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Kapitel 1
Vier Jahre und drei Monate später
Die Abendsonne glitzerte auf der Wasseroberfläche der Schlei, und der Maiwind streichelte Maries Nacken, während sie vom Lagerraum für die Brautkleider ihres mobilen Brautladens zu ihrer Wohnung in der Kappelner Innenstadt radelte. Sie hätte den malerischen Uferweg nehmen können, zog jedoch die parallel dazu verlaufende Straße vor. Die unmittelbare Nähe zum Wasser behagte ihr nicht, es in sicherer Entfernung zu wissen, schon eher. Dankbar, dass es aufgehört hatte zu regnen, drosselte sie das Tempo und näherte sich der vierspurigen Klappbrücke, welche die beiden Teile Kappelns miteinander verband und sich in wenigen Minuten öffnen würde. Segler und Motorboote warteten bereits auf ihre Weiterfahrt, dümpelten geduldig im Auf und Ab des Wellengangs.
Im März erwachte die Kleinstadt, erste Touristen reisten an, und um Christi Himmelfahrt startete die Saison mit den Heringstagen durch, einem über die Grenzen Nordfrieslands hinaus bekannten Stadtfest. Heute, in der Mitte des Wonnemonats, lockte der Frühling die Menschen aus ihren Häusern, Hotels und Ferienwohnungen. Auch um kurz vor acht herrschte noch reges Treiben in den Boutiquen und Restaurants nahe der Brücke. Wieder einmal bewunderte Marie die Technik und die schlauen Köpfe, die sich diese Konstruktion ausgedacht hatten, und kam sich unbedeutend vor. Die kleine Marie Freitag, die bloß Brautkleider verkaufte. Das war keine Wissenschaft. Hatte nichts mit Mathematik, Statik oder Architektur zu tun. Aber dafür hatte Marie ohnehin nie etwas übrig gehabt. Sie wollte mit Menschen arbeiten, nicht mit Zahlen und Fakten. Bei ihr ging es um Liebe und Glück. Und um Magie.
Es war erst vier Jahre und drei Monate her, als Marie den Glauben an all das verloren hatte. Nachdem ihr Verlobter Simon gestorben war, hatte ihr Geschäftskonzept für sie keinen Sinn mehr ergeben und geradezu an Betrug gegrenzt. Bis dass der Tod uns scheidet - einfach lächerlich. Während der ersten Wochen, die sie fast ausschließlich in ihrem sicheren Kokon unter der Bettdecke verbracht hatte, war sie im Kopf immer wieder jenen Tag durchgegangen, an dem sie selbst ihr Brautkleid gekauft hatte. Es stand für den Traum von ewiger Liebe. Sie wollte, dass Simon weinte, wenn er sie darin sah. Jahre später würde sie es vom Dachboden ihres Hauses holen und sich an jenen wunderbaren Moment erinnern, in dem sie Ja zueinander gesagt hatten. Diese Aufregung, die Vorfreude, die naive Gewissheit: Das Beste kommt erst noch. Ihr Leben hatte in bunten Farben geleuchtet, ehe jemand einen Eimer voll schwarzer Tinte darüber gegossen hatte und sie keine Braut mehr gewesen war, sondern ein einziger Klumpen lähmender Schmerz.
Auch heute fühlte sie sich manchmal kraft- und leblos, doch es war nichts im Vergleich zu der Zeit direkt nach Simons Tod. In dieses finstere Tal wollte Marie nie mehr zurückkehren.
Sie erinnerte sich nicht mehr an das Datum, wann es passiert war, vielleicht eineinhalb Jahre später. Unspektakulärer und klischeehafter hätte der Auslöser nicht sein können. Möglicherweise wusste Marie deshalb noch genau, dass sie im Wohnzimmer ihrer Mutter saß und mit ihr gemeinsam eine dieser Brautkleidsendungen ansah, die sie eigentlich gar nicht mehr ertrug. Aber Mama war dermaßen bemüht, ihr neue Hobbys zu suchen, sie mit Ratgebern zu überschütten und ihr Selbsthilfegruppen vorzuschlagen, dass Fernsehen die einfachste Lösung schien, ihr entgegenzukommen. Und auf einmal fühlte sich Marie heller. Der Wunsch, diese Brautkleid-Magie auch wieder zu empfinden und an die Liebe zu glauben, war endlich zurückgekehrt. Nicht für sie selbst, sondern für die Bräute, die sich ihr anvertrauten. Schließlich hatte sie aus gutem Grund vor fünf Jahren den Entschluss gefasst, sich als Brautberaterin selbstständig zu machen. Und was ihr eben noch undenkbar erschienen war, nämlich nach ihrem Verlust ihr Geschäft jemals fortzuführen, formte sich in den folgenden Wochen vom bloßen Wunsch zum festen Vorhaben: Brautzauber - Maries mobiler Brautladen würde irgendwann weitergehen. Immerhin war dieses Projekt auch ein Teil von Simon, denn er hatte erheblich mit dazu beigetragen.
In diesem Moment klingelte Maries Handy. Dankbar für den kurzen Zwischenstopp zog sie das Telefon aus der Gesäßtasche und stellte verwundert fest, dass ihre Mutter dran war. Per Videoanruf, was höchst ungewöhnlich war.
»Hallo«, begrüßte sie Mamas Stirn und die Schlafzimmerlampe ihrer Eltern. Aus unerklärlichen Gründen schaffte ihre Mutter es nie, ihr Gesicht mit der Kamera einzufangen, und wenn, dann nur im ungünstigsten Winkel, den man sich vorstellen konnte. Von unten. »Ich kann dich nicht sehen.«
»Ich lerne das wohl nie.« Bett, Mamas Schulter, Tante Agnetha .
