Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Am 21. August 1968 brach jene Welt zusammen, die mich bis dahin jahrelang geprägt hatte. Als einer, der am 20. Juli 1928 in Prag zur Welt kam, wurde mein Denken und Tun zuvor von vier historischen Ereignissen bestimmt.
Am Ende der zwanziger Jahre war es die große Weltwirtschaftskrise, die die Tschechoslowakische Republik, damals eine von zehn führenden Industrienationen der Welt, wie eine riesige Keule getroffen hat; auch mein Vater, Absolvent der Handelsakademie, blieb vier Jahre ohne Arbeit, und meine Mutter hat uns alle mit Sweaterstricken ernährt. Die Mehrheit der Bevölkerung, die deswegen in hohem Maße verarmte, verstand dies als absolutes Versagen des Kapitalistischen Systems. Und am Ende der Dreißiger war es das Münchner Abkommen, von unseren Verbündeten Frankreich und England mitunterzeichnet, das die demokratische Tschechoslowakei an Hitler ausgeliefert hat - gegen seine falsche Friedensgarantie. Die Mehrheit der Bevölkerung, die kämpfen wollte, verstand dies als totales Scheitern der westlichen Demokratien.
Im Jahre 1942 - ich war noch nicht vierzehn - halfen meine Eltern ohne mein Wissen ihrem Freund, dem orthodoxen Priester Vladimír Petrek, die tschechoslowakischen Fallschirmjäger aus England zu verstecken, die in Prag Hitlers Henker Reinhard Heydrich getötet hatten. Obwohl von der Gestapo schwer gefoltert, hat er bis zur Hinrichtung seine Helfer nicht verraten. Sein fester Glaube, dass uns die »slawischen Brüder«, die Russen, befreien würden, hat mich stark beeinflusst. Und es war in der Tat die Rote Armee, die vor der Landung der Alliierten in Frankreich für uns jahrelang die einzige Hoffnung bedeutete. Aus diesen vier Gründen wurde ich nach dem Kriegsende wie Hunderttausende anderer Mitbürger, die ihr verwüstetes Land erneut zum Wohlstand bringen wollten, Kommunist.
Schon nach wenigen Jahren begriffen wir, dass der Weg von Hitler zu Stalin ein Irrweg vom Teufel zum Beelzebub war. Und als im Jahre 1956 diese Vermutung von Nikita Chruschtschow bestätigt wurde, der den großen Stalin als den größten Verbrecher bezeichnet hat, gab es für die Nachkriegskommunisten, die sich als Mittäter fühlen mussten, nur drei Möglichkeiten: Entweder sich das Leben zu nehmen, was nicht wenige getan haben. Oder sich damit zu trösten, dass man das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, und das verlogene System weiter zu stärken, diesmal zum Schutz der eigenen Karriere. Oder aber verzweifelt nachzudenken, wie man den historischen Fehler wiedergutmachen könnte.
Die Aufstände in Ostberlin, Posen und Budapest zwischen 1953 und 1956 endeten immer wieder in einem Blutbad und bewiesen, dass die kommunistischen Regime mit Gewalt nicht zu beseitigen sind. Die realistisch denkenden Tschechen entdeckten dabei die Macht ihrer Massenpartei, deren Großteil immer noch aus den Idealisten der Nachkriegszeit bestand. Spontan begannen sie, bei allen künftigen Wahlen sämtliche Gremien von unten nach oben mit Vertretern einer grundlegenden Reformbestrebung zu besetzen. Zwischen 1956 und 1967 drangen die »Reformkommunisten« auf alle Ebenen der Parteipyramide vor, von den Basisorganisationen bis ins Zentralkomitee. Der Kreml hat das in der Hoffnung geduldet, dass die tschechoslowakischen Ökonomen herausfinden würden, wie die marode Wirtschaft aller »Bruderländer« saniert werden könnte.
Der reformträchtige »Prager Frühling« 1968 ist bald an die Grenze des Möglichen gestoßen: die heilige Kuh der Planwirtschaft, von der Staatspartei dogmatisch befehligt. Und in dem Augenblick, als die klug gewordene Gesellschaft den Mut zur Freiheit geäußert hat, kamen am 21. August 1968 die Panzer der Sowjets, der Polen, der Ungarn, der Bulgaren und der DDR-Deutschen, unter dem Kommando des Kreml.
