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Zu den bezauberndsten Kunstwerken der griechischen Antike gehört die Dionysos-Schale (Trinkschale) des athenischen Töpfers und Vasenmalers Exekias: Sie zeigt den Gott gelassen hingelagert in einem von Delphinen umspielten Schiff, das weiße Segel elegant gebläht, als glitte das Schiff von aller Erdenschwere befreit über die Fluten dahin. Dem Mastbaum entsprießen Weinreben, deren Blätter und Trauben ein breites laubenartiges Dach über dem Schiffe bilden.
»Schöne Welt, wo bist du? - Kehre wieder, / holdes Blüthenalter der Natur! / Ach! Nur in dem Feenland der Lieder / lebt noch deine goldne Spur.« klagte Schiller in »Die Götter Griechenlands«.
Aber der auf der Schale abgebildete Mythos - er wird im Dionysos-Hymnus (Hymne 7) der Homerischen Hymnen erzählt - handelt von der Rache des Dionysos, von der Piraterie als einer der steten Heimsuchungen und dunklen Drohungen der mittelmeerischen Welt: »die fast ständige Bedrohung durch Piraterie«, wie es David Abulafia in seiner Geschichte des Mittelmeers formuliert.1 Die Delphine auf der Schale sind von Dionysos verwandelte Piraten. Sie hatten ihn am Strande gefangengenommen, wo er »ganz gleich einem jüngeren Manne« gestanden hatte, und hofften nun auf reiches Lösegeld, hielten sie ihn doch »für einen Sohn von zeusgenährten Königen«. Aber bald nachdem das Schiff abgelegt hatte, geschahen seltsame Dinge: »Wein zuerst überströmte das schwarze Schiff, das geschwinde, / lieblich süß, wohlriechend«; dann entfalten sich der Weinstock und andere Pflanzen und Früchte - schließlich verwandelt sich der Gott in einen brüllenden und reißenden Löwen und erschafft noch eine Bärin - in panischem Schrecken springen die Piraten »hinab in die göttliche Salzflut, / in Delphine verwandelt.«
In der geschichtlichen Realität war es anders: Da verursachten die Piraten panischen Schrecken, Entsetzen und Flucht: In der Einleitung zu seinem »Piracy in the Graeco-Roman World« spricht der britische Historiker Philip de Souza von der in jener Welt verbreiteten »Todesangst vor einem plötzlichen Überfall der Piraten und der Panik und dem Leiden, die damit meist einhergingen. Mord, Plünderung und Entführung durch die vom Meer herkommenden Gewalttäter waren gewohnte Schrecken für viele Bewohner des Mittelmeerraums in der Antike. In den erhaltenen historischen Dokumenten finden sich zahlreiche Beispiele für Angriffe der Piraten an Land und zur See. Von den Gedichten Homers bis zu den Werken des heiligen Augustinus waren Piraten und Piraterie ein stets wiederkehrendes Motiv der antiken Literatur.«
Verhängnisvoller noch als die Raubzüge zur See waren laut einem weiteren Standardwerk zum Thema, Henry A. Ormerods »Piracy in the Ancient World«, die Raubzüge an Land mit den ständigen Entführungen. »Das erregte die meiste Furcht und übte die nachhaltigste Wirkung auf das Leben am Mittelmeer aus.«2
In »The Rape of Troy« schreibt Jonathan Gottschall: »In schnellen Booten mit geringem Tiefgang rudert man an die Strände, und die Siedlungen am Meer werden gebrandschatzt (.) Die Männer werden in der Regel getötet, Vieh und andere transportable Wertgegenstände werden geplündert, und die Frauen werden mitgenommen; sie müssen unter den Siegern leben und ihnen sexuelle und niedere Dienste leisten. Die Männer lebten zu Homers Zeiten mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Todes; die Frauen hatten ständig Angst um ihre Männer und Kinder und fürchteten sich vor den Segeln am Horizont, die unter Umständen ein neues Leben voller Vergewaltigungen und Sklaverei ankündigten.«3
Ormerod erinnert daran, dass Piraterie jahrhundertelang zur Lebenswirklichkeit des Mittelmeerraums gehörte und deshalb großen Einfluss auf das Leben in der antiken Welt ausübte. Und das gilt ebenso für die anderthalb Jahrtausende nach dem Ende des Römischen Reiches.4
Es ist sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass Piraterie von den Anfängen bis heute - und offenbar überall auf der Welt - ein amphibisches Phänomen war. »Tatsächlich könnte man Piraten weniger als rein maritime Figuren, sondern eher als >amphibische Wesen< ansprechen. Das gilt ebenfalls für die Frühe Neuzeit. Zum Beispiel nutzten die Karibikpiraten im 16. und 17. Jahrhundert geographisch Land und Meer gleichermaßen.«5 Ihre Beute und ihre Opfer fanden die Piraten von jeher - und zu manchen Zeiten in erster Linie - auf dem Land, an den Küsten und in den Häfen, Dörfern und Städten, oft weit hinein ins Inland. Das gilt um so mehr, je weiter man historisch zurückgeht, einfach weil der Umfang des Seehandels damals so viel geringer war.
