Schweitzer Fachinformationen
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Ein guter Hotelier erfüllt seinen Gästen alle Wünsche.
Und wenn eine russische Fürstin abends um zehn auf der Mansardenetage Quartier nehmen möchte, dann macht er ihr das möglich.
Florian Fernsby war ein guter Hotelier. Der beste.
Ich stelle es mir so vor: Im Foyer war der Kronleuchter aus blankem Messing bereits gelöscht, die Wandlampen gedämpft, nur über dem Empfangstresen brannten ruhig drei Kerzen. Aus der Bel Etage hörte man noch leise Schritte und Stimmen, aus dem Souterrain ganz entfernt das Scherzen der Postillione, die in der Küche ihren Malanser tranken und bald im Nebengebäude schlafen gehen würden, denn am nächsten Tag hatten sie eine weitere lange Strecke zu bewältigen. Es war Sonnenschein vorausgesagt - ein Glück auch für meine eigenen Pläne.
Ich stelle es mir also so vor: Flo Fernsby ging, wie er es jeden Abend tat, die Gästeeinträge durch. Sein Posthotel Sumbriva war keines der Grandhotels, die man über den Bergpass im Engadin fand, doch er brachte seinen Gästen stets eine ganz persönliche Wertschätzung und Dienstfertigkeit entgegen. Sie liebten ihn dafür und blieben bis zum Ende des Sommers, wenn sich die Lärchen langsam gelb färbten.
Ein leises Räuspern ließ Flo aufblicken. Er hatte nicht gehört, wie sich Baronin von Rothenfels genähert hatte, die Hofdame der russischen Fürstin. Sie trug nicht mehr das schwere Gewand aus grauer Seide, in dem sie zum Dinner erschienen war, sondern ein schlichteres, dunkelblaues Kleid, in dem sie sich um die abendlichen Wünsche ihrer Herrin kümmerte, und eine wärmende Paisley-Stola um die Schultern.
Meiner bescheidenen Meinung nach sind die besten Bediensteten so zurückhaltend, dass man nicht durch jeden Schritt gestört, aber auch nicht so lautlos, dass man durch ihre jähe Anwesenheit erschreckt wird. Doch vielleicht gibt es in der russischen Aristokratie andere Vorlieben als in der oberen Mittelschicht Englands.
Die Fürstin, sagte die Baronin auf Französisch, könne in der ihr zugewiesenen Suite nicht schlafen. Das Rauschen des Wasserfalls vor dem Fenster sei einfach zu laut für ihre Ohren.
Für Flo war das keine neue Klage. Zwar liebten die meisten Gästen das Sprudeln des Paslerbaches, kamen sie doch in die Schweiz, um den Sommer in der Natur zu genießen. Aber manchen war er eben doch zu laut. Dann gab Flo ihnen ein anderes Zimmer.
»Ich schaue sofort .«, begann er.
Doch die Baronin unterbrach ihn. Die Fürstin habe sich bereits im Rest des Hotels umgesehen, und die einzigen Zimmer, in denen sie Ruhe finden würde, seien die Dienstbotenzimmer im Nordflügel.
Flo war ein zu guter Hotelier, um auch nur die Augenbrauen hochzuziehen oder gar nachzufragen, ob die Fürstin tatsächlich bis unters Dach gestiegen sei und die Nachtruhe seines Personals gestört habe.
»Das können wir selbstverständlich gern arrangieren, Baronin«, sagte er stattdessen und strich sich über die glatte Wange, das einzige Zeichen für seine Verwunderung. »Aber unsere Dienstbotenzimmer sind doch bei weitem nicht so komfortabel wie die Suite in der Bel Etage.«
Die Fürstin residierte schließlich im teuersten, größten Zimmer des ganzen Hotels, mit dem neuesten, bequemsten Mobiliar und dem besten Blick hinaus auf die Straße, so dass man immer sah, wer kam und ging.
»Die Fürstin braucht nur wenig, um sich wohlzufühlen«, erwiderte die Hofdame. »Allerdings muss das Bett aus der Suite mit umgezogen werden. Die Vorhänge ebenfalls, und die Fenster sind schmutzig. Wir brauchen vier Räume, aber lassen Sie am besten den ganzen Nordflügel auf der Etage räumen.«
Ich sehe Flos Hotel noch genau vor mir: Zartblau war das eindrucksvolle, gemauerte und verputzte Gebäude damals im Jahr 1875, zwei Türmchen zierten das Ganze, und in großen, goldverzierten Lettern prangte der Name auf der klassizistischen Fassade. Eine schwere, hölzerne Eingangstür in der Mitte, zum Schutz vor dem wilden Alpenregen mit einem Vordach versehen, das gleichzeitig als Balkon für die Suite darüber diente. Drei Etagen, vier Fenster nach links, vier nach rechts, zwei in die Tiefe. Das machte insgesamt fünfzig Zimmer, achtzig Betten. Auf jeder Etage gab es beheizte Bäder. Im Parterre den Speisesaal mit einem Pianoforte, ein separates Musikzimmer für Konzerte, einen Herrensalon zum Lesen und Billardspielen, im ersten Stock einen Damensalon und eine feine, internationale Bibliothek, in der kostbare Bildbände mit Fotografien der Alpen standen.
