Schweitzer Fachinformationen
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Donnerstag, 3. Mai 1951. Christi Himmelfahrt. Früher Morgen. Wolkenloser blauer Himmel über Opladen. Die Sonne beginnt den Tag zu wärmen. Der Nordwestdeutsche Rundfunk meldet in seinen Nachrichten: In Korea bauen die nordkoreanischen und chinesischen Truppen ihre Stellungen aus. Sie rüsten auf für ihre große Frühjahrsoffensive. Amerikanische Flugzeuge bombardieren in ihrer bisher größten Aktion des Koreakrieges Flugplätze an der Grenze zu China. Zum damenhaften Schick der deutschen modebewussten Frau empfehlen die aufblühenden Modeagenturen farblich sorgfältig abgestimmte Accessoires wie Schmuck, Hüte und Handtaschen. Besondere Hüftmieder betonen den Knick der Wespentaille.
Sebastian Nettelbeck radelt über die eiserne Wupperbrücke, strampelt die Düsseldorfer Straße hinauf zum Frankenberg, zu seinem Stadtarchiv. Schön liegt zwischen hohen alten Bäumen das prächtige Landratsamt vor ihm, mit dem großen Säulenportal, dem breiten Balkon darüber, den beiden herrschaftlichen Etagen und dem mächtigen gewölbten Dach. Unter dieser Haube ist sein Stadtarchiv verstaut. Von der St.-Ulrich-Kirche weht der Klang der Glocken herüber, ruft zum Morgengebet. Christi Himmelfahrt. Mag er hinauffahren in den Himmel, Nettelbeck hat zu tun, Feiertag hin oder her, noch so viel zu tun.
Er schießt sich seinen rechten Zeigefinger weg. Mit seiner Pistole bei Schießübungen während des Drills, aus ihm einen Soldaten zu machen. Es bleibt nur ein Stummel. Mit so einem Stumpf kann er nicht den Abzugshahn einer Pistole, eines Karabiners, eines Maschinengewehrs drücken. In den Krieg will er auf keinen Fall. Diesen Irrsinn macht er nicht mit. Nein, er nicht. Er hat erreicht, was er will, ist wehrunfähig, wird freigestellt. Besser ein Finger weniger als tot im Krieg. In mehreren Ämtern schlägt er sich mit Büroarbeiten durch. In Papieren blättern und mit neun Fingern auf einer Schreibmaschine tippen, das kann er.
Während des Krieges bleibt im Opladener Stadtarchiv alles liegen. Niemand registriert die Ankäufe, die Erbschaften, die Hinterlassenschaften der Toten, stopft die Konvolute, die Dossiers, Urkunden, Korrespondenzen in Regale, stapelt die Dokumente, Chroniken, Aktenbündel auf dem Boden. Auch nach dem Krieg lässt man alles verrotten und verschimmeln. Dringend braucht man jemanden, der Ordnung schafft in diesem Chaos. Da taucht Nettelbeck auf und fragt nach Arbeit. Er wird angestellt als Archivar, was er nie gelernt hat. Macht nichts, Hauptsache, man hat jemanden, der sich über diesen Wust hermacht. Sein fehlender rechter Zeigefinger ist kein Hindernis. Er ist dreißig, nicht verheiratet, keine Familie und ist froh, in den alten Papieren wühlen zu dürfen.
Bei seiner Einstellung sagt man ihm, das Stadtarchiv sei das Gewissen und Gedächtnis von Opladen, und stellt ihm als Hilfe die Kriegerwitwe Elfriede Martens zur Seite. Ihr Mann liegt irgendwo in Russland. Das hätte auch ihm passieren können, wenn er sich nicht den Finger weggeschossen hätte. Mit ihr macht er sich voller Schwung und Elan an die Arbeit. Sie ordnen, registrieren das verrottete, verschimmelte Gewissen und Gedächtnis der Stadt, legen Bestandslisten an mit Signaturen und Standorten. Sie stellen große Lücken fest. Es fehlen wesentliche Teile der Stadtgeschichte. Vor allem aus der Nazizeit.
