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Donnerstag, 30. Mai 1799, Le Havre
Die Straße vor der »Auberge Du Pont De Normandie« lag noch im tiefsten Schwarz der Nacht. Und das, dachte Carl Ludwig Freiherr von Marburg, ist auch gut so. Tief hängende Wolken drängten von See her über die Stadt und brachten feinen Nieselregen herüber, der sich auf die Kutsche und das Gepäck legte. Von Marburg ließ seinen Blick noch einmal durch das kleine, schwach beleuchtete Zimmer gleiten, das er in den letzten drei Wochen mit seiner Frau Henriette bewohnt hatte. Er griff nach den beiden Steinschlosspistolen, ließ sie in die Taschen seines dunkelblauen Rocks gleiten und warf einen Blick aus dem Fenster hinunter auf die Straße, wo die zweispännige Berline, von zwei Laternen am Kutschbock beleuchtet, wartete. Zusammen mit dem Kutscher und einem Knecht hatten sie das Gepäck auf dem Dach der Kutsche und jedem sonst verfügbaren Platz verstaut, mehrere Koffer, Hutschachteln, eine Truhe und das Nötigste an Kleidern, das sie hatten mitnehmen können. Selbst die Seekisten mit Büchern, Karten und den wenigen wertvollen nautischen Bestecken und Gerätschaften, die von Marburg von Bord der »Friederike« hatte retten können, standen fest verzurrt auf der Gepäckablage hinter dem Fond der Kutsche.
»Herr von Marburg«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Wir wären dann so weit. Wenn es Euch beliebt, können wir aufbrechen.«
Der Freiherr wandte sich um und nickte. »Ist gut, Herr Hansen, ist gut. Ich komme.« Trotz seines gefassten Äußeren konnte er die Verbitterung, die sich in den vergangenen drei Wochen immer tiefer in ihn hineingegraben hatte, nicht verbergen. Hansen war der Kapitän der »Friederike«, deren Eigner von Marburg war und die hier in Le Havre im »Avant Port« festgemacht und interniert lag, aufgebracht von der französischen Fregatte »La Renommée« auf der Höhe von Brest. Es war ein Akt der Willkür und der Piraterie, wie er immer wieder betonte, schließlich war die »Friederike« ein deutscher Handelssegler unter Oldenburger Flagge, ein neutrales Schiff also, und die Querelen, die England, Spanien oder Österreich mit den Franzosen austrugen, gingen ihn nichts an.
Zumindest hatte er das geglaubt.
Von Marburg rückte seinen Dreispitz zurecht und folgte dem Kapitän die Stiege hinunter zur Straße, warf dem Pferdeknecht eine kleine Münze zu und gab dem Kutscher das Handzeichen zum Aufbruch. Zusammen mit dem Kapitän bestieg er die Kutsche, in der bereits seine Frau und eine »Reisebekanntschaft mit bewegter Vergangenheit« saßen. Die Achsen und der Fond der Berline knarrten, dann warf der Kutscher den Schlag zu, und kurz darauf setzte sich das Gefährt mit einem Ruck in Bewegung. Von Marburg sah prüfend hinaus in den diesigen Nachthimmel. Es würde noch eine knappe Stunde dunkel bleiben. Doch bis Sonnenaufgang hatten sie Le Havre und das jakobinisch revolutionäre Pack, das sich »Volksvertreter« nannte, gewiss lange hinter sich gelassen. Für den Augenblick machten ihn jedoch das Rumpeln der Räder und das Schlagen der Hufe auf dem nassen Kopfsteinpflaster mehr als nervös. In den verwaisten Straßen schien alles zehnmal so laut, und die Stadtwachen, hieß es, patrouillierten auch nachts.
Fürs Erste aber blieben sie unbehelligt und erreichten die weniger dicht bebauten Ausläufer der Hafenstadt, das Kopfsteinpflaster wechselte zu grobem Schotter, der unter den Rädern knirschte, jedoch weit weniger Lärm machte, und als sie endlich auf die Straße nach Saint-Martin-du-Manoir abbogen, ließen sie die patrouillierenden Garden, ihre Nervosität und sogar Wolken und Niesel zurück. Stattdessen färbte sich der Himmel vor ihnen um die aufgehende Sonne violett-rot.
»Kaum Wind«, stellte Kapitän Hansen fest, der neben Carl Ludwig von Marburg saß, das Fenster seines Schlags geöffnet hatte und hinaussah. »Wird ein heißer Tag werden.«
Seemannsgeschwätz, dachte von Marburg und nickte nur. Ihm war nicht nach Konversation zumute. Er saß mit geradem Rücken auf den abgewetzten Sitzpolstern der Kutsche, die Hände auf seinen Gehstock gelegt, und sah ebenfalls aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Seine stattliche Erscheinung hatte in den letzten drei Wochen zusehends gelitten. Sein Backenbart war um Nuancen grauer geworden, die Augen tief liegend und die Wangen eingefallen. Er, der für seine fünfundfünfzig Jahre noch beinahe jugendlich ausgesehen hatte, ertappte sich seit Tagen immer öfter dabei, zusammengesunken und deprimiert auf einem der Stühle ihres Zimmers zu sitzen und aus dem Fenster zu starren. Nicht, weil ihn die Angst vor einem Umsturz plagte, wie ihn Frankreich seit einigen Jahren erlebte - mit schlimmen Konsequenzen gleichwohl für Adelige wie ihn -, sondern weil ihm klar geworden war, dass er sein Lebenswerk würde zurücklassen müssen, um sich und seine Frau Henriette in Sicherheit zu bringen. Und was Henriette erst allmählich bewusst wurde, das hatte sich für ihn schon seit ihrer Ankunft in Le Havre abgezeichnet: Ohne die »Friederike« und ihre Ladung war er insolvent. Seine Versicherung würde das verlorene Schiff nicht ersetzen, und wenn es ganz schlimm kam, war er auf Almosen und Protektion seines Bruders angewiesen. Ein gefundenes Fressen für den älteren der beiden Brüder. Er würde mit Häme und Vorwürfen nicht sparen, beruhte doch die ursprüngliche Abfindung, die es ihm vor knapp zwanzig Jahren ermöglicht hatte, nach Oldenburg zu übersiedeln und die »Friederike« zu erstehen, ohnehin nur auf familiärer Großzügigkeit.
