Schweitzer Fachinformationen
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Es kam ihr vor, als ob zwischen ihr und der Dachschräge Spinnweben wüchsen, so lange lag sie schon reglos da. Manchmal krabbelten die Spinnen über ihren Bauch und ihre Brust, obwohl sie die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen hatte. Dann zuckte sie zusammen und hielt den Atem an, bis sie ihn wieder leise und schnell ausstieß. Hier gab es keine Spinnen. Sie wusste das sicher, denn sie wienerte diese kleine Kammer fast jeden Tag, und wenn sie dabei ein Krabbeltier fand, trug sie es zum Fenster und entließ es in die Freiheit.
Ab morgen würde sie hier nie wieder sauber machen. Sie würde frei sein. Aber nur, wenn ihr Plan funktionierte. Angespannt hielt sie die Augen weit offen und lauschte. Benni schnaufte im Bett auf der anderen Seite der Kammer, unten knarzten die Holzbohlen. Vor dem Fenster pfiff der Wind in harten Böen. Der Ahornbaum warf sich hin und her, Schattenäste huschten über die Holzverkleidung über ihr.
Frühlingsstürme, hatte ihre Mutter immer dazu gesagt. Der mächtige Flügelschlag von neu erwachendem Leben. Und dann lachte sie, strich Jenni über den Kopf und erzählte ihr von ihrer Geburt. So wild hat der Wind geheult in der Nacht, als du geboren wurdest, meine Kleine. Und so still warst du.
Still war Jenni noch immer, seit sechzehn Jahren. In diesem Haus war es ratsam, den Mund zu halten. Seine Aufmerksamkeit nicht zu wecken, besonders nicht seine Wut.
Vorgestern hatte sie Geburtstag gehabt. Es war anfangs der perfekte Tag gewesen, mit blendender Morgensonne, die sie die Augen zukneifen ließ, und einem klaren Himmel wie ein aufgespannter Baldachin. Wenn sie aus dem Dachfenster schaute, konnte sie hinter dem Bahndamm und den Weizenfeldern den Horizont sehen. An manchen Tagen, wenn der Zug so laut vorbeirauschte, dass das ganze Haus vibrierte, riss sie das Fenster auf und schrie gegen das Brausen an, schrie, bis das Betongewicht auf ihrer Brust leichter wurde. Doch an diesem Geburtstag hatte sie nur die Weite tief in sich hineingesogen und genossen, wie die Sonne ihr Gesicht wärmte. Sie hatte sich wieder umgedreht und auf dem Nachtkästchen ihren Lieblingsnagellack entdeckt, L'Oréal Rosé, mit einer schiefen Papierschleife, auf die Ales gute gekritzelt war. Bestimmt hatte Benni den Nagellack geklaut. Trotzdem ließ das Geschenk ihr Herz hüpfen. Sie frühstückten zu zweit, und er malte ihr kichernd die Nägel an.
Als sie danach ihr Fahrrad durch die Einfahrt geschoben hatte, am Lastwagen mit den platten Reifen vorbei, war alles still geblieben, und auf dem Weg zur Schule blühten die wilden Tulpen. Für ein paar Stunden hatte sie das Gefühl, dass doch alles aushaltbar war, irgendwie.
Aber als sie am Nachmittag zurückkam, war Benni nicht zu sehen gewesen. Schwere Regenwolken hingen über dem Haus, und er werkelte an seinem LKW herum. Er begrüßte sie mit einer Ohrfeige, weil sie vergessen hatte, auf dem Heimweg die Einkäufe zu erledigen, und überhaupt, wo steckte der verdammte Bengel, der sollte doch den Wagenheber festhalten. Noch eine Ohrfeige landete in ihrem Gesicht, diesmal für ihren Bruder. Kein Wort sagte er zu ihrem Geburtstag. Und ihre Mutter war nicht da, um sie zu umarmen und ihr die Geschichte von den Frühlingsstürmen ins Ohr zu flüstern. Schon seit sieben Jahren nicht mehr.