Ganz oben im Dachgeschoss schließlich lagen die niedrigen Mansardenzimmer für die Dienstmädchen, über eine separate Stiege erreichbar. Auf Flos Schreibtisch breiteten sich in diesem Jahr die kolorierten Pläne für einen Anbau mit weiteren Zimmern und einem noch größeren Konzert- und Festsaal aus. Einen Personenlift sollte es auch geben. Die letzten Sommer waren einträglich gewesen und die kommenden sahen vielversprechend aus. Mit dem Bau wollte er im September beginnen, nach Ende der nur zweiundfünfzig Tage dauernden Saison. Mein Mann Henry, ein begeisterter Hobbyarchitekt, hatte am Tag zuvor noch mit ihm über diese Pläne gefachsimpelt.
»Selbstverständlich«, sagte Flo also zur Baronin von Rothenfels und tat das, was ein guter Hotelier machte. Wünsche erfüllen. Er pochte leise an die Zimmertür seiner Hausdame Elvezia Biert, die nach wenigen Sekunden öffnete und nach zwei Minuten angezogen und frisiert neben ihm stand.
Dann wurden in den Personalzimmern die kleinen Fenster geputzt, die Samtvorhänge an provisorischen Halterungen aufgehängt, ein weicherer Teppich ausgelegt, die Waschschüssel gegen eine ohne Sprung ausgetauscht, gute Bienenwachskerzen angezündet, das Bett mit der weichen Matratze aufgeschlagen und das Jesuskreuz abgehängt, denn die Fürstin war russisch-orthodox und wollte ihre eigene Ikone über der Schlafstatt. Die Baronin und zwei weitere Zofen trugen eigenhändig die prachtvollen Kleider der Fürstin hinüber, ein raschelndes Bukett aus Farben und Stoffen.
Keine Stunde hatte es gedauert. Flo gab der Baronin von Rothenfels Bescheid. Hinter ihr in der teuren Suite stand die Fürstin im halbleeren Zimmer, das knielange Haar aufgelöst, in Plüschpantöffelchen.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie auf Französisch. »Ein grässlicher Bach, aber ein guter Hotelier. Ich werde Sie weiterempfehlen.«
Gegen halb zwölf hörte Flo die letzten Schritte über ihren Köpfen. Die Dienstmädchen, die der unangekündigte Besuch auf ihren Zimmern erst erschreckt und dann doch amüsiert hatte, kamen für die zwei betreffenden Nächte bei Familien im Dorf unter. Zwei von ihnen sahen es als Abenteuer und wollten bei den Pferden schlafen. Flo gestattete es und hoffte, sie würden noch eine freie Box finden, denn die Fürstin war mit drei eigenen Vierspännern angereist, edlen Apfelschimmeln allesamt, und zwar zur selben Zeit wie die reguläre sechsspännige Post, die weitere Gäste auf der Durchreise mitgebracht hatte. Die Kutschen und Fourgons hatten sich am Nachmittag auf der Straße gestaut, bis sie, effizient wie immer, von Flos Bediensteten in den Ställen des Hotels untergebracht worden waren.
Elvezia Biert verabschiedete sich erneut für die Nacht, und Flo dankte ihr für ihre Hilfe. Langsam ging er durchs Haus, ein letzter Rundgang. Er prüfte den Knauf an einer der Hintertüren, der letzte Woche gewackelt hatte und nun wieder festsaß. An einer Ecke des Korridors strich er über die Relieftapete. Sie hatten in dieser Saison gleich drei neue Pagen, die an dieser Stelle öfter mit dem Gepäck an der Wand entlangschrappten. Zugegebenermaßen war die empfindliche Tapete auch nicht besonders geeignet für den Korridor, aber sie sah mit ihrem Lilienmuster so gut aus, dass Flo sie unbedingt hatte haben wollen. Die Schuhe der Gäste standen frisch geputzt und gewichst vor den Zimmern, wo die Herrschaften sie morgen früh finden würden. Mit einem sauberen Tuch wischte Flo über den oberen Rand eines ohnehin blitzblanken Bilderrahmens und dann, als er wieder nach unten ging, über das breite Treppengeländer. Eine Maßanfertigung des Dorftischlers Beat Biert, dunkles Holz wie Schokolade, mit feinen Schnitzereien, das durch den ständigen Gebrauch nur schöner zu werden schien.
Nur die Postillione und Kondukteure saßen noch in der Küche. Als Flo den Kopf durch die Tür steckte, wendete sich ihm ein Dutzend fröhlicher Mienen zu. Er kannte sie nach über zehn Jahren alle, nur ein Gesicht überraschte ihn.
»Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Fernsby«, rief Werner Siemens.
Flo lächelte.
Ich neige beim Schreiben nicht zur Schwülstigkeit, doch eins muss ich sagen: Wenn Flo lächelte, fühlte man sich im Schein einer milden Sonne gebadet.
Siemens war mit seiner Frau auf der Reise aus dem preußischen Berlin nach Italien und machte in Sumbriva Station. Mit seinen knapp sechzig Jahren ließ er sich einen Bismarckbart stehen, seine Haare wogten auf dem Kopf wie ein Unwetter im Ärmelkanal, und hinter der Nickelbrille funkelten weinselige Augen.
Die Küche war warm. Der Koch hatte bis spät am Abend ein Ragout köcheln lassen, das sie morgen zum Mittag servieren würden. Auf dem Tisch stand ein ganzer Haufen fast heruntergebrannter Kerzen, die sich die Männer aus allen Ecken zusammengesucht hatten. Ihre Schatten tanzten an den Wänden, als wäre ein großes Fest im Gange.
Flo zog sich einen Stuhl heran. Er saß abends gern noch eine Weile mit den Postillionen hier und hörte sich die Geschichten von ihren Reisen an. Siemens, so stelle ich es mir vor, klopfte Flo auf die Schulter. Männer klopfen einander immer auf die Schultern, und je fester sie klopfen,...
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