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Mechthild, ein Name wie ein Häkeldeckchen: vermutlich vor über achthundert Jahren geboren, in Helfta gestorben, kurz vor ihrem zwölften Geburtstag die Stimme Gottes vernommen und sich von ihr über alle Hindernisse leiten lassen. Das Einzige, was von Mechthild von Magdeburg geblieben ist: die »vielleicht kühnste erotische Dichtung« des Mittelalters, ihr siebenbändiges Buch Das fließende Licht der Gottheit, ein zwischen Gattungen flirrendes Werk, in dem sich Sang und Widersang mit Dialogen, Visionen, autobiografischen Passagen und Kritik an Ordensleben und Kirche abwechseln. Doch nicht einmal dieses Buch ist im Original erhalten. Jemand anderes könnte also ihre Texte geschrieben haben. Sie könnte jemand ganz anderes gewesen sein, könnte nie geschrieben haben. Oder viel früher. Sogar immer noch. Einzig an ihrer Minnerei besteht kein Zweifel, einzig an der kämpferischen Liebe einer starken Frau. Auf Suche nach dieser fernen Schwester macht sich eine Frau von heute, um dort, wo sich die Spuren verlaufen, Mechthilds Lebensgeschichte auf die Beine zu helfen - mit ihrer eigenen.
Julia Koll spiegelt in ihrem funkensprühenden Roman Das Buch Mechthild die Geschichte zweier Minnerinnen über die Epochen hinweg und verleiht damit der Welt von Neuem einen Hauch von Mystik.
Zwei Wochen vor ihrem zwölften Geburtstag macht sie Bekanntschaft mit einem Beben. Sie ist allein, als es geschieht. Läuft am Fluss entlang, ihre liebste Sonntagszeit. Der Pfad führt auf halber Höhe unter Zweigen hindurch. Sie muss sich immer wieder ducken. Rechts den Hang hinab glitzert das Wasser. Da schiebt sich zwischen ihr Einatmen und Ausatmen ein Beben, das Du ruft. Erst leise, dann immer aufdringlicher.
Es bebt in ihr. Sie muss sich setzen. Sie findet eine Pappel, die sich schräg zum Ufer neigt. Sie fasst sich versuchsweise ans Herz, spürt aber gleich, dass das nichts ändert.
Es strömt sie, es wummert,
es schüttelt und wogt.
Oh! Oh! Oh!
Ihr Innen wird weit.
Das Du schwemmt sie hinaus.
Eya!
Zum Himmel!
Ihr schwellen die Ohren. Sie hört nichts mehr.
Sie sieht nur das Glitzern.
Was ist das?
Wer ruft da?
Sie sitzt lang. Sie lässt das Beben kommen. Und wieder gehen. Es kommt immer wieder.
Sie sitzt und staunt dem Beben entgegen. Es tut nicht weh. Es ist nur anders als alles.
Wenn sie länger einatmet, setzt es früher ein, als könnte es sein Anfangen in ihr kaum erwarten. Wer ruft da? Das Beben ist ihr fremd, aber wohlgesonnen. Das Du im Beben ist nichts Eigenes. Es schmiegt sich hinein, als sei es darin zu Hause. Sie hört das Du und hat sich noch nie so Ich gefühlt. Ist es ein Beben? Sie beginnt Worte zu probieren: Beben. Schwingen. Vibrieren. Zittern? Tanzen! Es ist, als reichte ihr einer die Hand.
Als sie vom Fluss her den Abend riecht, steht sie auf und ist sich gewiss: Diesem Beben wird sie lauschen. Und diesem Du wird sie gehören. Von nun an für immer.
~
Dies ist die Geschichte von Mechthild. Vor über 800 Jahren ist sie auf einer Burg im Umland von Magdeburg aufgewachsen, eine Adlige, und hätte einen Mann vom selben Stand heiraten sollen. Stattdessen ist sie mit Anfang zwanzig in die Stadt gezogen, um sich den Beginen anzuschließen. So heißt es. Hat in ärmlichen Umständen gelebt, sich nie geschont, um der Liebe willen. Viele Menschen haben bei ihr Rat gesucht. Sie war ein kluger Kopf und ist vor Kämpfen nicht zurückgeschreckt. Sie konnte kein Latein, hat jedoch alles verstanden, was andere auf Lateinisch gedacht haben. Sie hatte einen Beichtvater namens Heinrich, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie zugleich seine Beichtmutter war. Er hat sie geschützt vor Anfeindungen. Er glaubte, sie schützen zu müssen. Am Ende schien es ihr womöglich klüger, in ein mächtiges Kloster umzuziehen. Ihre letzten zehn, zwölf Lebensjahre hat sie bei den Zisterzienserinnen in Helfta zugebracht, wo sie um 1282 gestorben ist.
