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Die Geschichte ist mehrfach erzählt worden. Als ich darauf kam, dass auch ich sie erzählen müsste, obwohl sie dem alten Muster gehorcht und ich kein Erzähler bin, war das kein besonders schöner Moment. Ich war Mitte zwanzig, und die Geschichte stand vor der Tür als ein mittelgroßer Mann. Er roch aus schmalem Mund nach Zigaretten, und ihm fehlte ein Schneidezahn. Er war doppelt so alt wie ich. Das fiel mir natürlich nicht gleich ein, als ich ihn erstaunt begrüßte und hereinbat. Aber ich konnte es leicht nachrechnen, weil ich sein Geburtsjahr wusste. Er war mein Vater.
Dass die Geschichte meine eigene ist, macht das Erzählen nicht einfacher. Immerhin muss ich nichts erfinden. Damals lebte ich als freier Komponist. Drei Jahre zuvor hatte ich die erste große Uraufführung eines eigenen Stücks erlebt. Obwohl E-Musik, machte es Furore und brachte meinen Namen in die Öffentlichkeit. Später gab mir Sebastian Kreisler, den ich schon als Schüler bewundert und früh kennengelernt hatte, die Ehre, mich zu seinem Meisterschüler an der Akademie der Künste zu ernennen. Von dem daran geknüpften Stipendium und ein paar Aufträgen lebte ich auskömmlich.
Mein Vater legte nicht einmal die Lederjacke ab. Er habe in der Stadt zu tun und in der Zeitung gelesen, ich hätte abends ein Konzert. Ob ich ihm eine Karte zurücklegen könnte. Ich lachte: »So voll wird es schon nicht werden.« Aber ich versprach es und nuschelte noch, was das für ein schöner Zufall wäre. Schon war er wieder weg. Der Zufall war nicht schön. Ich hatte im Leben wenig von meinem Vater gehört und gesehen. Es war nicht koscher, wenn er so hereinschneite und auf günstige Gelegenheit machte. Doch der Reihe nach oder, anders gesagt, einer der möglichen Reihen.
Mit vierzehn Jahren wollte ich Biochemiker werden. Das stand fest. Mich faszinierten Prozesse, die naturgemäß jeden Tag um uns herum stattfinden, auch in uns selbst, ohne dass wir sie beeinflussen können. Ich sage nur: Proteinbiosynthese. Ich sehe noch heute vor mir, wie einfach die Vorstellungen damals waren, wie überhaupt die populäre Form der Wissenschaft, mit der ich mich im Wesentlichen allein lesend befasste, zum klaren Schema neigte. In dem Fall stand mir der Reißverschluss des Genoms vor Augen, wie er sich öffnete für die Synthese komplementärer Einfachstränge, die nicht verdrillt waren wie das originale Erbgut und als offene Matrix für die Aminosäuren dienten, aus denen später Eiweiße gebaut wurden. Es schien mir ein sehr einleuchtender und harmonischer Vorgang zu sein. Jedenfalls habe ich ihn so in Erinnerung. Ich schlage während des Erzählens nicht nach. Dazu habe ich keine Zeit. Was in der Blattzelle vor sich geht bei der Photosynthese! Las ich darüber, wurde ich selbst ein aufgeladenes Mitochondrium, prall von Lebensenergie. Alles war erleuchtet. Das kam mir in der Schule zugute. Die Schulbücher der Naturwissenschaften sagten mir selten viel Neues, wenn sie im September frisch auf dem Tisch lagen, außer in jenem Bereich, der die schönen Vorstellungen umwandelte in schöne Mathematik. Deren Idiom war mir irgendwann abhandengekommen. Ich fühle noch heute den Abschied von der Mathematik wie einen Schmerz, der mich genau in der Zeit, aufs siebzehnte Lebensjahr, zu Anfang der elften Klasse der Erweiterten Oberschule traf. Vielleicht zum Ersatz begegnete ich zur selben Zeit dem Sound, meiner eigenen Auffassung von Musik.