Als sie in ihre Dachkammer stieg, polterte bei jedem Schritt wieder schwer der Betonklumpen in ihrer Brust. Am liebsten hätte sie das Fenster geöffnet und hinausgeschrien. Doch weil kein Zug fuhr, der ihre Schreie überdeckt hätte, rollte sie sich im Bett zusammen und bohrte die Finger in die vergilbte Zudecke. Lauschte, ob er ihr hinterherkam. Es gab schlimmere Dinge als Ohrfeigen, Monster, die hinter seinem Grinsen lauerten, wenn Benni nicht da war. Eine Finsternis, die sie verschluckte, würde sie jemals darüber nachdenken.
Im Haus blieb es still, auf dem Dach allerdings begann es zu prasseln. Bald tropfte der Regen mit einem satten Platschen in den Eimer unter der Schräge.
Von einem Tag auf den anderen war ihre Mutter verschwunden, ohne ein Wort. Weil Worte ihren Verrat nicht entschuldigen konnten. Ein Nachbar hatte sie gesehen, wie sie am Bahnhof in die Regionalbahn stieg, eine elegante Reisende mit Hut, Mantel und schwerem Koffer, wie in einem Film. Benni war noch wochenlang bei jedem Rattern aus dem Haus gerannt und hatte zum Bahndamm hochgestarrt, weil er hoffte, sie würde vorbeifahren. Als brausten die Züge und ihre Passagiere in einem endlosen Kreis um ihr Haus, als würde niemals jemand aussteigen oder verloren gehen. Seither war keiner von ihnen mehr Zug gefahren.
Nach Mutters Verschwinden war alles viel schlimmer geworden. Jenni wehrte sich nie, hielt es aus, goss ihr Herz in Beton, damit es nicht zersprang, auch für Benni.
Ihre Mutter war mutig gewesen, wunderhübsch und gemein.
Aber Jenni nicht. Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie es nur noch zwei Jahre aushalten musste. An ihrem achtzehnten Geburtstag wäre sie frei. Wenn sie gehen wollte, durfte er sie nicht mehr aufhalten.
Allerdings dauerten zwei Jahre ganz schön lange. Sie ballte die Fäuste und zählte die Tropfen, die in den Eimer platschten. Dreißig, hundert, zweihundert. Und plötzlich spürte sie, dass sie das nicht mehr aushalten konnte. Nicht siebenhundertdreißig Tage mit diesem Betonklumpen in der Brust. Sie fuhr aus dem Bett hoch, schnappte sich ihren Wanderrucksack und stopfte ihre Lieblingsjeans und zwei Pullis hinein.
War das schon Mut? Oder nur Verzweiflung?
Am nächsten Tag schwänzte sie die erste Schulstunde und radelte zum Bahnhof, um die Zugverbindungen nachzuschauen. Um sich anzuspornen, kaufte sie auch gleich ein Ticket. Für heute Nacht, dreiundzwanzig Uhr dreißig. Der letzte Regionalexpress in die Stadt. Am Nachmittag räumte sie ein letztes Mal auf und packte den Rucksack sorgfältiger, mit Regenjacke, Unterwäsche und Zahnpasta.
Jetzt lag sie hier, angespannt wie ein Tier auf der Flucht. In eineinhalb Stunden würde der Zug gehen. Sie musste ihn erwischen! Einen weiteren Fluchtversuch würde sie sich nicht trauen. Sie hatte jetzt schon so viel Angst. Ihr Plan war Murks, irgendwas würde bestimmt schiefgehen.
Sie lauschte. Das alte Haus war so hellhörig, dass sie jede einzelne Holzbohle im Wohnzimmer knarren hörte. Er wanderte dort unten murmelnd durch seine Schwaden von Zigarettenrauch.
