Schweitzer Fachinformationen
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Helena klingt wie immer, Karo fühlt sich, als stünde sie direkt neben ihr. In alltäglichem Ton geht sie die morgigen Kundenmeetings durch. Miina wird auch ins Büro kommen, sagt Helena, Miina hätte die besten Beziehungen zu den Leuten von der Stadtverwaltung. Dabei wissen sie alle, dass diese Leute vor niemand anderem als Helena auf die Knie fallen, genau wie alle anderen Kunden auch, aber Helena versieht Menschen gern mit Kompetenzen und Erfolgen, die diese eigentlich nicht haben. Sie findet, das sei die perfekte self fulfilling prophecy: Wenn man Leute lang genug lobt, glauben sie das in der Regel und halten sich irgendwann für großartig, und dank des falschen Selbstbilds gelingen ihnen Dinge, an denen sie sonst gescheitert wären. Und falls sie dem Lob misstrauen, setzt die hohe Meinung ihres Gegenübers sie zumindest so unter Druck, dass sie sich ordentlich abstrampeln, damit die Wahrheit ja nicht ans Licht kommt.
Karo weiß nicht, was sie von Helenas Methode halten soll. Manchmal überlegt sie, mit welchen falschen Lorbeeren Helena sie zu manipulieren versucht, doch am Ende spielt das eigentlich keine Rolle, weil in Helenas Gegenwart sowieso immer eine gewisse Anspannung herrscht.
Sie kennen sich seit dem Studium. Sie haben zusammengewohnt, das Glück, die Kämpfe und auch die Tiefpunkte der jeweils anderen miterlebt. Die inneren Tode und Neuanfänge. Sie haben sich mit Restalkohol im Blut ihre Ängste und Befürchtungen gestanden, und als die Monate und Jahre sie zäh genug gemacht hatten, gründeten sie gemeinsam eine Firma und erreichten mehr, als sie je gedacht hätten. Mit der Partnerinnenrolle ist Helena für Karo sogar wichtiger als Risto, wie sie feststellen musste, und wenn Helena sich über die gutgläubige Eitelkeit ihrer Mitmenschen amüsieren will, soll sie's ruhig machen. Karo lässt ihr das durchgehen. Wenn sie also behaupten will, Miina hätte die besten Beziehungen zur Stadt, gern.
Karo geht ins Schlafzimmer und legt sich aufs Bett. Über ihr erstreckt sich der Sternenhimmel. Eine solche Weite hat sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie könnte Helena in diesem Moment ewig zuhören, doch leider wird sie jetzt zu einer Reaktion aufgefordert.
». Wie bitte?«, fragt Karo.
»Ob du es vor dem Meeting noch ins Büro schaffst.«
»Äh, nein.«
»Dann sehen wir uns direkt bei denen.«
»Helena?«
»Ja?«
»Wir hatten einen Unfall.«
Karo hört Helenas Tochter Ella kichern, sie spielt offenbar ein Computerspiel.
»Wie?«
»Einen Autounfall.«
»O Gott!«
Helenas erschrockener Aufschrei bricht abrupt ab. Für einen kurzen Moment ist die Verbindung schlecht, dann füllt Helenas Stimme alles aus. Sie stellt Fragen, auf die Karo nie gekommen wäre. Sie sagt, dass alles gut wird, Karo würde ja bald wieder zu Hause sein. Karo stellt sich vor, wie Risto morgens wieder in ihrer Wohnung in Helsinki-Töölö bleibt und Kaffee trinkt, während sie selbst ins Büro geht, den ganzen Vormittag am Schreibtisch sitzt, gegenüber von Helena, und das einzige Geräusch ist das monotone Klackern der Tastaturen. Bis eine von ihnen die andere etwas fragt. Oder sie zu einem Meeting müssen, ihre schwarzen Mäntel überziehen, ins Taxi steigen, durch ihre Kalender scrollen und den Stau verfluchen.
»Ist es okay, wenn du das mit Miina allein machst?«, hört Karo sich fragen. »Um drei ist noch das Treffen mit diesem Viljamaa, wegen der Leuchttafel und wie man sie bedient. Kannst du dich darum kümmern, oder soll ich das absagen? Ich verlinke dir für alle Fälle meinen Kalender, ich weiß noch nicht, mit welchem Flug wir kommen.«
Sie hört die Haustür auf- und zugehen. Mit dem Handy am Ohr läuft sie rüber ins große Zimmer. Wo sind die anderen hin? Helenas Stimme dringt gleichmäßig aus dem kleinen Lautsprecher, ein helles Sprudeln, durchs Fenster sieht sie Risto mit einem der Polizisten im Schnee stehen und reden. Hören kann sie sie nicht, und auch Helenas Stimme ist jetzt nur noch ein fernes Hintergrundgeräusch. Karo hat vergessen, was sie sagen wollte, vielleicht ist das Treffen ja auch erst übermorgen.
