Schweitzer Fachinformationen
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Knarzend löste sich ein Metallriegel aus der Halterung. Eine Luke in der Metalltür klappte herunter und ein Schließer schob wortlos ein orangefarbenes Plastiktablett durch die Öffnung.
Meine Henkersmahlzeit ist eingetroffen, dachte ich.
Ich legte den Bleistift weg und knetete meine Hand. Meine Finger waren ganz verkrampft vom Schreiben. Ich war so vertieft in den Brief an Aileen gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie die Zeit vorangeschritten war. Die Hälfte des Heftes war vollgekritzelt. Die Kerze war fast komplett niedergebrannt. Ich hörte, wie draußen im Gang ratternd eine Essensluke nach der anderen geöffnet wurde. Die Morgenroutine im Gefängnis von Cachiche hatte begonnen. Ein weiterer trostloser Tag brach an, ein Tag wie jeder andere. Außer für mich. Mein Plan stand unumstößlich fest. Heute würde ich entweder meinen Willen kriegen oder bei dem Versuch sterben - oder noch Schlimmeres würde passieren.
Ich stand auf, nahm die Schale mit dem pampigen Maisbrei und dem Becher Tee vom Tablett, setzte mich auf mein Bett und aß mein karges Frühstück. Dann stellte ich die leere Schale und den Becher zurück in die Klappe und bereitete mich psychisch auf meinen Auftritt vor. Dabei schien jede meiner Bewegungen Teil eines Rituals zu sein: wie ich die dritte Kerze löschte und zusammen mit dem Feuerzeug zurück in die Matratze stopfte. Wie ich auf die Titelseite des Heftes mit großen Buchstaben schrieb: »Für meine liebe Aileen - bitte meiner Frau Mercedes mitgeben.« Wie ich das Heft an meinen Mund hob und es zärtlich küsste, als wäre es die Stirn meiner Tochter. Wie ich es auf meinem Bett platzierte, sodass es offensichtlich war, dass es gefunden werden sollte. Anschließend setzte ich mich im Schneidersitz mitten auf den kalten Boden und wartete schweigend auf das Unabwendbare.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die rostige Kerkertür wurde quietschend aufgestoßen. Ein Lichtstrahl fiel in die Zelle und blendete meine Augen. Schützend hielt ich mir die Hände vors Gesicht.
»Django, mitkommen!«
Ich stand auf und tappte blinzelnd aus meinen vier dunklen Quadratmetern auf den Korridor hinaus. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Augen sich an das grelle Tageslicht gewöhnt hatten. Der Schließer hielt mich - wohl des Gestankes wegen - auf Abstand und schubste mich mit seinem Stock vor sich her wie einen Hund. Er brachte mich zu den Duschräumen. In einem Stück abgebrochenen Spiegel, das mit einem Draht um einen Pfosten gebunden war, sah ich mein Gesicht und erschrak. Meine Wangen waren eingefallen, mein Bart außer Kontrolle und mein Haar struppig und ungezähmt. Ich sah aus wie ein Obdachloser, abgemagert und um Jahre gealtert. Der Aufseher reichte mir ein Rasiermesser, ein Stück Seife und ein kratziges Handtuch. Ich schrubbte mir den Dreck der vergangenen Wochen vom Leib, rasierte mich und schlüpfte in die saubere Kleidung, die für mich bereitlag. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich wieder als Mensch.
Der Schließer begleitete mich auf den Innenhof, wo ich mich unter die anderen Häftlinge mischte. Alle waren herausgeputzt und aufgeregt wie kleine Kinder an ihrem Geburtstag. Der Besuchstag war heilig im Leben eines Gefangenen. An diesem Tag gab es keine Gewaltverbrecher, Mörder und Diebe, sondern nur Familienväter, Brüder und Söhne. Hartgesottene Männer verwandelten sich in gefühlvolle Romantiker, kaltblütige Mörder unterdrückten ihre Tränen, wenn sie ihre Frauen und Kinder in die Arme schlossen. Die fröhlichen Stimmen der vielen Besucher, die draußen vor dem Tor Schlange standen, hallten über die hohe Mauer zu uns herüber. Die Vorbereitungen für ihren würdigen Empfang liefen auf Hochtouren. Bänke und Tische waren aufgestellt worden. Auf einigen standen kleine bemalte Vasen aus Pappmaschee mit farbigen Papierblumen, auf anderen waren liebevoll Tischdecken ausgebreitet. Ein paar Gefangene hatten sich Plätze gesichert und scheuchten jeden weg, der sie sich unter den Nagel reißen wollte. Andere übten vor unsichtbaren Spiegeln Reden, kämmten sich zum hundertsten Mal die Haare oder zupften sich die Hemden zurecht. Ich war der Einzige, der sich nicht von der aufgekratzten Atmosphäre anstecken ließ und mit finsterer Miene über den Platz schritt. Besuchstag hin oder her, mein Vorhaben stand fest. Ich hatte mich innerlich darauf vorbereitet, und der Zeitpunkt war gekommen, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Erstaunlicherweise war ich kein bisschen nervös. Ich war innerlich wie abgestumpft. Alles, was mich erfüllte, war eine eiserne Entschlossenheit, die niemand in der Lage sein würde zu brechen.