Früher war er tags und nachts Touren gefahren mit seinem Lastwagen - für die Kinder eine Atempause. Doch erst ging angeblich der Wagen kaputt, dann kam raus, dass sie ihm bei der Spedition gekündigt hatten. Betriebsschließung.
Jenni hörte sie im Sportverein über ihn reden. Er hatte einen guten Ruf in der Kleinstadt. Der Fußballtrainer, der lustige Kegelkumpel, der Vetter vom Bürgermeister. Und auch noch alleinerziehender Vater.
Niemanden interessierte es, wie unerträglich es für sie und Benni zu Hause geworden war. Wenn er nur endlich Ruhe gäbe!
Auf der anderen Seite der Kammer stieß ihr Bruder ein Wimmern aus, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie hielt den Atem an, war ganz still.
Benni. Er hatte den gleichen leichten Schlaf wie die Rehkitze, die sie im Sommer auf den Weizenfeldern hinter den Gleisen aufstöberten. Die erst hochschreckten und dann erstarrten, den Kopf zwischen den Vorderbeinen ausgestreckt. Als ob sie hofften, unsichtbar zu sein.
Wenn Benni aufwachte, dann auch immer mit aufgerissenen Augen und einem Japsen, als wäre er noch fünf und nicht zwölf. Er sah sogar aus wie ein Rehkitz, mit den braunen Augen und dem dunkelblonden Wuschelhaar, der schmalen, hochgeschossenen Gestalt. Er hielt zwar nicht mehr nach Mutter Ausschau, aber jeden Abend streute er Futter an der Hecke vor dem Bahndamm aus, für die Eichhörnchen, Rotkehlchen und Meisen. Und wenn sie in der Dämmerung beide im Bett lagen, das Dachfenster gekippt, erkannte er die einzelnen Zugtypen am Rattern und die Vögel am Gesang.
Heute Nacht durfte er auf gar keinen Fall aufwachen.
Ihn zurückzulassen war das Allerschlimmste am ganzen Plan. Aber wenn sie ihn mitnähme, würde die Polizei sie erwischen, so wie damals. Zwei Beamte hatten sie im Streifenwagen nach Hause gefahren und danach im Vorgarten ein Bierchen mit ihrem Vater getrunken.
Seinen Bälgern würde er nach so einer Aktion die Leviten lesen, hatte der eine gesagt und ihrem Vater zugeprostet. Mit einem Augenzwinkern. Am nächsten Morgen hatten die Blutergüsse auf Jennis ganzem Rücken gebrannt, während sie auf dem Stuhl im Büro der Schulpädagogin saß und sich noch eine Strafpredigt anhörte.
Deshalb musste sie allein verschwinden, so wie Mutter. Aber immerhin hatte sie Benni einen Brief mit Abschiedsworten in der Schultasche versteckt. Außerdem würde er drei Snickers in seiner Trainingsjacke finden und noch mal drei in der Scheune, bei den mit Kies gefüllten Wasserflaschen, die er als Gewichte benutzte. Männer fürchten sich auch, nur anders. Das hatte Mutter ihr einmal erklärt, während sie ihre Augenbraue mit einer Tiefkühlpackung Erbsen kühlte. Wenn sie sich bedroht fühlen, müssen sie noch einen draufgeben. Zeig ihnen also nie, dass du stark bist.
Jenni hatte sich nie stark gefühlt, und trotzdem hatte ihr Vater immer noch einen draufgegeben. Benni war ein Junge, außer Prügel hatte er nichts zu befürchten. Er würde weiter heimlich trainieren, weil er es ihr versprochen hatte. Das war das Einzige, was sie für ihn tun konnte: Er sollte stark werden, so wie Russell Crowe im Actionfilm Gladiator, den sie letztes Jahr zusammen im Kino gesehen hatten.
Irgendwann würde sich Benni wie der Gladiator nichts mehr gefallen lassen,...
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