Schweitzer Fachinformationen
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Zwanzig Minuten später biege ich auf die RWE-Straße im Weseler Ortsteil Obrighoven ein. Ich überhole einen Pulk Radfahrer, die vermutlich auf dem Weg zum »Quertreiber« sind, um sich mit der kleinen Fähre über die Lippe zu ziehen. Dann stehe ich auch schon vor dem, nennen wir es mal, Anwesen der Familie Jacobs. Noch während sich auf meine mündliche Vorstellung hin das schmiedeeiserne Eingangstor behäbig beiseiteschiebt, betrete ich den durchaus großzügig bemessenen Vorgarten. Eine gefühlte Viertelstunde später erreiche ich die Haustür. Unterwegs erfährt mein Honorar mit Blick auf das mondäne Gebäude eine deutliche Anpassung nach oben. Individualität ist halt eine meiner Stärken. Aus dem Hausflur vernehme ich Schritte. Ich erwarte eine mit Edelklunkern behängte Dame mittleren Alters, die zwischen Tennisplatz und Visagist gerade noch die Zeit findet, ihr Haus- und Hofpersonal zu instruieren, während der Gatte alle Hände voll damit zu tun hat, seine Firma zu leiten.
Als sich die Tür öffnet, platzt meine Erwartung jedoch wie eine zu groß gewordene Seifenblase. Mit offenem Mund staune ich sie an wie ein Mittelstufenschüler die schärfste Braut aus der Obersekunda. Sie trägt ein schulterfreies Kleid, dessen Anschaffungspreis selbst dann mein Honorar übersteigen dürfte, wenn ich den gesamten Sommer für sie tätig wäre. Ein seidener Traum, der die Eigenschaft besitzt, jeden Millimeter ihres makellosen Körpers mit einem Ausrufezeichen zu versehen. Lange blonde Haare fallen sanft herab und umrunden ihre .
»Möchten Sie nicht eintreten, Herr Born?«
Auch das, denke ich und folge ihren wiegenden Schritten in eine Halle, die sich auf den zweiten Blick als das Wohnzimmer der Jacobs entpuppt. Ich muss unweigerlich blinzeln. Der seinerzeit konsultierte Innenarchitekt dürfte sich inmitten einer Art weißen Schaffensperiode befunden haben. Weißer Marmorboden, weiße Wände, weiße Decke, weiße Vorhänge, weißes Mobiliar und zur Krönung des Ganzen die lebensgroße Nachbildung der Venus von Milo neben der kinoleinwandgroßen Fensterfront, natürlich in Weiß. Mittendrin zwei blutrote Lippen, die sich in diesem Augenblick voneinander entfernen, um einen dem Anlass meines Kommens angemessenen Seufzer zu entlassen.
»Manchmal stelle ich mir vor, dass alles nur ein Alptraum ist. Die Tür geht auf, mein Mann kommt herein und sagt: >Geht es dir nicht gut, Liebling?<«
»Seit wann vermissen Sie Ihren Mann, Frau Jacobs?«
»Seit dem 14. Mai.«
Ich bin gerade im Begriff, Block und Kugelschreiber hervorzuholen, als die Antwort mich innehalten lässt.
»Das ist sechs Wochen her«, stelle ich fest.
»Ja.«
Ja? Ich ermuntere sie mit einem fordernden Augenaufschlag zu einer Erklärung.
»Ich habe selbstverständlich sofort, also das heißt am nächsten Tag, eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Was die Polizisten alles wissen wollten! Wie es um unsere Ehe bestellt sei, ob wirtschaftlich alles in Ordnung sei und ob mein Mann schon mal von Suizid gesprochen habe. Es war furchtbar«, erzählt sie und fixiert dabei die weiße Obstschale auf dem Glastisch zwischen uns.
Ich erinnere mich an das erste halbe Jahr nach der Polizeiausbildung, in dem ich als Vermisstensachbearbeiter eingesetzt wurde. Solange nicht von einer Gefahr für Leib und Leben der vermissten Person auszugehen war, wurden die persönlichen Daten aufgenommen und ab damit in die Kartei.
Meine Gesprächspartnerin nestelt wie geistesabwesend an ihren Haaren. Eines dürfte klar sein: »Mal eben Zigaretten holen und tschüss«, kann ich wohl als Grund streichen. Auf einer weißen Anrichte fällt mir das Foto eines älteren Mannes auf, vermutlich der Herr Papa. Mich beschäftigt die Frage, wo ich den Hebel ansetzen soll, als die Gastgeberin plötzlich erschreckt hochfährt.
»Entschuldigung, ich habe Ihnen noch gar nichts angeboten .«
Ich winke beruhigend ab.
»Frau Jacobs, hat es irgendeine Veränderung, irgendeinen Vorfall gegeben, bevor Ihr Mann .«
Ja, was eigentlich? Verschwunden? Entführt? Ermordet? Oder alles zusammen?
»Nein . eigentlich nicht.«
Ich lasse mich ins weiße Leder sacken und atme tief durch.
Eigentlich nicht. Herrgott. Sie rollt die Augen, verwirft einen ersten Ansatz und antwortet dann mit dem Tonfall einer Mutter, die dem Lehrer die missratene Mathearbeit ihres Sohnes erklären soll: »Es gab drei Tage, bevor Berthold . verschwunden ist, einen heftigen Streit mit einem Klienten, Jan Oblak. Worum es ging, weiß ich nicht. Mein Mann hat sein Büro im Flügel, ich habe bis ins Wohnzimmer gehört, wie sich die beiden angeschrien haben. Das heißt, eigentlich war es nur Herr Oblak, der geschrien hat.«
»Können Sie sich an einzelne Wörter erinnern?«
Sie nickt zögerlich.
