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Eiche, wie angeordnet, gnädige Frau. Monsieur Camon legte sorgfältig die Papiere zusammen, die Luise Aschen unterschrieben hatte. Die blaue Lampe warf kaltes Licht auf den Schreibtisch, das sich in matten Kreisen von dort ausdehnte. Hell war der Raum nur im Zentrum des Lichtkegels. Monsieur Camon saß in einem dunklen Ledersessel, alle Gegenstände erschienen dunkel in diesem Zimmer, dunkel und groß, und nur das Gesicht und die Hände Monsieur Camons leuchteten hell aus dieser diffusen Dunkelheit hervor. Luise Aschen verschloß ihren Füllfederhalter und schob ihn in die Handtasche. Dabei fielen Monsieur Camon die Fingernägel der kleinen Madame, so nannte er sie bei sich, auf. Sie waren so kurz, daß die Kuppen in schmalen Wülsten darunter hervorwuchsen. Nägel wie bei gestörten kleinen Mädchen, dachte Monsieur Camon, und der rote Lack darauf sah ganz unpassend zu der sonst so eleganten Erscheinung aus, wie spaßhaft aufgetupft. Wie eine kindische Clownerie.
Luise zog einen Zettel aus ihrer Handtasche, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte. Sie mußte noch so viel erledigen, und in ihrem Kopf stieben die Dinge durcheinander. Sie hatte sich auf verschiedenen Zetteln alles notiert, was sie im Kopf hatte behalten wollen, aber auch diese Zettel stellten sich als unzulängliche Versicherung gegen Zerstreutheit und Vergeßlichkeit heraus. Luise hatte nie eine Beerdigung ausgerichtet, und jetzt sollte sie, vom einen auf den anderen Tag sozusagen, all diese wichtigen Angelegenheiten besorgen, die eigentlich Sache der Erwachsenen waren. Sie kam sich idiotisch kindisch vor. Ja, die Grabinschrift. Natürlich, im Grunde war es keine Frage. Sie hatte sich überlegt, in welcher Sprache sie sie in den schönen weißen Stein meißeln lassen sollte, den sie gerade ausgesucht hatte, und sie hatte beschlossen, daß es doch besser sei, auf das deutsche »hier ruht« zu verzichten. Oh wissen Sie, Madame, sagte Monsieur Camon, den sie um Rat gefragt hatte, kennt man die Seele des Volkes? Sie sehen ja, in diesen Zeiten, wo der Mensch sich über nichts mehr wundert, weil alles, worüber er sich noch hätte wundern können, schon stattgefunden hat. Sie sehen ja, . und er schüttelte den Kopf.
Luise nickte und streifte sich die Handschuhe über. Es waren schwarze, mit Seide gefütterte Handschuhe, sie hatte sie heute erst gekauft. Unmittelbar nach ihrer Ankunft im Hotel hatte sie sich schwarz eingekleidet. Es war wie ein Ritual gewesen, als sie loszog und sich auf ihre Streifzüge durch die Geschäfte begab, die grands magasins und die kleinen Boutiquen, das alles gehörte für sie dazu, wenn sie in Paris war. Paris war das Reich der Dinge. Und auch jetzt, trotz des Anlasses, hatte sie sich dieser Gewohnheit hingegeben, und das hatte ihr gutgetan. Das Unwirkliche der Situation, das ihr Leben in einen merkwürdigen Film verwandelt hatte, war plötzlich verschwunden gewesen. Und das hatte sie mehr beruhigt als alle Tabletten und tröstlichen Worte der Leute. Sie gefiel sich in dem Schwarz, und sie stellte sich vor, welches Bild sie während der Trauerfeier abgeben würde. Du sollst eine schöne Witwe haben, mein lieber Robert, auch in dieser Situation soll deinen Wünschen entsprochen werden. Es war wie eine Wiederbelebung gewesen, sich zu drehen und zu wenden vor den Spiegeln, einzutauchen in die Hoffnungen des Vergnügens und des Luxus. Danach hatte sich sogar ihr Appetit wieder eingestellt und sie war in ein Restaurant gegangen und hatte ein ganzes Menü verzehrt. Für Robert Aschen war Paris die zweite Heimat gewesen. Er hatte hier seine Ausbildung als Kaufmann gemacht. Seine testamentarische Verfügung, hier auch beerdigt zu werden, war für Luise keine Überraschung. Sie hatten sich kurz vor dem Krieg in einem Pariser Café kennengelernt. Luise war mit zwei Freundinnen für ein paar Tage hergekommen. Es war irgendein Witz gewesen, mit dem Robert sich an die jungen Damen herangemacht hatte, ein ziemlich blöder Witz, wie Luise fand. Er hatte sich dann ohne zu fragen zu ihnen an den Tisch gesetzt und einfach gesagt, Sie können mich Robert nennen. Dabei hatte er Luise auf eine Weise angesehen, die ihr nicht ganz ernsthaft vorgekommen war, irgendwie eine Spur zu leichtfertig. Und sie war sich nicht sicher gewesen, ob die Art, wie er sich gab, ein Zeichen weltmännischer Unbefangenheit war oder einfach unseriös. Dennoch hatte sie sich auf das Spiel eingelassen. Warum kein kleines Abenteuer, man kann es ja in Grenzen halten.