Doch was das Wichtigste ist: Sie war porös. Got ist in sie hineingetropft, schon früh. Es wurde ein Strom daraus, er floss ihr durch alle Sinne. Eya herre got. Mit dreiundvierzig Jahren hat sie angefangen, dieses Fließen in Worte zu fassen.
O du gießender Gott in deiner Gabe, o du fließender Gott in deiner Liebe, ohne dich kann ich nicht sein!
(I,17)
Im Sommer, als ich beschloss, ihre Geschichte zu meiner zu machen, fiel ich erst vom Fahrrad und dann in ein Schweigen, das acht Wochen währte.
Welch ein Irrtum anzunehmen, dass einem das Übersinnliche immer in den Kram passte!
Wie läuft eine am Fluss entlang, die soeben ihre Initiation erlebt hat? Hellwach, möchte ich sagen, wenn das nicht viel zu abgenutzt und zu klein wäre. Die Adern auf dem Pappelblatt, auf jedem einzelnen Pappelblatt zu ihren Füßen. Die Lederschnüre an den Schuhen und wie ihre Schritte sie auf dem Pfad halten. Die Lichtpunkte auf dem Fluss. Die Wellen, ihr leichtes Schmatzen. Sie geht, als sei der Himmel ausgetauscht. Später die Rufe über den Hof, das Moos an der Mauer, die Geräusche des Tages, ihr Abebben vorm Abendgeläut. Der Glanz auf dem Krug, das Schnauben und das Schmeicheln, die Hand auf dem kühlen Stein, das Huschen der Sorgen, die Müdigkeit, die festgezurrten Pläne. Eulenseufzen. Flügelschläge. Wolkenflecken überm Mond. Klamme Finger. Flüstern. Zauberhaut. Sie sieht und hört und fühlt das alles und nimmt es sich ab jetzt zu Herzen.
Ich fange an sie zu lesen. Ich lese, was sie zurückgelassen hat, in fremdem Zungenschlag.
Nun mag es viele Leute wundern, wie ich es über mich bringen kann, solche Dinge zu schreiben. Fürwahr, ich sage euch: Hätte Gott dies nicht mit einer sonderbaren Gabe in meinem Herzen verhindert, ich schwiege noch immer.
(III,1)
Ich suche ihre Spuren auf. Ich begehe ihre Orte. Die vermuteten und den einen historisch bezeugten: Helfta. Dort ist sie gestorben, vermutlich auch begraben worden. Von ihrem Knochenmehl im Untergrund spüre ich nichts.
Ich bestaune ihren Überschwang. Meine Religion ist vorsichtig von Natur aus. Sie verbleibt in der Zone der Andeutungen und Vermutungen. Verabscheut das Ostentative und meidet alles Vollmundige, will nie Bescheid wissen, sich nie zu sicher sein. Erscheint mir diese Vorsicht im Grunde sachgemäß, so gibt es doch Momente, in denen ich sie zutiefst bedauere. Ein Halleluja beispielsweise verträgt keine Zurückhaltung. Und ohne Oh! und Eya! gelangt eine Hingabe nirgendwohin. Ich bemühe mich um Nüchternheit. Sie aber ist eine Schwärmerin.
In den ersten Monaten unserer Bekanntschaft halte ich sie vor anderen geheim, meine Gefährtin im Untergrund.
Mechthild. Ein Name wie eine Häkelgardine. Ist das dein Ernst? Doch nur zur Tarnung, flüstert sie.
Ich bin nicht die Erste, die sich für sie interessiert. Ich muss sie mit anderen teilen. Auf Mediävisten stoße ich, schwärmerische, fantasievolle, akribische. Auf Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Ich schreibe sie an, bitte um Gespräche. Eine schreibt prompt zurück: Schicken Sie mir Fragen, ich werde sie beantworten.
