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Es war gegen 9 Uhr 30 vormittags, als auf dem Schreibtisch von Oberst Andrej Mironowitsch Tschernowskij das Telefon klingelte. Tschernowskij legte die »Prawda« zur Seite, in der er gerade einen Bericht über eine Ballettaufführung im Bolschoi-Theater gelesen hatte, und nahm den Hörer ab. »Ja, bitte?«, sagte er. »Zimmer 45.«
Andrej Mironowitsch war ein außergewöhnlicher Mensch. Das war nicht nur eine Feststellung der Sekretärinnen seiner Abteilung, sondern auch andere sagten das, die ihn näher kannten oder auch nur zum ersten Mal sahen. Er war hochgewachsen, stämmig, kräftig, mit lockigem, blondem, von weißen Tupfern durchsetztem Haar und trug Maßanzüge, die er von seinen Reisen in die westlichen Länder mitbrachte. Das hatte ein paarmal schon zu Schwierigkeiten geführt, vor allem, wenn Tschernowskij allein durch Moskau ging, sich ans Ufer der Moskwa stellte und über den Fluss blickte, eine Augenweide gerade im Sommer, wenn die weißen Ausflugsschiffe voll beladen mit Menschen unter den Brücken hindurchfuhren. Da war es vorgekommen, dass irgendein unscheinbarer Zivilist, der den blonden Mann im westlichen Maßanzug schon lange beobachtete, an ihn herantrat und höflich sagte: »Kann ich Ihren Ausweis sehen, Gospodin? Es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit.« Und dabei zückte er seinerseits einen Ausweis der Geheimen Polizei. Es kam dann jedes Mal zu langen Entschuldigungen, wenn Tschernowskij bewies, dass er Oberst der Roten Armee sei, zweimal mit dem Verdienstorden ausgezeichnet und Leiter der Sektion X im KGB, dem Staatssicherheitsdienst. Die kleinen Geheimpolizisten entfernten sich dann schnell und sichtlich verwirrt. Maßanzüge dieser Art bei einem sowjetischen Oberst? Enge Hosenbeine, taillierter Rock, italienische Schuhe - er war schon ein besonderer Mensch, dieser Andrej Mironowitsch.
In seiner Dienststelle hatte er den Spitznamen »madjel«, was so viel hieß wie »Modell«. Anna Feodorowna, seine Frau, ein schwarzhaariges, rassiges Weibchen aus dem Kaukasus, eine jener grusinischen Rosen, die sogar noch blühen, wenn andere Frauen gelbhäutig, runzelig und dick werden, half ihm bei der Auswahl seiner Garderobe mit großem Sachverstand. Sie war Bühnenbildnerin an der Tifliser Oper gewesen, bevor der damalige Kapitän Tschernowskij sie im Kulturhaus bei einem Störessen kennenlernte und durch den schweren, goldenen grusinischen Muskatellerwein betrunken wurde.
Tschernowskij lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Im Telefon klang ihm die Stimme von Generalmajor Pawel Antonowitsch Ignorow entgegen. General Ignorow befehligte die Hauptabteilung II a. Sie befasste sich mit der Registrierung und Überwachung aller im westlichen Ausland befindlichen Journalisten, Schriftsteller, Rundfunk- und Fernsehkommentatoren, der politischen Wissenschaftler, Historiker und sonstigen Intellektuellen, die aufgrund ihrer Einstellung nicht in der Lage waren, dem Kommunismus Moskauer Prägung zuzujubeln. Vor allem Autoren, die in Romanen, Reiseberichten oder Dokumentationen nach sowjetischer Ansicht beleidigend wirkten, den Monopolkapitalismus gegen den Sozialismus aufhetzten oder gar revanchistisch dachten, hatten ihren festen Platz in den stählernen Karteikästen General Ignorows. Hier sammelten sich alle Sowjetfeinde an. Hier konnte man nachlesen, wann und wo der böse Mensch etwas gegen Russland geschrieben hatte. Die Hauptabteilung II a war die Zentrale der ideologischen Überwachung. Eine lautlos arbeitende, unbekannte Maschine, die Namen fraß und speicherte.