»Hallo? . Hallo?«
Sie legt auf.
Risto bleibt noch eine Weile draußen stehen und sieht dem Polizisten hinterher, der seinem Kollegen zum Wagen folgt. Schon wieder lässt er die Schultern hängen und sieht irgendwie fremd aus, wie vorhin auf der Bank, als er auf sie gewartet hat. Karo überlegt, ob er immer so aussieht, wenn sie nicht hinguckt. Sitzt Risto derart niedergeschmettert auf dem Sofa, am Tisch? Ab sofort muss sie genauer auf ihn achten. Vielleicht setzt die Erfahrung, nur knapp dem Tod entronnen zu sein, ihm mehr zu als ihr. Risto verzeiht sich keine Fehler, und etwas wie der Tod wäre ja wohl ein Riesenfehler. Man muss stark und vital sein, selbst dann noch, wenn man fast umgekommen wäre.
»Entschuldigung?«
Risto dreht sich zu ihr um. »Hast du alles geregelt gekriegt?«, fragt er und lächelt.
»Ja, das war Helena. Was hat die Polizei gesagt?«
»Das Auto wird nach Kuusamo gebracht.«
»Und wo ist der andere Fahrer?«
»Welcher andere Fahrer?«
»Na, der im anderen Wagen saß.«
Ristos Augen verengen sich. Karo kennt diesen Blick. So schaut er, wenn er plötzlich etwas interessant findet. Wenn er einen Gedanken hat, den er nicht aussprechen will.
»Es gab keinen anderen Wagen.«
»Doch. Einen blauen Lieferwagen.«
Karo weiß es genau. Im Radio lief gerade das Cellokonzert von Carl Philipp Emanuel Bach. Dann tauchte der blaue Wagen in der Kurve auf und blendete sie. Jetzt ist es vorbei, dachte sie in dem Moment. Keine Schreie, keine quietschenden Bremsen, nur tödlich gleißendes Licht.
»Karo, die Straße war bloß vereist. Du hast eine Gehirnerschütterung und erinnerst dich nicht richtig.«
Er klingt gereizt, wie immer, wenn jemand etwas Einfaches nicht versteht. Aber schon bereut er seinen Ton, legt ihr die Hand auf die Schulter, streichelt über ihren Pulli und sagt ein bisschen freundlicher: »Es war einfach glatt, weiter nichts.«
Karo schämt sich. Sie kriegt schlecht Luft, draußen ist es furchtbar kalt, für einen Moment wird ihr schwindelig. Die Polizisten stehen jetzt drüben vor dem großen Haus und lachen, die Frau vom Empfang lehnt am Geländer und erzählt irgendeine Geschichte, ihre helle Stimme hallt weit durch die Schneelandschaft. Sie schmückt die Story genüsslich aus, nähert sich dem Höhepunkt, wirft die Hände in die Luft und lässt sie mit kleinen Wedelbewegungen wieder sinken. Die Männer ersticken fast vor Lachen. Risto hakt Karo unter.
»Komm, hier erfriert man ja.«
Sie hören noch den Schneepflug starten.
Mitten in der Nacht klingelt der Wecker. Karo schaltet ihn aus und setzt sich hin. Sie massiert ihren Nacken und klappt den Mund auf und zu, neigt den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Was sie geträumt hat, weiß sie nicht mehr, es war etwas Banales. Sie konnte gut einschlafen und hatte keine merkwürdigen Träume.
Risto schläft tief und fest. Auf dem Nachttisch steht sein leeres Weinglas, daneben liegen die Schlaftabletten und das Buch, das er vor dem Einschlafen gelesen hat, einer dieser Selfcare-Ratgeber, die er online bestellt, die braunen Pappumschläge stapeln sich zu Hause auf dem Flurtisch.
»Vergiss nicht, bewusst zu atmen. Vergiss nicht, Gefühle sind nur Gefühle. Du kannst dich stets von ihnen lösen«, hat er zitiert, als sie schon halb am Schlafen war.
Draußen im Wind schaukelt die Laterne. Das Foto an der Wand wird kurz angeleuchtet, dann liegt es im Dunkeln, immer wieder. Es ist eine Luftaufnahme der Hotelanlage, von weißer Ödnis umgeben, die Holzhäuser sind kleine dunkle Punkte. Die Metallteile der Lampe quietschen unangenehm, das Geräusch ist zwar kaum wahrnehmbar, stört aber die Stille im Zimmer. Karo steht auf, zieht die Vorhänge zu, bleibt mitten im Zimmer stehen und lauscht. Findet...
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