Das alte englische Recht trug der Realität insofern Rechnung, als es von »Piraterie zu Wasser oder zu Lande« sprach, später differenzierter formuliert: »eine auf dem offenen Meer oder herrenlosem Land oder auf dem Territorium eines Staates durch einen Angriff von See her von einer Vereinigung von Männern begangene Gewalttat, die unabhängig von jeder politisch organisierten Gesellschaft handeln.« Der französische Althistoriker Yvon Garlan schreibt in bezug auf die Antike: »Wollte man Piraterie (auf dem Meere) von Banditentum (zu Lande) trennen, so hieße das die Einheit ein und desselben geschichtlichen Phänomens zu zerstören - (.) denn diese beiden Arten räuberischer Unternehmungen waren im konkreten Fall schwer zu unterscheiden, da die antike Piraterie im allgemeinen eher in Küstennähe denn auf hoher See praktiziert wurde.«6 Und das gilt bis in die Gegenwart; auch die Herausgeber von »Pirates, Ports, and Coasts in Asia« sehen sich genötigt, »Aktivitäten« wie »den Überfall auf Küstensiedlungen, deren Zerstörung und Plünderung und die Gefangennahme der Einwohner« als »Akte der Piraterie« zu bezeichnen, um der Realität gerecht zu werden. Ikurya Tokoro schreibt dort, dass »zur Piraterie im heutigen Sulu auch Angriffe auf Küstendörfer, -städte und andere Küstenanlagen etc. gehören (.) diese Überfälle auf Küstengebiete waren traditionell die am weitesten verbreiteten Aktivitäten in diesem Teil des maritimen Südostasiens seit vorkolonialer Zeit.«7
Noch heute weisen die Küsten des Mittelmeers die Spuren der ständigen Überfälle der Piraten auf. Thukydides schon betonte, dass die ältesten bewohnten Orte sowohl auf dem Festland wie auf den Inseln der Piraterie wegen von der Küste entfernt lagen. Man denke nur an die erste Siedlung auf dem Hügel von Knossos, vier Meilen vom Meer entfernt, oder das frühe Athen auf der binnenländischen Akropolis und die erste Siedlung auf dem Akrokorinth. Was Thukydides für das frühe Griechenland festgestellt hatte, gilt für den gesamten Mittelmeerraum. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es normal, dass sich die wichtigsten Städte und Dörfer in einiger Entfernung vom Meer und oft außer dessen Sichtweite befanden.8 Die uralten Nuraghen Sardiniens sollen auch dem Schutz vor Piraten gedient haben und die ersten Bewohner Siziliens sich aus eben diesem Grund auf steilen felsigen Erhebungen angesiedelt haben.
In der Antike erreichte diese Bedrohung von Küsten und Binnenland mit den kilikischen Piraten ihren Höhepunkt. Plutarch nennt dreizehn Heiligtümer, die in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. geplündert wurden. Ihm zufolge betrug die Zahl der Seeräuberschiffe damals über tausend, die Zahl der von den Piraten eroberten Städte vierhundert. Dio erzählt, wie die Räuber Häfen und ganze Städte ausplünderten und fast wie Nationen organisiert waren. Cicero beklagt die Plünderung heiliger Stätten in Knidos, Kolophon und Samos, die wiederholten Überfälle auf Sizilien, die Plünderung von Delos, Caieta, Misenum und sogar Ostia: »nunmehr mussten wir nicht nur auf die Provinzen und die Seeküsten Italiens und unsere Häfen, sondern sogar auf die appische Straße verzichten.«9 Pompeius schaffte dann 67 v. Chr. auf der Grundlage von Notstandsgesetzen und enormem finanziellen und militärischen Aufwand das Problem aus der Welt. Einem modernen Kommentator zufolge setzte Rom damals das Äquivalent des halben Staatshaushaltes und der Hälfte der Streitkräfte der heutigen USA ein.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches wurden nach den vandalischen die muslimischen Piraten zu Nachfolgern der kilikischen. Zunächst die arabischen »Sarazenen«, an die heute noch die villages perchés im Hinterland der Côte d'Azur erinnern, dann die Türken und die Korsaren der Barbareskenstaaten, die laut Salvatore Bono keine Küste verschonten und eine ständige Gefahr für die Küstenbewohner darstellten. »Noch heute erinnern zahlreiche steinerne Wehr- und Beobachtungstürme an den europäischen Mittelmeerküsten daran, wie groß die Bedrohung durch die muslimischen Korsaren war. Die meisten dieser Türme stammen aus dem 16. Jahrhundert. Manche wurden auf Vorgängerbauten errichtet, die schon im Mittelalter zum Schutz gegen die Sarazenen gedient hatten. Größere Städte suchten sich durch Bau und Verstärkung von befestigten Mauerringen und Befestigungsanlagen zu schützen. Bei diesen Maßnahmen war die Furcht vor Überfällen durch Korsaren oder einem Angriff der türkischen Flotte das Hauptmotiv.«10 Auch die muslimischen Bewohner Nordafrikas und der Levante waren von - christlichen - Piraten und Korsaren bedroht wie etwa den Schiffen des Malteserordens. David Mitchell weist in seinem Buch »Pirates« darauf hin, dass die ständigen Überfälle dazu führten, dass Siedlungen aufgegeben, Inseln evakuiert, Städte und Dörfer ins Binnenland verlegt und...
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