»Wie geht es Ihnen, Andrej Mironowitsch?«, fragte Generalmajor Ignorow freundlich. »Ein herrlicher Tag heute, nicht wahr? Fast zu warm zum Arbeiten. Man sollte sich im Kropotkin-Bad ins Wasser legen.«
Oberst Tschernowskij nickte stumm. Aber er beugte sich etwas nach vorn und wurde wachsam. Wenn Ignorow so menschenfreundlich sprach, verbarg sich dahinter eine unangenehme Sache. Man kannte das. Ignorow war alles andere als ein Philanthrop. Er war ein nörgelnder, gallenkranker, ewig raunzender Bursche, knochig und eisgrau, dem nur die Uniform etwas Farbe gab. Zu Hause hatte er eine zänkische Frau, die sich seit dreißig Jahren weigerte, kochen zu lernen, sein Sohn war Schauspieler geworden, seine Tochter musste mit neunzehn Jahren einen Eisendreher heiraten. So betrachtet war Ignorow ein vom Leben gestrafter Mann, der es sich leisten konnte, Gallensteine zu haben.
»Danke, Pawel Antonowitsch«, sagte Tschernowskij ebenso freundlich. »Ich ersticke in Akten.« Mit der freien linken Hand faltete er die »Prawda« zusammen und schob sie über die Tischplatte weg. »Sie wissen ja, diese unruhigen Tschechen! Seit sie Novotny aus dem ZK geworfen haben und ein paar Feuerköpfe plötzlich auf die Idee gekommen sind, man könne Kommunisten und westliche Dekadenz paaren und die daraus erwachsende Missgeburt als neuen Geist aufziehen, habe ich kaum noch Ruhe.«
»Deshalb möchte ich Sie sprechen, Andrej Mironowitsch. Kommen Sie doch bitte zu mir.«
Im Zimmer General Ignorows sah es immer aus, als habe er die Putzfrauen beleidigt und sie hätten ihm dafür die Papierkörbe auf den Boden geleert. Überall lagen Akten und Blätter herum, Fotos und Zeitungen, Bücher und Zeitschriften, und inmitten dieser Hügel von Bedrucktem hockte Ignorow, böse und lederhäutig, mit gelben Augäpfeln und kurzgeschnittenem, grauem Bürstenhaar.
Tschernowskij gab ihm die Hand und setzte sich auf einen Stuhl, auf dem ein Stapel tschechischer Zeitungen lag. Er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuräumen, sondern hockte sich oben drauf. Ignorow musterte neidvoll den hellgrauen Anzug Tschernowskijs, den rotblaugrün gemusterten Schlips, das Perlonhemd und die hellbraunen, weichen Schuhe in Mokassinform.
»Rom?«, fragte er knurrend.