Von Marburg versuchte, den Gedanken zu verdrängen und stattdessen die Chancen zu berechnen, unbehelligt durch Frankreich zu gelangen. Wenn die Behörden ihre Flucht bemerkten, würden sie ihnen Reiter nachschicken, Dragoner vermutlich, die sie zurückbringen würden, damit in einem ordentlichen Gerichtsverfahren festgestellt werden konnte, ob sie der Begünstigung des Feindes, proroyalistischer Umtriebe oder gar konterrevolutionärer Machenschaften schuldig waren. Bei seinem derzeitigen Glück würde am Ende sogar alles zusammen in der Anklage stehen. Von Marburg verzog missmutig den Mund. Konnte man ein solches Verfahren überhaupt »ordentlich« nennen? Es würde ein politisches Tribunal werden, nichts anderes. Bestenfalls unter dem Vorsitz irgendeines Commissaires des revolutionären Nationalkonvents.
Mit einem lauten »Brrr« brachte der Kutscher die Pferde zum Stehen. Hansen und von Marburg sahen sich fragend an, dann steckten sie den Kopf durch das Fenster, ein jeder auf seiner Seite. »Was zum Teufel«, begann von Marburg - dann verstummte er. Eine Rotte Dragoner versperrte die Straße. Weit früher, als er befürchtet hatte.
Einer der Reiter lenkte sein Pferd neben die Kutsche, beugte sich herab und sah in den Fond, wobei er lässig grüßte. »Wohin soll es denn gehen?«, fragte er, richtete sich auf und betrachtete das Gepäck auf dem Dach. »In die Sommerfrische?«
Von Marburg warf einen kurzen Blick auf die Uniform. Ob gut oder schlecht - es handelte sich um keinen Gemeinen, sondern einen Secondelieutenant der neuen Gendarmerie impériale, und er hoffte, dass die Reiter nicht aus Le Havre kamen. Von Marburg beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen, zumindest mit einem Teil davon: »Wir kommen aus Rouen«, log er in seinem besten Französisch. »Wir waren zu Besuch bei Freunden und sind nun auf dem Rückweg nach Oldenburg.«
»Oldenburg?« Der Secondelieutenant lächelte unangenehm freundlich. »Nie gehört. Wo ist das?«
»Wir sind Deutsche«, erwiderte von Marburg etwas konsterniert. Nach kurzem Überlegen erklärte er: »Das Herzogtum grenzt an das Kurfürstentum Hannover.«
»Hannover?«, fuhr ihn der Offizier an. »Dann seid Ihr mit den Engländern im Bunde!«
»Gott bewahre!«, entfuhr es von Marburg. Eine Reaktion, die so unvermittelt und entsetzt war, dass sie den Secondelieutenant belustigt auflachen ließ, aber letzten Endes von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugte.
»Nun gut«, grinste er. »Ich will Euch glauben. Dann sagt mir, wer sind denn Eure Freunde in Rouen?«
Mit dieser Frage hatte von Marburg gerechnet, eine Antwort hatte er dennoch nicht darauf. Natürlich hatten sie keine Freunde in Rouen, aber zu sagen, dass sein aufgebrachtes Schiff in Le Havre festgehalten wurde und sie auf der Flucht vor den dortigen Behörden waren, verbat sich aus naheliegenden Gründen. Die Gendarmerie hätte sie sofort an den Vertreter des revolutionären Nationalkonvents überstellt.
»Monsieur et Madame Dubois«, sagte ihre Reisebekanntschaft. »In der Rue Saint-Sever.« Sie hatte die Augen nur zu einem Schlitz geöffnet und lehnte noch immer wie schlafend in ihrer Ecke des Sitzes. Der Secondelieutenant konnte sie vom Sattel aus nicht erkennen. Er beugte sich erneut ein wenig herab. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und sofort ging der Dragoner die Liste der im Département gesuchten Personen durch. Er wusste, dass auch Frauen unter ihnen waren, Adlige oder Verräterinnen des Ancien Régime, Mätressen oder Bedienstete. Dann beugte sich Henriette von Marburg vor, die sich angesichts der zunehmenden Hitze des Tages mit ihrem Fächer Kühlung verschaffte. Der Secondelieutenant wischte den Gedanken an die Gesuchten beiseite und nickte zerstreut. »Soso, die Dubois'«, sagte er schließlich. Dann aber schien er es dabei belassen zu wollen und winkte sie weiter. »Seid auf der Hut, Monsieur«, sagte er zu von Marburg gewandt. »Hinter Abbeville treiben sich Briganten herum. Wenn dies Eure Route ist, so dürfte sie gefährlich werden.« Damit grüßte er und lenkte sein Pferd von der Kutsche weg.
Von Marburg atmete erleichtert aus....
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