Nettelbeck geht in die Birkenbergstraße zum alten Anselm und kauft in seinem Antiquariat ein, was er kriegen kann. Alte Bildbände, historische Stadtansichten, Chroniken von längst verschwundenen Firmen, Erinnerungen von Opladenern, die jetzt auf dem Friedhof liegen oder irgendwo in den überfallenen Ländern. Er forscht über die niedergebrannte Synagoge, forscht, wie viele und welche jüdischen Geschäfte hier enteignet und arisiert wurden, wie viele und welche Juden geflüchtet sind, wohin andere Juden deportiert wurden, wie viele Selbstmorde es gab. Und wie viele und welche alten Nazis wieder in Amt und Würden sind, wieder in Wohlstand leben.
Die Chöre der Heimatvereine singen das Bergische Heimatlied:
Wo die Schwerter man schmiedet dem Lande zur Wehr,
wo es singet und klinget dem Höchsten zur Ehr,
wo das Echo der Lieder am Felsen sich bricht,
der Finke laut schmettert im sonnigen Licht,
wo das Wort noch gilt als heiligstes Pfand,
da ist meine Heimat, mein Bergisches Land.
***
Donnerstag, 3. Mai 1951. Christi Himmelfahrt. Vormittag. Die Sonne strahlt, die Luft ist warm. Der Nordwestdeutsche Rundfunk meldet in seinen Nachrichten: Die erste Internationale Automobilausstellung in Frankfurt am Main wird mit großem Erfolg beendet. Großes Interesse fanden neben den Luxuslimousinen auch Klein- und Mittelklassewagen. Als vollberechtigtes Mitglied wird die Bundesrepublik Deutschland in den Straßburger Europarat aufgenommen. Der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser eröffnet in München die Ausstellung »Deutsche Heimat im Osten«. Der NATO-Oberbefehlshaber General Dwight D. Eisenhower verkündet eine Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten.
Am selben Tag, als Sebastian Nettelbeck in seinem Stadtarchiv weggestopfte Dokumente sichtet, steigt Karl Koberling in Opladen aus dem Zug. Er kehrt zurück aus dem Krieg. Er kehrt zurück in sein Heimatstädtchen.
Ein Glück, ein Riesenglück hat der Karl Koberling gehabt. Er hat den Krieg überlebt, er lebt noch. Zwar etwas abgemagert und knochig, aber er lebt noch. Sein buschiger dunkler Schnäuzer ist etwas lichter und heller geworden, aber er hat ihn noch. Er hat auch noch seine dunklen Augen, auch wenn sie jetzt etwas eingesunken sind, tiefer in den Höhlen liegen. Ein bisschen klein war er immer schon, nun hat er das Gefühl, noch ein paar Zentimeter geschrumpft zu sein. Doch sein Körper ist noch sehnig und elastisch, ein Körper für Krieg und Frieden. Nun ist er wieder da. Er hört die Glocken der Remigius-Kirche läuten. Christi Himmelfahrt. Der Christus hat seinen Dienst auf Erden getan und fährt in den Himmel. Er hat seinen Dienst im Krieg getan und kehrt nach Hause zurück.
Mitten im Gedränge steht Koberling vor dem Bahnhof. Menschen kommen von den Zügen, Menschen hasten zu den Bahnsteigen. Diolenanzüge, Trenchcoats und Lodenmäntel zwängen sich von vorne, von hinten an ihm vorbei, stoßen ihn an, schubsen ihn beiseite. So viel Betrieb am Feiertag. Und alle gut und sauber gekleidet, nicht wie er in seinen alten Klamotten. Ihre Leiber und Gesichter wohlgenährt und rund, nicht wie er so dürr. Alle wollen irgendwohin. Er will zu Irma, seiner Frau.
