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Unterwegs zurück nach Yokohama, hin und her geschaukelt von der Toyoko-Linie, sah Kaede ihr Gesicht in der Spiegelung des Wagonfensters und stellte fest, dass es völlig ausdruckslos war. Das Lächeln, das sie sich gerade noch selbst verordnet hatte, war spurlos verschwunden.
Die Abenddämmerung warf ein leichtes Rot über die Landschaft, als hätte sie jemand mit einer hauchdünnen Schicht Lippenstift betupft. Es war Herbstanfang und anstelle der für den japanischen Sommer typischen, eindrucksvollen Haufenwolken, war der Himmel übersät mit weißen Flecken verschiedener Form und Größe.
Plötzlich stieg eine Erinnerung an ihren Großvater in Kaede hoch.
Dreiundzwanzig Jahre zuvor; Kaede war noch im Kindergarten.
Die beiden saßen auf der Veranda, sie auf Großvaters Schoß, und betrachteten den tiefroten Himmel. Großvater blickte seine Enkelin aus glasklaren, intelligenten Augen an.
»Was meinst du, Kaede? Wonach sehen die drei Wolken dort für dich aus? Versuch mal, dir eine Geschichte auszudenken, in der sie alle vorkommen.«
Heute wusste Kaede, dass die Aufgabe Ähnlichkeit mit einer sandai-banashi hatte, wie sie im rakugo üblich war.
Der Erzählkünstler ließ sich dabei vom Publikum drei Begriffe geben, mit denen er aus dem Stegreif eine humorvolle Erzählung spann. Vermutlich wollte Großvater damit damals Kaedes Fantasie beflügeln.
Jedenfalls stand diese Art der Herausforderung im Einklang mit seinen pädagogischen Überzeugungen.
Die vierjährige Kaede antwortete, ohne zu zögern:
»Die Wolke dort drüben ist ein klitzekleiner Opa. Die andere da, die ist ein flach gedrückter Opa. Und die letzte, die ganz große, hmm, das ist ein Opa, der viel dicker ist als du.«
»Also wirklich! Was soll man denn daraus für eine Geschichte machen!«, beschwerte sich Großvater, lachte dabei aber übers ganze Gesicht. Dann, ganz ohne Vorbereitung, erzählte er an ihrer Stelle eine Geschichte mit dem Titel Die drei Opas, die sie gehörig ins Staunen versetzte.
An die Details konnte Kaede sich nicht mehr erinnern. Nur dass der »dicke Opa« den weltweiten Vorrat an Erkältungsmitteln auffutterte, weil er ihn für Zucker hielt, hatte sie behalten. Obwohl der Vielfraß dafür von den anderen ausgelacht wurde, war ihm am Ende das längste Leben von allen beschert. Wahrscheinlich war die Geschichte als eine Art Lektion für Kaede gedacht, die damals den bitteren Geschmack von Medizin in Pulverform nicht ausstehen konnte. Jedenfalls war Großvater ein so begnadeter Erzähler, dass das kleine Mädchen vor Freude die Hände zusammenschlug.
»Da, schau mal, Kaede!«
Als sie nach oben blickte, war nur noch die große Wolke, >Moppel-Opa<, am Himmel zu sehen. >Knirps-Opa< und >Flachkopf-Opa< hatten sich längst verflüchtigt. Genau wie in seiner Geschichte. Ungläubig starrte Kaede immer wieder zuerst ihren Großvater, dann den Moppel-Opa am Himmel an.
Heute war ihr klar, dass er damals wohl immer wieder ein Auge auf die Wolken geworfen haben musste, während er an seiner Erzählung bastelte. Kein Zweifel, dass die Geschichte ein ganz anderes Ende gefunden hätte, wären Knirps-Opa oder Flachkopf-Opa am längsten zu sehen gewesen.
»Komm, du musst weitererzählen! Wenn nicht, dann .-« Kaede griff nach oben und zog an dem Haar, das aus einem Muttermal an seinem Adamsapfel wuchs.
In ihrem Zugabteil erinnerte sich Kaede, wie sie damals ganz aus dem Häuschen gewesen war, dass sich das Haar so leicht hatte ausreißen lassen.
Am Ende war das vielleicht der Faden, der seinen Verstand zusammenhielt.
Es war gerade erst ein halbes Jahr her, dass sie ihm zum ersten Mal etwas angemerkt hatte. Bei einem gemeinsamen Spaziergang war Kaede aufgefallen, dass er deutlich kleinere Schritte machte als sonst.
»Hast du vielleicht heimlich zugenommen?«, hatte sie gefragt. »Du kommst ja gar nicht hinterher.«
Ihr Großvater hatte nur seinen Kopf zur Seite gelegt und mit einem Hauch von Selbstironie auf den Lippen erwidert, dass ihn sein Alter wohl endlich einholen würde.
Anfangs war Kaede tatsächlich überzeugt, dass er bloß ein wenig Altersspeck angelegt hatte oder einfach in die Jahre gekommen war. Oder vielmehr hatte sie sich dazu entschlossen, das zu glauben. Doch von diesem Tag an war es mit seinem Zustand rasant bergab gegangen.
Die Kaffeetasse, ohne die er selten anzutreffen war, zitterte in seinen Händen. Wenn Kaede ihn zu Hause besuchte, döste er immer nur in seinem Studierzimmer vor sich hin. Bewegte er sich doch einmal, dann schlurfte er träge und mit hängenden Schultern umher.