»Er rannte aus dem Haus, mein Mann hinterher. Draußen drehte sich Oblak noch einmal um und schrie: >Wenn du das machst, bringe ich dich um!<«
»Und das ist für Sie >eigentlich nicht<?«
Sie schenkt mir einen naiven Augenaufschlag von der Sorte, mit der man seinem Fünfjährigen erklärt, dass es gar keinen Osterhasen gibt.
»Herr Oblak ist bei der Kripo. Der bringt niemanden um. Im Gegenteil, er fahndet nach Leuten, die das machen. Selbstverständlich war ich im ersten Moment erschrocken. Aber Berthold hat nur gegrinst, gesagt, ich solle das nicht so ernst nehmen. Und als er am Abend im Club war, hat Oblak hier angerufen und ganz freundlich nach ihm gefragt. Ich denke, die beiden hatten sich einfach gegenseitig hochgeschaukelt, das kommt vor.«
»Aber nicht immer verschwindet einer davon kurz danach spurlos«, gebe ich zu bedenken. »Sie sprachen von einem Klienten. Was macht Ihr Mann beruflich?«
»Er ist Notar.«
Ich lasse meinen Blick durch das gediegene Ambiente schweifen. Meine Eindrücke verbinden sich unweigerlich mit der Notarrechnung, die wir damals für den Hauskauf in Sevelen erhielten.
»Gab es öfter Ärger mit Klienten?«
»Immer wieder mal, wenn es um Vollmachten oder Testamente ging. Aber ich bitte Sie, deswegen .« Sie stockt mitten im Satz, als machte ihr der unausgesprochene Gedanke Angst. Ihre Augen glänzen feucht im Licht der einfallenden Sonne.
Am Anfang dominiert die Hoffnung, legt einen Schleier der Ablehnung über jeden Gedanken, der der rationalen Kälte der Logik folgen will. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Doch mit jedem Tag schwindet ein Fünkchen dieser Hoffnung, macht Platz für die Realität. Wenn ein erwachsener Mann seit sechs Wochen spurlos verschwunden ist, bleibt kaum noch Raum für Hoffnung. Nur in einem einzigen Fall und der tut weh.
»Frau Jacobs, bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch: Fehlen persönliche Dinge Ihres Mannes?«
Beim Film werden Zeitraffer eingesetzt, um Wolken rasend schnell vorbeiziehen oder einen neuen Tag beginnen zu lassen. In einem ähnlichen Tempo verändert sich die Mimik meiner neuen Klientin von Trauer in blanke Wut.
»Mein Mann hat mich nicht verlassen!«, schreit sie mich an und springt mit einem Satz hoch, um sogleich wie ein Tiger im Käfig vor mir auf und ab zu laufen. Ich rechne damit, meine Konzentration in den nächsten Tagen uneingeschränkt dem entlaufenen Kater der Freifrau von Saalfeld zu gönnen, bis Frau Jacobs sich wieder hinsetzt, als wäre nichts geschehen.
»Entschuldigung .« Sie wischt sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel. »Sie müssen das fragen, ich weiß das. Manchmal wünsche ich mir sogar, dass Sie damit richtigliegen. Dann hätte ich wenigstens die Gewissheit, dass es ihm gut geht.«
»Ich werde alles daransetzen, Ihren Mann zu finden. Das verspreche ich Ihnen.«
Mit diesem Satz als Basis gestalten sich die folgenden Honorarverhandlungen äußerst kurzweilig.
»Können Sie mir bitte ein Foto Ihres Mannes mitgeben?«
»Ja . natürlich.« Sie steht auf, geht zur Anrichte und kommt mit dem Bild des älteren Herrn zurück. Mit dem Ansatz eines Lächelns reicht sie es mir über den Tisch. Das Bemühen, meine Reflexe zu unterdrücken, scheitert kläglich. Ich grinse süffisant.
»Mein Mann ist dreißig Jahre älter als ich. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Auch wenn es abgedroschen klingt: Es war Liebe auf den ersten Blick. Daran hat sich bis heute nichts geändert.«
Ich sehe mir den Gatten näher an. Das Foto wurde in irgendeinem Hafen, vermutlich in Südeuropa, aufgenommen. Lässiges Freizeithemd, das sich leger über einen prominenten Bauch legt, hohe Stirn mit der Furchenvielfalt eines frisch gepflügten Ackers und ein opulentes Doppelkinn lassen zarte Zweifel an der immerwährenden Liebe aufkommen. Was soll's, geht mich nichts an. Schließlich ist es ja nicht Frau Jacobs, die verschwunden ist.
»Ich möchte mich noch gerne im Büro Ihres Mannes umsehen. Außerdem brauche ich den Namen und die Anschrift des Polizisten, von dem Sie vorhin sprachen.«
Nach einem kürzeren Marsch durchs Gebäude betreten wir die Wirkungsstätte des Vermissten. Offensichtlich konnte Berthold Jacobs der Weißphase des Innenarchitekten wenig abgewinnen. Im Gegenteil. Aus einem Parkettboden der Tönung »Eiche Tobacco« erhebt sich ein mattschwarzer Schreibtisch vom Format - und wohl auch Preis - eines Kleinwagens. Deckenhohe Regalwände in derselben phantasielosen Farbgebung ersetzen die Wandverkleidung. Lediglich die ausladende Schreibtischlampe in Signalgrün fällt etwas aus dem düsteren Rahmen. Nach einem kurzen Spaziergang um den Arbeitsplatz des Notars lasse ich mich in den dahinter thronenden Ledersessel plumpsen. Mein Blick über den Schreibtisch wird, abgesehen von einem Füllfederhalter, wie ihn Staatsmänner benutzen,...
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