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3. Annette Kolb am Teetisch
1914 veröffentlichte Annette Kolb im Verlag der weißen Bücher den Essayband Wege und Umwege. Er enthielt Aufsätze zu aktuellen Themen sowie Porträts von Zeitgenossen und hätte den Nerv der Zeit getroffen, wäre er nicht ausgerechnet Anfang August erschienen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließ alle literarischen Bemühungen um Frieden zwischen den Völkern lächerlich erscheinen. Wer wollte schon Besuch bei Duchesne, einen Essay über einen französischen Kirchenhistoriker, lesen, wenn Deutschland Frankreich gerade den Krieg erklärt hatte? Was scherte einen Annette Kolbs Ballonfahrt, wenn tollkühne Flieger aus der Luft den Feind beobachteten und Bomben auf ihn warfen? Wege und Umwege war zu spät herausgekommen.
Für Annette Kolb bedeutete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht nur eine politische, sondern eine persönliche Katastrophe. Hatte sie als junges Mädchen in ihrer allerersten Veröffentlichung noch gegen die Käfighaltung eines Steinadlers protestiert, wurde die erwachsene Schriftstellerin nun gewahr, dass sich Deutschland durch den Krieg »en une cage gigantesque« [in einen riesigen Käfig][54] verwandelte, dem zu entkommen schier unmöglich schien. Dennoch gab sie nicht einfach auf, sondern bewies taktisches Geschick, das sie aber nicht davor bewahren sollte, angefeindet und mit Hass verfolgt zu werden. Auch ihr war klar, dass es im aufgeheizten politischen Klima des Winters 1914/15, als Deutschland bereits herbe Verluste erlitten hatte und die Front im Westen zum Stillstand gekommen war, nicht möglich sein würde, sich ungehindert gegen den Krieg und die Zwietracht zwischen den Nationen zu äußern. Aber sie wagte einen Versuch.
Am 25. Januar 1915 hielt Annette Kolb in Dresden einen Vortrag zum Thema Die Internationale Rundschau und der Krieg. Sie erzählte ihrem Publikum von dem Projekt einer neutralen, pazifistisch ausgerichteten Zeitschrift, für die Schreibende aus allen Ländern Beiträge verfassen würden, damit die Stimme der Vernunft vernommen werden würde. Sie kritisierte die Presse dafür, ein Sprachrohr des Hasses statt der Versöhnung zu sein, und hob als besonders übles Beispiel die französische Zeitung Le Matin, ein notorisches Hetzblatt, hervor. Das nützte ihr aber gar nichts, denn sie wurde von den wegen der vermeintlichen Verunglimpfung der deutschen Presse aufgebrachten Zuhörern niedergeschrien, konnte ihren Vortrag nicht zu Ende halten und musste noch am selben Abend mit dem Zug nach Berlin fliehen. Von da an war sie in Deutschland eine persona non grata. Wieder waren es ihre Freunde, die alten wie Franz Blei und neue wie René Schickele, die ihr den Rücken stärkten. Der Elsässer Schriftsteller René Schickele, der sich einmal selbst als zweisprachigen Grenzvogel bezeichnet hat, besuchte die als Landesverräterin beschimpfte Autorin in München und versicherte sie seiner Solidarität. Annette Kolb hatte moralischen Beistand bitter nötig. Zu allem Unglück starben 1915 zuerst ihre Mutter und wenige Monate danach ihr Vater. Ohne ihre Eltern war die Tochter zweier Länder plötzlich heimatlos. Sie konnte zwar noch publizieren, doch es waren bezeichnenderweise Briefe an einen Toten. Und sie wusste auch nicht, wie lange sie, die den Boden unter den Füssen verloren hatte, noch frei sein würde.
Die politische Verfolgung, der Annette Kolb in Deutschland ausgesetzt war, war real. Am 9. Mai 1916 fiel die Tür zu ihrem Käfig ins Schloss. Das Bayerische Kriegsministerium erließ eine Verordnung, die der Schriftstellerin die Möglichkeit nahm, öffentlich aufzutreten, sie mit einem Publikationsverbot belegte, ihre Korrespondenz stark einschränkte und ihr Reisen ins Ausland untersagte. Annette Kolb saß in München fest und konnte nichts tun. Einzig der Uneinigkeit der Behörden hatte sie es zu verdanken, dass sie im August 1916 für ein paar Wochen in die Schweiz reisen und Freunde, darunter Romain Rolland, dessen Bekanntschaft sie im Jahr zuvor gemacht hatte, treffen konnte. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Harry Graf Kessler kennen. Er und Walter Rathenau sorgten dafür, dass sie schließlich wieder einen regulären Pass bekam. Im Februar 1917 fuhr Annette Kolb wiederum in die Schweiz, diesmal auf Jahre. Deutschland sah sie erst nach dem Krieg wieder.
