gebäude haben drei Stockwerke, und sie sind eine absolute Ausnahme und die höchsten Bauten von Nuku'alofa: das neugebaute, langgestreckte Hospital, ausgerüstet mit den modernsten Geräten, vor allem deutscher Hersteller, und das Hotel Dateline, das beste von Tonga, mit einem Hauch von internationalem Flair.
Als Ron Edwards mit dem Frachter Debby Burger in Nuku'alofa frühmorgens landete und an der Yellow Pier Jetty an Land ging, kam er aus Neuseeland und kam sich, nach eigener Aussage, sehr beschissen vor. Zum ersten Mal seit drei Jahren hatte er mit dem Gedanken gespielt, von Auckland aus an seine Bank in Köln zu telegrafieren und um so viel Geld zu bitten, dass er mit dem nächsten Flugzeug zurückfliegen konnte. Erster Klasse, mit drei Menüs, Champagner, Whisky oder Wodka, Schlafsessel und Kopfhörer mit sechs Programmen, einem Videofilm auf der Bordleinwand und betreut von zauberhaften Stewardessen, jede eine polynesische Schönheit.
Auf Neuseeland, das er ein »Land wie Samt und Seide« nannte und wo er fast bereit gewesen wäre, wieder sesshaft zu werden, war ihm etwas zugestoßen, das ihn beinahe aus der Bahn geworfen hätte.
Natürlich war eine Frau daran schuld - wie konnte es anders sein? Eileen hieß sie, Eileen Marchand, Tochter eines der größten Schaffarmer auf Neuseeland. Siebzig Millionen Schafe gibt es auf Neuseeland, und ausgerechnet bei einem Mann,...