Und dann war alles sehr schnell gegangen. Robert hatte Luise ohne ihre beiden Freundinnen zum Essen eingeladen, danach in ein Varieté, und dann waren sie die ganze Nacht herumgezogen, von einer Bar zur nächsten. Er hatte nicht gegeizt, sondern sich von seiner großzügigsten Seite gezeigt. Auch damals hatte sie sich ein Paar Handschuhe gekauft, das heißt, Robert hatte sie ihr spendiert. Es war ihr märchenhaft vorgekommen, wie ihre neue Eroberung den teuren Preis mit frivoler Beiläufigkeit zahlte. Die Freundinnen waren alleine nach Dresden zurückgefahren, denn an diesem Tag hatte Luise beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen: auf die Karte Robert Aschen. Und sie hatte damit gewonnen. Das schöne Leben hatte nach der Hochzeit noch eine Weile angedauert. Sie waren in die Schweiz zum Wintersport gefahren und hatten so leicht und so wohlhabend gelebt, daß sie nur am äußersten Rand ihres Bewußtseins wahrnahmen, was um sie herum geschah. Erst der Krieg hatte sie auf den Boden der Realität gezwungen, und das Aufkommen war jäh wenn auch nicht so hart wie für andere gewesen. Es war nur der Unterschied zu dem sanften Lauf der Dinge zuvor gewesen, der sie schockierte. Ein paar Leute aus Roberts Clique hatten bereits früher fliehen müssen, kurz nach fünfunddreißig. Aber mit derlei Schikanen hatte sich Robert abgefunden, zumal er ja nicht selbst fliehen mußte. Erst der Krieg hatte Robert und Luise zutiefst erschreckt. Es waren dann Briefe mit geheimnisvollen Absendern gekommen, in denen um Hilfe gebeten wurde. Robert kam diesen Bitten des öfteren nach, dabei achtete er aber darauf, daß auf keinen Fall ein Kontakt seinerseits mit den Flüchtlingen ruchbar wurde. Über Josef Sukow, seinen langjährigen Fahrer, ließ er den ehemaligen Spießgesellen des Vergnügens gewisse Geldbeträge zukommen, nicht einmal Luise wußte davon. Später, zur Zeit der Deportationen verlor er die Flüchtlinge aus den Augen. Es war Robert Aschen einfach zu gefährlich geworden, den Kontakt in diesen horriblen Zeiten, wie er sich auszudrücken pflegte, aufrecht zu erhalten. Die Ansinnen der Hilfesuchenden waren unverantwortlich gewesen, wie Robert fand, schließlich habe ich Verantwortung für Frau und Belegschaft, sagte er sich. Er war bereits siebenunddreißig in die Partei eingetreten, aber aus rein taktischen Gründen, wie er später behauptete, sozusagen aus Gründen der Verantwortung und der Fürsorgepflicht seinen Leuten gegenüber. Eine tiefe Abneigung gegen Brutalität und Gewalt hielt ihn von vielen Dingen ab, die andere amüsierten. Zum Beispiel die Jagd oder Stierkämpfe in Südfrankreich nicht einmal Boxkämpfe mochte er sehen. Und die Brutalität, die damals im Gange war, hatte ihn zu dem privaten Schluß kommen lassen, lieber erst gar nicht daran zu denken. Denn fing das Denken erst an, ließ es einen nicht mehr los. Besser war es, den Gesetzen des Handels zu folgen, den Geboten des fantasievollen Paktierens, wenn es sein mußte mit dem Teufel. Seine französischen Sprachkenntnisse hatten ihm dabei beste Dienste geleistet, und im Zuge der Sequestrierung Lothringens war ihm manches Schnäppchen gelungen.
Luise hatte sich in diesen Dingen Roberts Ansichten angeschlossen. Sie bekam Kopfschmerzen, wenn sie heute an all dies dachte. Im übrigen war sie für das Schöne zuständig. Sie haßte alles, was nicht schön war. Sie war sich in dem großen Flug des Weltgeschehens immer vorgekommen wie ein schaukelndes Etwas. Die Dinge wuchsen und bewegten sich, verflüssigten sich, fluteten heran und stürzten über sie hinweg. Das einzig Zuverlässige war für Luise ihre Schönheit. Sie allein verschuf ihr Zugang zu der Welt der Ernstzunehmenden, derer, zu denen man aufschauen konnte, wie die jungen Frauen damals sagten. Und den Einsatz dieses außergewöhnlichen Vorzugs, denn sie war so schön, daß sich die Leute selbst in Paris auf der Straße nach ihr umsahen, hatte sie zu einer wahren Kunst entwickelt. Die Dramaturgie ihrer Auftritte war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war naiv und gekonnt. Manchmal erreichte sie Hollywoodniveau. Politik war ihr zutiefst suspekt, immer gewesen, und wie man sieht, hatte ich recht, sagte sie nach fünfundvierzig. Außerdem hatte sie eine Aversion, gebündelt zu werden, in irgendeiner Menge unterzugehen. Die Pflichtübungen im Bund deutscher Mädel hatten sie maßlos gelangweilt, und für das Fidele des Gemeinschaftslebens hatte sie auch nichts übrig gehabt. Sie verabscheute Arbeiten wie die in einem Bauernhaushalt, dem sie im Zuge des NS-Arbeitsdienstes als Kindermädchen und Küchenhilfe zugewiesen worden war. Als sie Robert Aschen kennenlernte, wußte sie sehr bald, daß hier gelebt wurde, wie es ihren Wünschen entsprach. So hatte sie es sich vorgestellt.
Und jetzt saß sie dem Bestattungsunternehmer Monsieur Camon gegenüber und mußte Entscheidungen treffen. Gott seis gedankt gab es Leute wie diesen erfahrenen Spezialisten seines Fachs. Sie nehmen die Dinge in die Hand, man kann sie ihnen vertrauensvoll überlassen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihr eine Verantwortung aufgebürdet, die ihr wie ein unüberwindliches Gebirge erschien. Morgens, wenn sie aufwachte und aus dem Fenster hinaus auf den Fabrikhof blickte, stießen Flüche in ihr hoch. Dieses finstere Gebäude, diese Zuckerrüben, dieser Ruß, dieser Gestank, diese Schlote und...
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