Obschon sie sich im Exil befand, bedeuteten die Jahre in der Schweiz für Annette Kolb eine Befreiung. Zwar war sie unbehaust und reiste von Ort zu Ort, nirgends konnte und wollte sie sich länger niederlassen, doch durfte sie nun endlich wieder sagen und schreiben, was sie dachte. Dem Käfig entronnen, breitete sie ihre Flügel aus. Kaum in der Schweiz, veröffentlichte sie im Journal de Genève unter dem Titel Lettre d'une Allemande [Brief einer Deutschen] einen Artikel, in dem sie das in Dresden Gesagte nochmals aufgriff. Der Titel war eine Anspielung auf ihr 1916 bei Kurt Reiss erschienenes Buch Briefe einer Deutsch-Französin. Diese Briefe waren bereits früher in der von René Schickele redigierten Zeitschrift Die weißen Blätter erschienen. Schickele lebte mittlerweile auch in der Schweiz und stand in regem Kontakt mit Annette Kolb.
Im Exil nahm sie ihre privatdiplomatischen Bemühungen wieder auf, musste aber einsehen, dass trotz der freundschaftlichen Beziehungen, die sie zu Entscheidungsträgern wie Harry Graf Kessler hatte, ihr Einfluss auf die Zeitläufte gegen Null tendierte. Weder die klandestinen Treffen in ihrer Wohnung zwischen Pazifisten, Diplomaten und Schriftstellern aller Länder noch all die Briefe und Artikel, die sie schrieb, bewirkten auch nur das Geringste. Allerdings hatten ihre vergeblichen Aktivitäten einen nicht beabsichtigten, aber umso schöneren Nebeneffekt: In der Schweiz gewann Annette Kolb unter den Exilierten wahre Freunde. Romain Rolland und Hermann Hesse wurden von Kollegen zu Freunden, und die österreichische Schriftstellerin Berta Zuckerkandl lernte sie in der Schweiz überhaupt erst kennen. Besonders aber mit René Schickele verband sie von den Schweizer Jahren an eine Freundschaft, die ihr weiteres Leben bestimmen sollte.
An Alfred Walter Heymel
21.09.[1914]
Lieber Alfred
bitte lies diese Zeilen mit Bedacht! Zuerst vielen Dank für den Schein für Rosa.[55] Es ist rührend, wie hilfsbereit du immer bist.
Über die deutsche Diplomatie ein Wort. Man scheint mir hier ebenso kopflos vor - wie nachher; siehst du denn nicht, wer die Hauptschuld trägt!! Die, welche ausgerechnet die grössten Esel von Deutschland an die ausgerechnet verantwortungsvollsten Posten sandten, also das auswärtige Amt, das eine ebensolche Blütenlese mit ins Hauptquartier S.M.'s[56] nahm und in den Friedensverhandlungen egal alles verpatzen wird. Ich kann noch nicht alles sagen was ich seit 15 Jahren weiss, aber es wird zu Tage kommen, hoffentlich bald. Deutschland erweckte den Eindruck durch seine Botschafter als sei es inferior, die guten Köpfe drangen nie durch. Barrère[57] war mit 28 Jahren Gesandter. Wir haben einen gescheiten Gesandten in Copenhagen,[58] sonst wäre dort wohl längst der Bruch entstanden - aber vielleicht ist er 9 Monate zu jung um ein Botschafter zu sein. Der grösste Diplomat der Welt war ein Deutscher. Es bedurfte besonderer Umstände dass er durchdrang - du weisst welche - und doch welche Kämpfe bis es ihm gelang. Unsere guten Leute werden ausgenützt, untergehalten u. diszipliniert, bis ihnen der Atem ausgegangen ist. Die Schlüsse welche die Gedankenlosen ziehen, ist, dass wir sie nicht haben. - Wie wünschte Rich.[59] immer Solf[60] möchte Botschafter werden. Wird man endlich darauf kommen. Nein Alfred, gute Köpfe in Deutschland sind immer Duldner u. vielleicht sind es deshalb vielleicht stets noch die besten Köpfe geworden. Hast du den Aufsatz von Mons,[61] dem ehemaligen Botschafter (den Fürst Bülow[62] natürlich cassieren liess weil er was taugte!) im Berliner Tagblatt 25. August Abendbl. gelesen? Da kannst du die Wahrheit über unser ausw. Amt zwischen den Zeilen lesen und unverblümt.
Lichn.[63] war der wenigst dumme von den Dreien oder Vieren. Schön[64] u. Pourt.[65] haben den Record. In England sind 90 pr.C. gegen den Krieg wie Mons hervorhebt, vor 8 Jahren wären sie alle dafür gewesen dort; es ist so gedankenlos die gebahnte Annäherung jetzt zu läugnen, weil sie durch Sarajewo vor dem Abschluss in die Brüche ging; tue du das wenigstens nicht. Mir tun alle die gedacht haben (und ich rechne mich darunter) heute bitter leid. Da hast du meine Meinung. Und darum halte ich jetzt, wie nie vorher zu Kühlm.[66] und weiss warum. Denke dir, ihn liess man in Ohlstadt[67] bis zur allerletzten Minute und rief ihn erst zurück, dass er gerade recht kam um seine Pässe zu kriegen. L.[68] wollte Alles selbst...
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