Den Bahnhof haben sie wieder aufgebaut. Schön sieht er nun aus und so neu.
Koberling steht zwischen den Trümmern des Bahnhofs, zerbombt durch einen Luftangriff. Ein paar Tage Heimaturlaub in seiner OT-Uniform. Der Schalterraum ist weg. An einer Holzbude die Liste der Züge, die nicht verkehren. Überall Schutt. Und auf der anderen Seite der Gleise die Stahlskelette des Reichsbahn-Ausbesserungswerks, des RAW. Bombardiert. Völlig zerstört. Da taucht in Koberlings Kopf wieder dieser Splitter auf, dieses böse Lied, das er so oft singen musste: »Und liegt vom Kampfe in Trümmern die Welt zuhauf, das soll uns den Teufel kümmern, wir bauen sie wieder auf.«
Vor dem Krieg zieht er als Maurer und sogar Polier eine der Hallen hoch und verputzt sie sauber. Ist zufrieden mit seiner Arbeit. Jetzt haben sie das RAW zum Teil wieder aufgebaut, arbeitet schon wieder. Er fragt sich, ob sein Haus noch steht. Ob seine Irma noch lebt.
Vor dem Bahnhof noch das alte Telefonhäuschen. Es hat den Krieg überstanden und glänzt gelb. Auf die Glastür ein Herz geschmiert mit einem durchbohrenden Pfeil. Daneben ein Heil Hitler! gekleckst, durchgestrichen und danebengeschrieben: Hitler kaputt! Er fragt sich, ob er seine Irma anrufen soll, ihr sagen soll, dass er zurückgekehrt ist, am Bahnhof steht und in einer Viertelstunde bei ihr ist. Vielleicht läuft sie ihm sogar entgegen. Etwas Geld in der neuen Währung hat er in der Tasche. Hat man ihm in Friedland gegeben. Da fällt ihm ein, dass er gar nicht weiß, wie viel man jetzt für ein Ortsgespräch einwerfen muss, ob sie noch die alte Telefonnummer hat oder eine neue, ob sie überhaupt noch ein Telefon hat, ob sie jetzt zu Hause ist oder trotz Feiertag bei irgendeiner Arbeit. Er will sie trotzdem anrufen, zieht die verschmierte Glastür auf. Vom Apparat hängt das abgeschnittene Kabel herab, ohne Hörer. Er liegt nicht auf dem Boden, wurde geklaut. So ein Ding braucht jeder. Hitler schneidet das Kabel ab, klaut den Hörer, ruft aus seinem Bunker das Volk auf zum allerletzten Widerstand. Und wenn es dazu zu feige ist, ist es nicht wert weiterzuleben, soll mit ihm zugrunde gehen.
Doch ein Teil des deutschen Volkes lebt noch. Auch er, der Koberling. Er kann seiner Irma nicht sagen, dass er wieder da ist. Nun gut, dann überrascht er sie.
Die Veteranenchöre der Bergischen Gesangsvereine singen das Bergische Heimatlied:
Keine Rebe wohl ranket am felsigen Hang,
kein mächtiger Strom fließt die Täler entlang.
Doch die Wälder, sie rauschen so heimlich und traut,
über grünenden Bergen der Himmel sich blaut.
War ich auch weit am fernsten Strand,
schlägt mein Herz der Heimat, dem Bergischen Land.
In seinem Stadtarchiv zieht Nettelbeck aus einem Schrank ein verstecktes Dossier hervor, öffnet es. Dokumente über die Gründung der Bundesrepublik mit einem großen Foto, Datum: 20. September 1949. Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer stellt sein erstes Kabinett vor. Alle Minister im schwarzen Cut, Smoking oder Frack, Adenauer in der Mitte im Stresemann. Alle Minister gut genährt, alle lächeln.
Über drei Köpfen ist mit Bleistift ein Kreuzchen gezeichnet. Das erste über Ludwig Erhard. Dem Foto...
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