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Dienstag, 9:30 Uhr.
«Ich verstehe das nicht. Wieso kann ich meine Schwester nicht als vermisst melden?»
Valentin Maidorn saß im Büro des eigentlich sehr freundlichen Polizeibeamten und musste sich beherrschen, nicht auf den Tisch vor sich zu schlagen.
Der Mann seufzte. «Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, Herr Maidorn, können Sie das durchaus. Nur haben wir bisher nichts ermitteln können, was darauf hindeutet, dass Frau Maidorn tatsächlich verschwunden ist.»
Valentins Blick musste ebenso verdattert wirken, wie er sich für ihn selbst anfühlte, denn der Beamte hob beide Hände.
«Ich verstehe, dass Sie beunruhigt sind und sich vielleicht auch ein wenig hilflos fühlen, doch versuchen Sie, auch unsere Seite zu verstehen.» Bei diesen Worten tippte der Mann auf seinen Laptop. «Ihre Schwester hat sich von ihrer Arbeitsstelle abgemeldet. Sie hat ihren engsten Freunden und Verwandten.» Dabei deutete er auf ihn. «.Über ihren Verbleib Bescheid gegeben. Und wir haben nicht nur die gebuchten Reiseunterlagen, sondern auch den Nachweis, dass Frau Maidorn den Flug angetreten hat.»
Valentin kochte inzwischen, doch versuchte, sich noch zu beherrschen. Er warf sein Handy auf den Tisch.
«Wieso ist sie dann nicht zu erreichen? Wieso kann kein Hotel in der Gegend, in die sie angeblich gereist sein soll, mir sagen, ob sie dort abgestiegen ist? Wieso sollte sie überhaupt nach Island reisen?»
Der Beamte zuckte mit den Schultern. «Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Beweggründe Ihre Schwester hat. Vielleicht hat sie jemanden dort kennengelernt? Jemanden, bei dem sie unterkommt? Jemanden, den sie noch nicht vorstellen will.»
Das klang alles nicht unlogisch. Zumindest, wenn man seine Schwester nicht kannte. «Das passt aber nicht zu Nadine. Sie ist Doktorandin an der Uni, steht kurz vor ihrem Abschluss und sie hat erst kürzlich hier jemanden kennengelernt.»
Wieder zuckte der Polizist mit den Schultern. «Menschen sind umtriebig. Häufig überraschen sie sogar ihre Nächsten.» Er schien kurz mit seinen nächsten Worten zu zögern. «Und ... ich sage das mit allem Respekt, Herr Maidorn, ihre Schwester ist nicht die stabilste Persönlichkeit, wie wir recherchieren konnten.» Wieder deutete er auf seinen Bildschirm.
Valentin erstarrte innerlich. «Wie meinen Sie das?»
Sein Gegenüber seufzte wieder. «Sie hat genau das Gleiche wie jetzt schon einmal gemacht. Oder?»
«Da war sie 19.» Valentin gestikulierte scharf. «Ich will nicht sagen, dass sie jung und dumm war ... Aber ... sie war jung und dumm.» Er hob ebenfalls beide Hände. «Das sind ihre eigenen Worte. Sie sieht das, was sie damals gemacht hat, als Fehler. Sie würde das nicht wiederholen.»
Der Polizist wartete eine Sekunde. «Oft überraschen Menschen sogar sich selbst», antwortete er schlicht.
Valentin war fassungslos, fühlte sich frustriert. «Ich glaube nicht, was ich da höre.» Er wandte sich um. «Danke für nichts.» Doch gerade, als er aus dem Büro stürmen wollte, wurde er noch einmal aufgehalten.
«Warten Sie, Herr Maidorn.»
Unwillig drehte er sich um. Der Beamte war um seinen Tisch herumgekommen und wedelte mit einem Stück Papier. «Hier ist meine Karte.»
Valentin musste sich überwinden, sie zu nehmen.
«Rufen Sie mich an, wenn Sie einige Zeit nichts von Ihrer Schwester gehört haben.»
«Einige Zeit», hörte er sich selbst sagen.
Der Polizist zuckte erneut mit den Schultern. «Bei Erwachsenen haben wir diese Zeit für gewöhnlich.»
Valentin schürzte die Lippen. «Aber vielleicht hat meine Schwester diese Zeit nicht.»
Valentin Maidorn verließ das Polizeipräsidium und stand unvermittelt im abendlichen Regen, der Münchhausen und Umgebung bereits seit einigen Tagen fest im Griff hatte.
Bei Erwachsenen haben wir diese Zeit für gewöhnlich.
Hörte er den Polizisten wieder sagen. Eine Woche. Innerhalb dieser Zeit klärten sich die meisten Vermisstenfälle. Danach wurde die Wahrscheinlichkeit immer geringer. Er war sich sicher, dass etwas mit seiner Schwester nicht stimmte.
«Verfluchte Kackscheiße», stieß er aus.
Das brachte ihm den ein oder anderen verdatterten Blick von der Seite ein, ehe er zur nächsten Bushaltestelle lief und sich unterstellte. Er spürte die Zeit zwischen seinen Fingern zerrinnen. Das Wasser lief ihm in den Kragen des Hemdes, und seine Füße fühlten sich schon nach wenigen Schritten klamm und nass an. Wo war seine Schwester? Valentin schaute auf seine Uhr.
