Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Im Jahre des Herrn 1982 blühten in der Aprilsonne auf dem Gelände des Traiskirchener Flüchtlingslagers die Kastanien. Sie standen dort nicht zufällig. Die Kastanie, freilich nicht jene echte, sondern die Rosskastanie, Aesculus hippocastanum, war der typische Baum Altösterreichs, der vor alle öffentlichen Gebäude, in Städte und Alleen gepflanzt wurde, wohin die Macht des Kaisers auch reichte. Noch heute könnte man an ihnen leicht die Ausdehnung der k.u.k. Monarchie kartografieren, denn Kastanien sind beständig, pflanzen sich ohne menschliches Zutun fast nicht fort und wurden nach dem Fall des zweiköpfigen Adlers kaum noch ausgesetzt - in Lemberg, Prag und Sarajewo markieren sie bis heute, was dem Kollektivgedächtnis allmählich verloren geht. Weshalb diese bizarren Bäume der alten Monarchie so ans Herz gewachsen waren, ist schwer zu beurteilen. Wahr ist jedenfalls, dass der österreichische Gesandte in Istanbul namens Busbeck sie 1588 das erste Mal ins westlichere Europa schickte, und zwar just nach Wien an die beiden Botaniker Clusius und Mattioli. Ebenso wahr ist allerdings, dass er damals auch Tulpen schickte, die sich dann eher in Holland verbreiteten. Denke man darüber, wie man will.
Auch die Gebäude des genannten Flüchtlingslagers besaßen den typischen Stil altösterreichischer Behörden: diszipliniert, solide und auf bürokratisch-feldwebelhafte Weise finster - eine Kombination, die hauptsächlich, wie in diesem Fall, provinzielle und weniger repräsentative Bauten aufwiesen. Das ganze Areal war nämlich zur Zeit des alten Regimes eine Kaserne oder, besser gesagt, eine Kadettenschule gewesen. Das Städtchen Traiskirchen selbst ist ein abgelegenes Nest inmitten der Steppe, die heute natürlich in Ackerland umgewandelt ist, südöstlich von Wien, mit einer Kirche, ein paar Geschäften und uferloser Langeweile. Das Ganze veranschaulicht gut die oft wiederholte These, dass die nordöstliche Grenze des Balkans auf dem Kamm des Wienerwaldes verläuft und die hiesige Landschaft sich prinzipiell nur in kaum wahrnehmbaren Details von der walachischen Tiefebene unterscheidet. Die Einheimischen hatten Angst vor den Flüchtlingen, die sich zu manchen Zeiten bis in die Zehntausende summierten und ihre eigene Anzahl übertrafen. Teils war ihre Angst begründet, teils waren sie in ihrer schildbürgerhaften Winzerborniertheit auch zu nichts anderem fähig.
Hinter den Gittern der geschlossenen Abteilung, in der die Ankömmlinge bis zur Abfassung des Asylprotokolls bleiben mussten, damit sie nicht von erfahreneren Mitflüchtlingen aufschnappen konnten, was dort am besten anzugeben sei, saß Viktor Kaplan. Er war ein schwarzhaariger und ein wenig gedrungener junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren, dessen Name sich nur zufällig mit dem des Erfinders der Turbine neuen Typs deckte. Dafür passte der Name sehr gut zu seinen Interessen und seinem Beruf, ja seinem Schicksal überhaupt. Viktor hatte nämlich Turkologie studiert, also die Wissenschaft von den Sprachen und Kulturen der Turkvölker, und das Wort kaplan bezeichnet im Türkischen, bekanntlich oder auch nicht, den Tiger. In den einschlägigen Kreisen verschaffte ihm das wenn nicht gerade Respekt, so doch ein freudiges Interesse.
Ein solches Fach im Prag der siebziger Jahre zu studieren war ein verzweifeltes Unterfangen und ähnelte ein wenig dem Unterricht im Trockenschwimmen. In die Türkei, die Kaplan als heimlichen Bewunderer des reaktionären Osmanischen Reiches wirklich interessiert hätte, durfte er selbstverständlich nicht reisen, und das einzige Land mit einer Turksprache, das er je mit eigenen Augen zu sehen bekam, war das sowjetische Aserbaidschan. Auch die Unterweisung durch den einzigen leidlichen Muttersprachler weit und breit, den linken Dichter und kurdischen Exilfunktionär Ahmet Pınarcı, brachte nicht viel, und wer sich nicht selbst ins Zeug legte, kam nicht sehr weit. Die gesamte Atmosphäre der nichttechnischen Hochschulen jener Zeit, wo die halbe Dissidentenschaft mit ständiger politischer Heuchelei und Kriecherei vor der Macht zurechtkommen musste und zugleich das Gefühl einer isolierten Elite im Stil russischer Akademien vorherrschte, war erdrückend und zermürbend. Gefahrlos konnte man sich dort nur Abstrusitäten oder Torheiten wie der Keilschrift oder der Systematik der Strudelwürmer hingeben und diese gründlich studieren, denn Zeit gab es genug, und die zählte nicht. In dieser statischen Zeitlosigkeit herrschte ein ewiger Kreislauf aus Festen und Jahrestagen, nicht unähnlich dem alten Ägypten oder dem vergangenen Yucatán. So gesehen war es höchste Zeit gewesen zu verschwinden, besonders wenn man jung war, relativ intelligent und relativ gesund. Die Trauer beim Verlassen der Plattenbauwohnung in einem Prager Vorort mit den unerträglich monotonen Streitereien zwischen Vater und Mutter - einem Lokführer und einer Beamtin -, nicht eingerechnet eine jüngere Schwester mit unklarem Persönlichkeitsprofil, hielt sich in Grenzen. Wie die überwältigende Mehrheit der Emigranten ging Kaplan fort, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen - angesichts der allgegenwärtigen Spitzel konnte man nicht vorsichtig genug sein, außerdem fiel es bei einer so radikalen Entscheidung schwer, sich von der Familie zu verabschieden.