Wie fängt Ihre Geschichte mit M. an? Wohin führt sie?
Wünschen Sie sich minnesiech? Oder Wunden anderer Art? Wieso hat M. so spät mit dem Schreiben begonnen? Worauf hat sie gewartet?
Werden Anfänge überschätzt?
Ich stoße auf Mechthildianer, die die alten Gewissheiten infrage stellen. Die Bücher und kleinen Filme, aber auch die Märchen der alten Mediävisten nennen sie das »Mechthild-Narrativ«. Es sei aber nichts sicher, von Helfta einmal abgesehen. Magdeburg? Ein Zusatz aus dem 19. Jahrhundert. Das Stadtarchiv: im Dreißigjährigen Krieg verbrannt. Ihr Lebensort, ihre adlige Herkunft, selbst ihr Beginentum: möglich, aber nicht zwingend. Sie könnte auch in Halberstadt gelebt haben, in Halle, Nordhausen oder Erfurt. Sie könnte mal bei den Dominikanern untergekommen sein, denn von denen ist dauernd die Rede.
Und ihr Buch? Nicht im Original vorhanden. Es gibt den Codex Einsidlensis, eine oberdeutsche Übersetzung. Und die Lux Divinitatis, eine lateinische Fassung, stark bearbeitet. Beide nach Mechthilds Tod entstanden. Erst in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren habe man Handschriften entdeckt, die ins Elbostfälische weisen. In Moskau zum Beispiel: Beutegut aus der Halberstädter Dombibliothek. Ein Kastenbrot in Berlin: Lauter Einzelteile, nicht aus ihrer Hand, wohlgemerkt.
». kurze Fetzen aus Mechthilds Werk (.), Geröllstücke (.), ganz abgeschliffene Kiesel im Bachbett einer schreibseligen Buchmystik« - so beschreibt der Göttinger Altgermanist Hans Neumann bereits im Jahre 1954 frühere Handschriftenfunde.
Sie könnte ihre Texte jemand anderem diktiert haben. Jemand anders könnte in ihnen herumgepfuscht oder sie aufpoliert haben. Sie könnte jemand ganz anderes gewesen sein. Sie könnte nie geschrieben haben. Oder viel früher. Oder immer noch.
Nur an ihrer Minnerei besteht kein Zweifel, von nirgendwem.
Bekannt ist über M. nur das, was sie selbst andeutet. Das ist jedoch so vage und der Interpretation bedürftig, dass die Forschenden stets und immer wieder auf die Fußspuren ihrer eigenen Arbeitshypothesen stoßen. Und da humple ich nun mit, in diesem hermeneutischen circle dance.
Oder ist es viel einfacher? Mit dreiundvierzig Jahren hat sie angefangen zu schreiben, heißt es. Sie ist so alt wie ich, denke ich. Ist sie nicht eine wie ich?
Ich spähe über den garstigen Graben: Wie tief ist das Wasser?
Das Buch von Mechthild besteht aus 267 nummerierten Abschnitten, im Codex Einsidlensis in sieben Bücher unterteilt. Eine Ordnung ist nur gelegentlich auszumachen. Sang und Widersang wechseln sich ab mit Dialogen, Visionen und Märchen, mit Beobachtungen, Empfehlungen, Gottesworten, Gebeten und Aphorismen.
». eine Aufschichtung von Gesichten, Gebeten und Betrachtungen, die mehr assoziativ als konstruktiv miteinander verbunden sind«- oder so: »ein sehr fraulich unsystematisches Werk«.
M. scheint mit den Genres zu spielen, und ebenso mit den Positionen und Perspektiven. Mal schreibt sie ich und mal sie, und mal meint ich Gott und mal sie. So reden Bräute, Seelen, Gott, M. und alle Tugenden wild durcheinander. Duzen sich, erzählen ihr Eigenes, reden »so kunstvoll wie verwirrend«. Im Lesen verliere ich den Faden und weiß nicht, wo ich bin. Dies Hin und Her ermüdet mich, ich lege das Buch beiseite. Oder ich fließe mit, lese ich als...
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