»Nein, Wien.« Tschernowskij lächelte. »Wenn Sie die Adresse wollen, Pawel Antonowitsch -«
»Komme ich aus diesem Mistladen raus? Sagen Sie selbst: Ist das noch ein Leben? Die Welt ist verrückt! Seitdem in Prag ein paar Reformer ihren Hintern gegen den Wind halten, rollt eine Woge von feindlichen Kommentaren und revanchistischen Spekulationen auf uns zu. Sehen Sie sich um - alles von gestern und heute! Und immer das Gleiche: Eine Ohrfeige für Moskau. Der Reformkurs in Prag eine Absage an den starren Kommunismus. Endgültige Abkehr von Stalin. Der Kommunismus reinigt sich selbst.« Ignorow hieb mit der Faust auf den Tisch. »Hält man uns für Idioten, Andrej Mironowitsch? Ich glaube, der Westen sieht uns noch immer als den Muschik, der, mit Wolllappen um die Füße und verlaustem Vollbart, eimerweise die Scheiße auf die Felder trägt! Aber das wird sich ändern, das ändert sich gründlich. Ich habe vor einer halben Stunde interessante Informationen aus dem Kreml bekommen. General Pawlowskij hat geheime Sondervollmachten erhalten. Drei Armeen stehen bereit. Unsere Dienststelle hat die Aufgabe, eine genaue Liste aller Journalisten, Schriftsteller und Redakteure aufzustellen, die den plötzlichen Rückenwind in Prag als neuen Frühlingssturm bezeichnen.« Ignorow griff in den Haufen Papiere auf seinem breiten Tisch und zog eine Mappe hervor. Der Deckel hatte quer von links nach rechts einen dicken roten Streifen. »Hier ist eine Liste, Andrej Mironowitsch. Sie hat nur einen Fehler: Sie enthält kaum Namen aus den Studentenkreisen. Unsere V-Männer aber bezeichnen gerade die Universität als eine der Hauptquellen, aus denen das neue Prager Heilwasser sprudelt.«
Oberst Tschernowskij blätterte die Bogen durch, las Namen und Adressen, sah hinter einigen Namen kleine Kreuze - sicherlich waren das besonders gefährliche Burschen - und wusste damit nichts anzufangen. Er legte die Mappe zurück auf den Papierberg.
Tschernowskij erinnerte sich an Prag.
Das goldene Prag. Eine der schönsten Städte der Welt. Das »Rom des Nordens« nannte es einmal der französische Bildhauer Auguste Rodin. Jahrhunderte waren hier zu Stein geworden, verewigt in Kirchen und Palästen. Man konnte durch diese Stadt wandern und die Geschichte Europas erleben, die Strenge des romanischen Denkens, die himmelanbetende Gotik, die luxuriöse Lebensfreude der Renaissance, den atemraubenden Prunk des Barock. Alles war hier lebendig geblieben, atmete aus den Steinen, den Häusern und Gärten, den Orgeln und Türmen, den Gassen und Brücken. Die Königsburg - der Hradschin -, der Veits-Dom, die alte Brücke Karls IV. über die Moldau, über die die Krönungszüge schritten unter dem Geläut Hunderter von Glocken, die Adelspaläste und die Altstadt, wie mit dem verliebten Pinsel eines verträumten Malers ersonnen. Eine Stadt, in der man sein Herz begraben konnte -
»Sie waren schon einmal in Prag, Andrej Mironowitsch?«, fragte Ignorow. Tschernowskij kehrte fast erschrocken aus seiner Erinnerung zurück.
»Ja. Zweimal. 1945, als wir es von den Deutschen befreiten. Ich war damals Oberleutnant. Und dann vor vier Jahren. Ich hatte einen Auftrag in Zusammenarbeit mit unserer Botschaft zu erfüllen.«
»Sie werden Prag wiedersehen«, sagte Ignorow knurrend. »In Ihrer Abteilung ist doch die Dienststelle zur Unterwanderung westeuropäischer Universitäten mit unseren Agitatoren. Wie ist es mit Prag?«
Tschernowskij lächelte mild. »Prag gehört für uns nicht mehr zu Westeuropa, Pawel Antonowitsch. Die CSSR ist ein Bruderland.«
»Natürlich.« General Ignorow fuhr sich mit der Hand über das eisgraue Stoppelhaar. »Aber die Entwicklung in Prag deutet darauf hin, dass man den Hintern nach Osten wendet, aber die Hände nach Westen streckt. Kümmern Sie sich bitte sofort und intensiv um die Studenten in Prag, Andrej Mironowitsch. Es liegen Meldungen vor, dass man Spottverse auf uns singt, und hier«, er wühlte eine Zeitschrift aus dem Wust von Papier und warf sie Tschernowskij...