Auf dem Weg zur Schule überquerte ich die Stolpische Straße. Es war dieselbe, die auf dem Richtungsschild der Straßenbahn der Linie 3 stand, wenn sie aus der Revaler Straße, vom Bahnhof Warschauer Straße wegfuhr. Hier vor der Bösebrücke war die andere Endhaltestelle. Oft stand ein schmutzigeierschalenfarbener Triebwagen mit einem ebenso betrüblichen Anhänger an der Betriebshaltestelle, wenn ich halb acht hier entlangging, schnell, die Haare im Wind. Ich verlangsamte den Schritt. Der Fahrer setzte das rumpelnde Ding wieder in Bewegung nach einer tonlosen Version des Abfahrtsignals, einem kurzen Aufleuchten der runden roten Lampen neben den Türen. Es sah aus, als nähme die Bahn den Weg in die Kleingartenanlage hinein. Sie fuhr aber in die Wendeschleife, die hinter ein paar Büschen und einem Transformatorenhäuschen verborgen lag. Das war der Moment. Ich blieb auf dem Plattenweg stehen, auf dem ich allmorgendlich die Schrebergartenkolonie Feuchte Senke durchqueren musste. Erst hörte ich das Schleifen unter dem Rumpeln der Straßenbahn. Dann trat ein feiner Ton dazu und verstummte wieder. Nach kurzem erneutem Schleifton ein Zweiklang, ungefähr eine Sexte. Der Grundton blieb stehen mit hörbarem Geräusch Metall auf Metall, erlosch kurz, kam wieder. Nun wurde aus dem Stahl Silber, nun schwang sich ein hoher Ton obenauf, stand in leichter Schwankung, krönte den schönen Dreiklang. Schleifen, fast Verstummen, Rumpeln des Anhängers, das letzte Viertel für den Triebwagen, Rollen der Räder, Glissando beider Schienenstränge in uneinheitlichem Intervall. Scharen von Obertönen. Der rumpelnde Wagen mit seinem anderen Gewicht gab das Echo, hinterdreinschlenkernde Koda. Schließlich nur noch das halblaute Aufjaulen der Elektromotoren, die anzogen. Jetzt hatte ich es eilig. Mit dem unwillkürlichen Lächeln, das mir die Mundwinkel hochzog, kam ich gut voran. Zwanzig Minuten später, im halbdunklen Treppenhaus der Schule, nahm ich drei der Granitstufen auf einmal. Die undeutliche Person am Geländer, die ich fast übersehen hatte, war Direktor Kahlberg. Er wendete mir sein sauertöpfisches Gesicht zu: »Zu spät, Einzweck. Kein' Zweck mehr. Es ist schon fünf Minuten nach acht. Sie haben es wieder einmal geschafft.« Unwillkürlich blieb ich stehen. Natürlich hatte er mich mit dem Kalauer angeredet. Natürlich war ich zu spät. Ich wollte weiter. Kahlberg schaute an meinen Jeans herunter. Auf den Knien die Kunstlederflicken hatten es ihm angetan. Ich hatte sie höchstpersönlich draufgesetzt und war durchaus stolz darauf. Bis kurz darunter waren die Hosenbeine hochgekrempelt, und ich trug Sandalen. »Sie wissen, dass wir nichts gegen Jeans haben«, fing er doch wieder an. »Wenn sie gepflegt sind, sauber. Mit diesen hier will ich Sie nicht noch einmal in meiner Schule sehen. Haben Sie mich verstanden?« Mir stieg das Rot in die Wangen, aber ich brummte »Okay.« Ich stapfte ins Klassenzimmer hoch, nahm das Hallo der anderen Schüler entgegen, saß die verbleibenden vierzig Minuten ab, entschuldigte mich bei der Lehrerin, die die nächste Stunde halten sollte, mir sei schlecht, und verließ rasch die Schule.