Das deutlichste Anzeichen aber waren die Ereignisse jenes Tages. Kaede würde diesen Schock ihr ganzes Leben nicht vergessen: Mitten in der Nacht läutete ihr Handy. Als sie abhob, sich den Schlaf aus den Augen reibend, fiel es dem jungen Mann am anderen Ende der Leitung sichtlich schwer, auf den Punkt zu kommen.
»Ich, ähm, bin Sanitäter«, stellte er sich vor. »Spreche ich denn mit Frau Kaede? Sehr gut. Also . Ich rufe Sie an, weil wir an der Wand einen Zettel gefunden haben, auf dem Sie als Notfallkontakt angeführt sind. Wissen Sie, Ihr Großvater hat unter 119 einen Notruf getätigt . Und, nun ja .«
»Ist ihm etwas passiert?«
»Er hat am Telefon behauptet, Sie würden blutüberströmt am Boden liegen.«
In der Klinik, die Großvater üblicherweise aufsuchte, wurde eine Verdachtsdiagnose auf Parkinson gestellt, aber da sich nichts Genaues sagen ließ, legte man ihnen nahe, ein größeres Krankenhaus aufzusuchen.
In der Universitätsklinik erfolgte eine Computertomografie und Großvater wurde noch einmal gründlich untersucht. Beiläufig verkündete eine junge Ärztin das Ergebnis. Ganz so, als wäre Großvater, der im Sessel neben Kaede eingedöst war, gar nicht anwesend.
»Ihr Großvater leidet unter Lewy-Körper-Demenz.«
Kaede wollte es anfangs nicht wahrhaben. Ausgerechnet ihr Großvater, dessen scharfer Verstand ihn stets ausgezeichnet hatte und der erst vor Kurzem einundsiebzig geworden war, sollte Demenz haben? Aber bei der Durchsicht der Informationen, die sie sich online zusammengesucht hatte, musste sie einsehen, dass seine Symptome allesamt auf die Diagnose passten.
Sie erfuhr, dass die Zahl der Demenzerkrankungen allein in Japan bereits viereinhalb Millionen überschritten hatte und dass mit diesem allgemeinen Begriff eigentlich mehrere Krankheiten gemeint waren.
Die herkömmliche Bezeichnung >Demenz< ließ sich grob in drei Untergruppen einteilen: Die häufigste Erkrankung, unter der etwa siebzig Prozent der Patienten litten, war Morbus Alzheimer, die durch eine übermäßige Ablagerung von Proteinen namens Beta-Amyloiden entstand. In den meisten Teilen der Welt dachte man wohl an dieses Krankheitsbild, wenn man das Wort Demenz hörte. Die zweithäufigste war die vaskuläre Demenz, die durch die Folgen eines Schlaganfalls oder eines Hirninfarktes verursacht wurde und etwa zwanzig Prozent aller Demenzerkrankungen ausmachte.
Häufige Symptome in beiden Fällen inkludierten Gedächtnisstörungen, bei denen die Patienten immer wieder dieselben Dinge erzählten, außerdem Desorientierung und einen Verlust des Gespürs für Zeit und Ort. Es war daher auch nicht selten, dass Patienten die Orientierung verloren und draußen umherirrten.
Und dann war da noch die Lewy-Körper-Demenz, mit der Großvater diagnostiziert worden war und die in etwa die restlichen zehn Prozent ausmachte. Nach ihrem englischen Namen, dementia with Lewy bodies, wurde sie auch kurz DLB genannt.
Diesen Namen hatte die Erkrankung erst 1995 erhalten, was sie zu einer relativ jungen Entdeckung machte. In den letzten Jahren hatte sie in Japan unter dem Schlagwort >Dritte Demenz< Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nicht nur im klinischen Bereich, sondern auch in der Pharmakologie schien die Erforschung von DLB rasch voranzuschreiten.
Im Gehirnstamm der Patienten hatte man kleine Strukturen ausmachen können, die tiefrot gefärbten Spiegeleiern glichen: die sogenannten Lewy-Körperchen. Diese >kleinen Spiegeleier< wiederum waren es, die Parkinson-ähnliche Symptome wie zitternde Glieder und Gehstörungen auslösten. Auch lautes Reden im Schlaf, eine sogenannte REM-Schlaf-Verhaltensstörung, wurde dadurch verursacht. Zudem litten die Erkrankten unter einem grundsätzlich verzerrten Schlafrhythmus sowie kognitiven Störungen der räumlichen Wahrnehmung. Sie schliefen also am helllichten Tag ein und verloren die Fähigkeit, Entfernungen einzuschätzen. Doch das mit Abstand eigentümlichste Symptom von DLB - eines, das bei den anderen Arten von Demenz nicht auftrat - waren zweifelsfrei die Halluzinationen.
Ob diese Visionen in Farbe waren oder nicht, war von Person zu Person verschieden, doch alle Patienten hatten gemein, dass sie Trugbilder sahen, die sie als überaus deutlich und völlig lebensecht beschrieben. So war es etwa denkbar, dass ein Patient morgens aufwachte und überzeugt war, sich mit zehn anderen Personen in einem Raum zu befinden, die ihn schweigend und ohne jede Gemütsregung anstarrten. Oder man erblickte beim Abendessen eine Riesenschlange am Esstisch, die sich in aller...
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