Viktors Charakter prägte eine eigentümliche Verbindung aus so genanntem reinem Idealismus, verstärkt durch jene Sehnsucht intellektueller Mittelstandssöhnchen nach etwas Schönem, Interessantem und wesentlich anderem, für das es sich lohnte, die normalen weltlichen Freuden zu opfern und sich vielleicht gar in Lebensgefahr zu begeben, und einer besonderen Rücksichtslosigkeit sich selbst und anderen gegenüber, die zu diesem Menschentyp untrennbar gehört. Daraus resultierte eine Melange aus Komplexbeladenheit, Vorurteilslosigkeit und Abenteuerlust, deren Anteile je nach Situation variierten. Seine einzelgängerische und introvertierte Natur brachte es mit sich, dass ihn die Trennung von Verwandtschaft und Heimatland nicht allzu sehr quälte. Deutsch sprach er zwar nur gebrochen und ohne Praxis, aber für die Alltagsverständigung reichte es einigermaßen. Die interne Sprache des Flüchtlingslagers, der innerhalb der babylonischen Verwirrung eine Vermittlerrolle zukam, war freilich Polnisch, denn die Polen stellten den weit größten Anteil unter den Lagerbewohnern dar. Das sollte sich aber erst später zeigen. Einstweilen saß Kaplan in so genannter Quarantäne und beobachtete, ein wenig wie im Zoo, seine potenziellen Mitasylanten.
Unter seinen Landsleuten, die ein mehrköpfiges Grüppchen aus Schiebern, Kellnern und anderen Kleinunternehmern bildeten, wirkte er irgendwie fremd, und er unterhielt sich mit ihnen, teils aus übertriebener Vorsicht, teils aus intellektueller Überheblichkeit, nur halbherzig. Zwei der Burschen lagen gerade rücklings auf ihren Pritschen und träumten von den Vereinigten Staaten. Schon sahen sie in aller Farbigkeit die Villen an der kalifornischen Küste vor sich, Autos mit klangvollen Markennamen, Swimmingpools in den Gärten sowie Mädchen aller Rassen, die zuhauf herbeiströmten. Dann vertieften sie sich in ihre Englisch-Lehrbücher. Nach einer Weile des stillen Studiums hörte man: «Du, komm mal her! Ich hab hier so ein Wort gefunden, das nicht im Wörterbuch ist, so ein !» Aller Anfang ist schwer. Gleich daneben erklärte der Sohn eines wohlhabenden Kabuler Geschäftsmannes, der recht ordentlich Englisch konnte, einer polnischen Familie die Übersetzungen diverser kleiner Schlüpfrigkeiten ins Paschtu. Ein polnisches Mädchen mit üppigem Busen schnäbelte aus Langeweile mit einem Polizisten aus Bratislava, den Gott weiß welche Machenschaften in die windigen Ebenen der Emigration getrieben hatten.
Insgesamt dominierten in dem riesigen Saal mit den etwa sechzig Betten die jungen Männer, und das Lager als Ganzes machte ebenfalls eher den Eindruck einer Kaserne, der die Offiziere weggelaufen waren. Das Phänomen hängt damit zusammen, dass im gesamten Tierreich die jungen Männchen sozusagen mobiler und neugieriger sind, während die jungen Weibchen sich nicht allzu weit vom mütterlichen Schoß entfernen, so wenig wie die alten Männchen von ihren eroberten Territorien, und seien sie noch so erbärmlich. Bei den Menschen verhält es sich da nicht anders als bei den Wühlmäusen. Auch die jungen Handwerksburschen gingen ja früher auf jahrelange Wanderschaft, während die Mädchen auf der Küchenbank saßen oder das zumindest von ihnen erwartet wurde. Falls sie mit dem Prinzipal einer Komödiantengruppe durchbrannten, kamen sie besser nicht wieder zurück, selbst wenn sie die weite Welt nun schon in- und auswendig kannten. Es verwundert also nicht, dass das Geschlechterverhältnis unter den Emigranten grob zehn zu eins ausmachte. Die meisten Damen flohen zusammen mit ihren Männern oder Partnern, manche unter ihnen schlossen sogar speziell zu diesem Zweck eine Bekanntschaft und stachelten den neuen Liebhaber zur Emigration an, um sich nach den schlimmsten gemeinsam überstandenen Strapazen von dem nun unbrauchbaren Tölpel zu trennen. Das war jedoch keine allzu verbreitete Strategie, und weil im Lager nur ordentlich vermählte Paare zusammenwohnen durften, bestand ein Großteil der Aktivitäten des Traiskirchener Pfarrers und des Bürgermeisters in Trauzeremonien für die Ausländer. Ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil der priesterlichen Tätigkeit war auch die Ausrichtung von Beerdigungen - hier ein beim Kartenspiel erschlagener Pole, dort ein Rumäne, der von einer albanischen Gang in einen Eisenschrank gesperrt und aus dem fünften Stock geworfen worden war usw. Heiden wurden ohne Zeremonie bestattet.
Kaplan verkürzte sich die Wartezeit zunächst im Gespräch mit einem rumänischen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.