Um elf stand ich mit meinem Felleisen in Oranienburg an der Fernstraße. Das Felleisen hatte ich vom Sperrmüll. Die Bezeichnung, meinte ich, passte dazu, weil seine Deckklappe aus braunweißem Kalbfell war. Es handelte sich um einen Tornister aus dem Ersten Weltkrieg. Das Ziel meiner Tramptour hatte ich spontan gewählt. Die Adresse hatte ich einem verschlissenen Briefcouvert entnommen. Ich hatte seit drei Jahren keinen Kontakt zu meinem Vater. Auf einem Blatt aus einem Schulblock stand groß mein Ziel: Seeburg. Nach einer halben Stunde hielt jemand, der bis Neuruppin wollte. Es ließ sich gut an. Am frühen Abend stieg ich aus einem Lkw mit offener Ladefläche, einem alten H6. Ich hätte seinem ruhigen Sechszylinder gern weiter gelauscht, gehüllt in den Geruch von Diesel, Öl, Leder und Zigarettenrauch in der Kabine. Der Fahrer setzte mich direkt unterhalb des Neubaugebiets Flegel ab. Mein Vater wohnte, wie vorher schon in Neustadt am See und davor auf dem Dorf, in einem Neubau. Ich klingelte an der Haustür bei dem einzigen Schild mit zwei Namen. Der Summer ging. Im Treppenhaus roch es nach Neubau. Im zweiten Stock rechts ging eine Tür auf. »He, guten Tag, komm herein, du bist Harry, stimmt's?«, so begrüßte mich die Frau mit dem schmalen Gesicht und dem lose aufgesteckten Haar. Gleich rief sie »Hinrich, komm mal!« in die Wohnung hinein, und mein Vater stand vor mir, die unregelmäßigen, rauchgelben Zähne unterm Schnauzbart, der Blick aus grauen Augen über Krähenfüßen. Keine Nachfrage, wie ich so mitten in der Schulwoche hierherkäme und warum. Es gab Abendbrot. Die beiden Töchter der Frau, von denen ich aus dem alten Brief wusste, waren gleich aus dem Kinderzimmer gekommen, zwei Striche in der Landschaft. Sie nahmen mich in Augenschein und fanden den Hippiestiefbruder, wie ich mich selbst einführte, interessant. Man scherzte und kicherte. Ich berichtete lang und breit davon, wie ich per Anhalter bis nach Seeburg gelangt war. Der Ruch von Abenteuer hing an mir. Es gefiel meinem Vater, das konnte ich sehen. Er war so, wie ich ihn von der letzten Begegnung her in Erinnerung hatte. Die Bewegungen fahrig, immer einen Tick zu hektisch für einen Erwachsenen. Es war nicht angenehm, darin eine Ähnlichkeit zu erkennen. Die Töchter gingen bald ins Bett. Renate, seit kurzem, wie ich erfuhr, mit meinem Vater verheiratet, zog sich gegen zehn Uhr zurück, nicht ohne uns eine zweite Flasche Wein auf den Tisch zu stellen. Der Siebzehnjährige registrierte die Diskretion und fand sie angenehm. Wir wendeten uns tatsächlich einander zu, mein Vater und ich, und begannen ein Gespräch. Etwas wie ein Gespräch. Er stellte Fragen, und ich antwortete, redete, mäanderte im Reden herum, wie es meine Art war, wenn ich gefragt wurde. Dort, wo ich herkam, bei meinem Stiefvater und meiner Mutter, da war von meinen Angelegenheiten nicht viel die Rede. Da hielt ich sie in meinem Zimmer zurück, in meinen Papieren, bei denen ich zum Glück nicht gestört wurde. Weshalb hier auf dem Flegel in Seeburg eine Schleuse sich öffnete: Von der Schule ging es, von meiner Freundin, nach der er gleich genauer fragte, nach ihrem Herkommen, den Eltern. Ich konnte mit ihrem fußballernden Stiefvater aufwarten, mit dem mich eine...
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