»Hallo, Tante Agnetha«, schickte Marie an ihre Großtante gerichtet hinterher.
»Gib mir mal das Telefon.« Kurz darauf erschien Agnetha auf dem Bildschirm, die roten Lippen zur missbilligenden Grimasse verzogen. »Du musst deine Mutter unbedingt von diesem Fummel abhalten«, wies sie Marie an und wechselte geschickt die Kameraeinstellung, sodass Mama im Vollbildmodus gezeigt wurde. Sie posierte in einem dunkelblauen Spitzen-Etuikleid vor dem Spiegel. »Sie sieht aus wie eine Presswurst!«
Schöner wäre gewesen, Mama hätte selbst erkannt, dass das hautenge Kleid ihre weiblichen Rundungen etwas zu deutlich hervorhob. Diese Chance war nun wohl dahin. Offensichtlich hatte Tante Agnetha ihr ohnehin schon rudimentäres Feingefühl zu Hause vergessen. Marie beschloss, die unsachliche Kritik auszublenden und sich auf ihre Mutter zu konzentrieren. »Wie findest du dich denn selbst?«, fragte sie also.
Mama strich über ihren Bauch, die Hüften, zog den Ausschnitt zurecht. »Bis jetzt fand ich's eigentlich ganz gut«, erwiderte sie, klang jedoch keineswegs überzeugt.
Marie räusperte sich, schaltete vom Tochter- in den Beraterinnenmodus um. »Wenn ich das richtig sehe, hast du da eine recht grobe Spitze mit U-Boot-Ausschnitt. Das Kleid geht dir bis ans Knie. Reicht dir das von der Länge?«
»Presswurst«, murmelte Tante Agnetha, wechselte erneut die Perspektive und steckte sich einen Schokoladenkeks in den Mund. »Da gibt's nichts schönzureden.«
»Tante Agnetha!« Marie liebte ihre Großtante, die eigentlich Agnes hieß, jedoch vehement darauf bestand, wie ihr großes Idol aus der Popgruppe ABBA gerufen zu werden. Leider merkte die alte Dame nie, wann sie es übertrieb. »Du hast mich nach meiner Meinung gefragt. Also hör mir bitte zu.«
»Ich habe dich darum gebeten, deiner Mutter diesen Stofffetzen auszureden. Nicht mehr und nicht weniger.«
Marie atmete durch, seufzte und nickte einer Frau mit Kinderwagen zu, die ihr skeptische Blicke zuwarf. »Für welchen Anlass soll das Kleid denn sein?«, fragte sie schließlich.
»Wir gehen doch heute Abend auf die Lesung von dieser Gisela Meierhof. Die Schriftstellerin, deren Romandebüt neulich verfilmt wurde. Stand groß in der Zeitung, hast du das nicht gelesen? Erinnerst du dich nicht, dass unsere Straße eine Woche lang für Autos gesperrt war?« Warum klang Mama jetzt so vorwurfsvoll? Es war schließlich nicht Maries Schuld, dass sich ihre Großtante mal wieder im Ton vergriff.
»Können wir mal beim Thema bleiben?«, ging Tante Agnetha nun dazwischen. »Du bist doch der Profi, Marie. Jetzt sag schon deine Meinung.«
Aus Respekt ihrer Großtante gegenüber und vor allem, um die Gefühle ihrer Mutter zu schützen, kämpfte Marie um Beherrschung. Inmitten der Passanten und mit dem Geschrei der Möwen im Hintergrund stellte sie sich vor, in einer Kundenberatung zu sein. Erfahrungsgemäß waren die Begleiterinnen oft schwieriger zu überzeugen als die Bräute, und Tante Agnetha war ein besonders harter Brocken. Aber es stimmte schon, das Kleid war nicht für ihre Mutter gemacht. Allerdings bedurfte es ein wenig mehr Mühe, ihr gegenüber möglichst neutral zu bleiben. »Was ist denn mit dem Hosenanzug, den wir neulich zusammen gekauft haben?«, fragte sie. »Den hast du noch gar nicht getragen.«
»Dir gefällt das Kleid also nicht«, schlussfolgerte Mama. »Du findest auch, ich sehe wie eine Presswurst aus, oder?«
Marie zögerte. Sei neutral. Verpack die Wahrheit in hübsches Papier mit Schleife und . »Ein bisschen vielleicht«, räumte sie ein und schob eilig hinterher: »Aber es liegt nicht an dir, sondern am Kleid.«
»Ein Glück«, entfuhr es Tante Agnetha. Sie klang erleichtert, während Mama geknickt mit den Schultern zuckte. »Andersfalls hätte ich dir geraten, entweder deinen Geschmack oder deine Berufswahl zu überdenken. Wobei . an deiner Argumentation könntest du noch feilen. >Es liegt nicht an dir, sondern an mir.< Das sagt man auch zu Männern, bei denen man sich nicht traut, mit der Wahrheit rauszurücken. Himmel, Marie.«
Marie hatte genug. »Wann beginnt die Lesung? Ich könnte in zwanzig Minuten bei dir sein und deinen Kleiderschrank mit dir durchforsten, Mama. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich übrigens ein Spitzenoberteil in Puderrosa im Lager. Es würde wunderbar zum Hosenanzug passen.«
Ihre Mutter seufzte resigniert und verzog die Lippen zu einem aufgesetzten Lächeln. »Lieb gemeint, wir müssen jedoch schon in einer halben Stunde los. Ihr könnt euch voneinander verabschieden, ich ziehe mich im Bad um.«
»Tut mir leid, Mama. Aber ich möchte dir auch nichts vormachen und riskieren, dass du dich nachher unwohl fühlst.«
»Oder dich lächerlich machst«, fügte Tante Agnetha hinzu, doch Mama war bereits...
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