Ich befand mich damals auf einer Sommerreise in Italien mit meiner Freundin Jelena, Studentin der Prager Filmhochschule, die ich nach der Rückkehr - ich war bereits zweimal geschieden - nach fünfjähriger Bekanntschaft zur dritten und letzten Frau zu nehmen gedachte. Unsere Verbindung war noch nicht ganz fest, weil ich immer noch Mitglied der Kommunistischen Partei war, während sie, aus einer demokratischen Familie stammend, nie an die Reform des totalitären Systems geglaubt hat. Die brutale Okkupation hat ihr recht gegeben, aber seltsamerweise alle unsere Differenzen weggewischt, wir fühlten uns plötzlich im selben Boot. Dabei kam es zu einem Ereignis, das mein Leben - das eines bereits anerkannten Dramatikers - grundsätzlich verändert hat:
Wir wollten auf dem Weg aus Rom nach Prag - Emigration kam für uns nicht infrage! - über Düsseldorf fahren, wo wir bereits im Frühling mit dem legendären Intendanten Stroux einen Vierjahresvertrag abgeschlossen hatten, ich als Autor und Regisseur, Jelena als Regieassistentin, die auch weiterhin Drehbücher und Hörspiele schreiben wollte. Jetzt mussten wir den Vertrag stornieren . Noch im Schweizer Gordevio trafen wir uns mit Günter Grass und haben gemeinsam im Fernsehen ein langes Gespräch über den brutalen militärischen Überfall geführt. Am nächsten Morgen riefen gleich drei Verleger an, die von mir ein Buch über den niedergeschlagenen Prager Frühling haben wollten. Zwei gaben sich damit zufrieden, dass ich Dramatiker bin und bis dahin keine Prosa geschrieben hatte. Der dritte, Jürgen Braunschweiger, editor-in-chief des großen C. J. Bucher Verlages in Luzern, erschien trotzdem auch noch persönlich.
Diesem sympathischen jungen Mann, der großes Verständnis für die geplante Reform zeigte, versprach ich verbindlich, für ihn in Prag einen erstklassigen Autor zu finden. Dort angekommen, stellte ich jedoch fest, dass alle Kollegen bereits für westeuropäische Verlage oder Zeitschriften schrieben, was ich dem Luzerner nur ungern mitteilte. Die Grenzen waren immer noch offen, und wir reisten bald nach Bern, um der Premiere meines Stückes So eine Liebe beizuwohnen. In der Früh rief mich die bekannte Stimme wieder an und bat inständig um ein Treffen. Unsere bevorstehende Zugreise zu meinem Auftritt in Rom sollte über Luzern führen, wo er zum Bahnhof mit den Büchern aus seiner Produktion kommen wollte, um mich abermals für sein Projekt zu gewinnen.
Er legte auf, bevor ich zu Wort kommen konnte, und so stand ich in Luzern auf den Waggonstufen und hatte vor, es betont höflich, aber ganz entschieden abzulehnen. Der Schaffner pfiff zur Abfahrt, ich musste die Tür schließen, der Mann erschien nicht, und ich kehrte zufrieden in unser Abteil zurück. Das Problem hatte sich von allein gelöst! In Rom brachte man uns in das Hotel Parco dei Principi, wo die internationale Protestkonferenz gegen die Okkupation stattfinden sollte. Als wir uns frisch gemacht hatten und ausgehen wollten, stand der Verleger in der Lobby. Er hatte den Zug in Luzern um zwei Minuten verpasst und fuhr ihm in seinem Auto in dem festen Glauben hinterher, er werde uns einholen. Und überall fehlten ihm nur wenige Minuten . Hör mal, sagte Jelena zu mir, er hat sich dein Buch wirklich hart verdient! Also gab ich ihm mein Wort .
Wieder in Prag, erlebten wir eine ganz neue Situation. Die Hoffnungen wichen der Angst, der Kreml werde sich ähnlich rächen wie nach dem ungarischen Aufstand, als »Drahtzieher der Konterrevolution« hingerichtet wurden oder spurlos verschwanden. Plötzlich war ich dem Mann aus Luzern dankbar, dass er mir die Gelegenheit bot, so etwas wie ein politisches Testament zur Rechtfertigung unseres Tuns zu verfassen, für meine Kinder und damit auch für alle, die sich dafür interessieren würden.
Nie zuvor und nie danach schrieb ich einen derart langen und wichtigen Prosatext, eigentlich meine Beichte, so spontan, als würde er mir diktiert. Von Anfang an war ich mir - wer weiß, warum - absolut sicher, dass er drei Ebenen haben müsste, die sich immer wieder miteinander verflechten sollten, damit das Buch eine eindringliche Dynamik erhielte. Die eine Ebene sollte Aus dem Tagebuch des Schriftstellers PK heißen, die andere Aus dem Tagebuch eines Bürgers und die letzte Aus dem Tagebuch eines Touristen.
Die erste Ebene sollte fast journalistisch die politischen Entwicklungen ab Mitte 1967 bis Anfang 1969 dokumentieren. Die zweite das Leben eines »mir ähnlichen« Altersgenossen beleuchten, der während des Krieges aufwächst, im Mai 1945 von sowjetischen Panzern befreit und nach dreiundzwanzig Jahren von denselben okkupiert wird. Und die dritte sollte eine Novelle werden, halb erlebt, halb erfunden, also echte Literatur. Und diese Mischung, eigentlich ein »Memoiroman« - diese Bezeichnung stammt von mir - bekam schon im Voraus den Haupttitel Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs, denn so lautete das Schimpfwort der Okkupanten für die Reformer.
Jürgen Braunschweiger, bald der größte ausländische Verleger tschechischer Autoren, die zu Hause verboten waren - nach und nach betreute er auch Alexander Kliment, Ludvík Vaculík, Ivan Klíma, Jirí...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.