Dienstag, 10:14 Uhr.
Eine Zeit lang starrte er auf die Karte in seinen Händen. Kommissar Schwarzmann. Eigentlich war der Mann durchgängig freundlich und zugänglich gewesen. Wie ein Bilderbuch-Polizist hatte er Interesse gezeigt, hatte versucht, auf seine Einwände und Befürchtungen einzugehen. Doch letztlich hatte er nichts gemacht. Valentin war unfair, und eine kleine Stimme in seinem Kopf merkte das auch an. Doch gerade jetzt wollte er nicht auf sie hören.
Er zerknüllte die Karte und warf sie auf die Straße vor sich.
Ein älterer Herr, der ebenfalls auf den Bus wartete, schenkte ihm daraufhin einen feindseligen Blick.
«Was?», herrschte er ihn an.
Der Mann senkte den Blick, schüttelte aber verurteilend den Kopf.
Valentin spürte sofort Scham. Der Andere konnte am allerwenigsten für die ganze Sache. «Entschuldigung», murmelte er. Ob der Mann das gehört hatte, wusste er nicht. Wütend starrte er in die Dunkelheit des gegenüberliegenden Parks, der das Zentrum Münchhausens beherrschte.
Er war vor etwa zehn Jahren vom Stadtrat beschlossen worden, und nur elf Monate später war das Prestigeprojekt bereits größtenteils fertiggestellt. Valentin mochte das grüne Auge der Stadt, trotz mancher halbseidener Schwierigkeiten, die mit Auftragsvergaben, Grundstücksstreitigkeiten und Protesten von Anwohnenden im Zuge seiner Entstehung verbunden gewesen waren.
Er und seine Schwester hatten zusammen an der Münchhausen-Universität studiert. Sie Philosophie, er Soziologie. Aber nach seinem Abschluss hatte er den Absprung geschafft.
Er sah seine Zukunft weniger in der akademischen Welt, und so hatte er sich über Umwege für seine lokale Community engagiert und dies nach einiger Zeit sogar beruflich verfolgen können. Inzwischen hatte er eine anspruchsvolle Stelle im Quartiersmanagement ergattert und verfolgte die Entwicklungen aller Viertel ihres Stadtstaates.
Am Ende der Straße tauchte ein Bus auf, der offensichtlich in ihre Richtung fuhr. Valentin war eigentlich mit dem Auto da, das jedoch in einiger Entfernung stand. Er schaute zu dem Mann, mit dem er eben aneinandergeraten war, und räusperte sich. «Okay. Entschuldigen Sie nochmal?!» Da er kein Zeichen dafür gab, dass er ihn verstanden hatte, räusperte Valentin sich erneut. «Es tut mir leid, dass ich eben so aus der Haut gefahren bin. Ich hatte einen schweren Tag, und Sie können da nichts für. Es war mein Fehler.»
Wieder erfolgte keine Reaktion.
Valentin fragte sich, ob er der Sache nicht einfach zu viel Gewicht beimaß. Vielleicht war es nur in seinem Kopf, dass er diese Situation klären wollte. Der Busfahrer würde ihm ohnehin sagen können, ob er in die richtige Richtung fuhr. Er wartete.
Gerade als der Wagen an ihnen vorbeifuhr, schaute er in die Spiegelung der Scheiben.
Er konnte sich selbst sehen: einen nassgeregneten Typen, Ende zwanzig, durchschnittlich attraktiv, zumindest hoffte Valentin das jedes Mal für sein Spiegelbild, mit kurzen braunen Haaren, in denen sich kurioserweise bereits erste graue Strähnen zeigten. Das hatte er von seinem Vater.
Als er seinen Blick auf das Spiegelbild des Mannes neben sich warf, erschrak er.
Die Gestalt sah nicht aus wie die Person, die er neben sich hatte. Das Wesen im Spiegel zeigte zwar noch ein gewisses Maß an Menschlichkeit, aber es fühlte sich grundlegend anders an, wenn man sie betrachtete. Hinter dem Mann, der jetzt gerade aufstand, waren schwarze ... Schwingen, die ihn wie ein Mantel im Wind umtanzten. Manchmal verdichteten sie sich zu einer Gestalt, humanoid und grundsätzlich dem Menschen nicht unähnlich. Als würde eine Art Schatten hinter dem Mann sein, der seine Bewegungen synchronisierte. Seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten, und sie erweckten unvermittelt unbekannte Reaktionen in ihm. Eigentlich hatte er niemals auf ältere Personen gestanden, doch das Spiegelbild des Mannes ließ Gier und Lust in ihm aufsteigen, die er fast mühsam unterdrücken musste. Am schlimmsten jedoch waren die Augen, die wie schwarze Tümpel in einen Abgrund zu führen schienen. Einen Abgrund, der leer war und gierig auf das nächste Opfer wartete, das sich in ihm verlor, weil es zu lange hineingeschaut hatte.
Der ältere Mann ging in diesem Moment an ihm vorbei, und die schwarze Gestalt im Spiegel blieb stehen, obgleich sie weiterhin durch eine Art schwarzer Tentakel mit dem Mann...
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