Zielstrebig marschierte ich zur Häftlingsküche, der Kulisse für meine Schauertat. Diese Küche wurde von den Gefangenen genutzt, um ihre eigenen Mahlzeiten zu kochen, denn die Verpflegung des Gefängnisses war absolut unzureichend. Wer keine Verwandten hatte, die ihn regelmäßig mit Lebensmitteln versorgten, hatte einen schweren Stand. Ich selbst hatte in den vergangenen Wochen schon mehrere Kilos verloren, weil der Gefängnisfraß so übel war. Die Häftlingsküche befand sich ungefähr fünf Meter vom Hauptgitter entfernt. Ob Häftling, Besucher, Anwalt oder Aufseher, jeder musste durch dieses Gitter, um ins Gefängnis rein- oder aus ihm rauszukommen. Dahinter lag ein breiter, eingezäunter Gang, der zum Haupteingang führte.
Es brutzelte, zischte und schepperte in der Häftlingsküche. Ungefähr zehn Gefangene waren anwesend, schnippelten Gemüse, brieten Fleisch und rührten in Töpfen herum. Ich schnappte mir zwei große Kessel, füllte sie mit Wasser, stellte sie auf den Gasherd und drehte ihn voll auf. Dann wartete ich, bis das Wasser kochte. Die anderen Häftlinge warfen mir verwirrte Blicke zu. Sie spürten instinktiv, dass etwas im Busch war. Meine angespannte Körperhaltung, die fehlenden Zutaten für mein Gericht und wie ich mit Adleraugen über den blubbernden Wassertöpfen brütete - das alles war mehr als verdächtig. Offenbar führte ich mit dem siedenden Wasser etwas im Schilde, und keiner war scharf darauf, herauszufinden was. Einem unberechenbaren, landesweit gefürchteten Kriminellen wie mir pfuschte man lieber nicht ins Handwerk. Nervöse Blicke wurden ausgetauscht. Einer nach dem anderen kippte seine halb fertigen Gerichte in irgendwelche Schüsseln, ließ alles andere liegen und eilte aus der Küche, als würde sie jeden Moment explodieren. Der Einzige, der die Zeichen nicht zu deuten vermochte, war ein junger Bursche von vielleicht zwanzig Jahren. Verwundert beobachtete er, wie die Ratten das sinkende Schiff verließen, und fragte mich amüsiert:
»Was haben die denn für ein Problem?«
Ich drehte meinen Kopf, sah ihn finster an und knirschte unmissverständlich:
»Verschwinde!«
Der Anblick meiner funkelnden Augen vertrieb jäh das Grinsen aus seinem Gesicht. Der Junge schluckte, packte seine Pfanne mit den halb angebratenen Hähnchenschenkeln und ergriff Hals über Kopf die Flucht. Jetzt hatte ich die Küche für mich allein und wandte mich wieder meinen Töpfen zu. Das Wasser dampfte, fauchte und spritzte, als wäre es lebendig. Ich schloss die Augen, sog den Dampf tief in meine Lungen ein und sammelte mich. Ich war so weit. Es konnte losgehen. Ich und mein tödliches Druckmittel waren bereit. Als ich die Augen wieder öffnete, fühlte ich mich unbezwingbar. Ich zog mich bis auf die Unterhosen aus, band mir ein Geschirrtuch um den Kopf und stellte mich breitbeinig neben die kochenden Wassertöpfe, wie ein Samuraikrieger, der auf den Befehl zum Angriff wartet. Ich hatte schon mit allerlei Waffen gekämpft, mit meinen Fäusten, mit Messern, mit Maschinenpistolen, sogar mit menschlichen Fäkalien. Aber die beiden Töpfe mit dem brühend heißen Wasser würden genauso effektiv sein. Jemand würde heute brennen. So viel war klar.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass sich der verrückte Django halb nackt in der Küche verbarrikadiert hatte und irgendeine hirnrissige Aktion plante. Von überall kamen die Häftlinge herbeigelaufen und spähten neugierig in die Küche. Einige feuerten mich an, pfiffen und klatschten - auch wenn sie keinen Plan hatten, was ich eigentlich bezweckte -, andere waren weniger begeistert.
»Was soll der Mist? Du versaust uns den Besuchstag, Django!«
Alle blieben auf Abstand. Nicht einer traute sich näher als bis auf zehn Schritte an mich heran. Und jeder fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Gefängnisdirektion eingriff. Es dauerte genau zehn Minuten. Dann kam der Direktor höchstpersönlich mit einer Horde bewaffneter Aufseher durch den langen Korridor auf das Gittertor zugeschritten. Genau diese Aufmerksamkeit hatte ich gewollt, und das war mir definitiv gelungen. Das Gejohle der Gefangenen wurde lauter.
»Señor Direktor!«, rief einer. »Django hat den Verstand verloren!« Und ein anderer sagte laut: »Regeln Sie das bitte, bevor das hier in einer Schweinerei endet!«
Vor dem Gitter blieben die Beamten stehen, ihre Stöcke griffbereit in den Händen. Der Oberaufseher fingerte an seinem Schlüsselbund herum und wollte eben die Gittertür aufschließen, um seine Männer auf mich zu hetzen, als der Direktor ihn am Arm zurückhielt.
»Warten Sie!«, sagte er energisch und deutete mit einem Kopfnicken in meine Richtung. Und da erst wurde auch dem Oberaufseher die Brisanz der Angelegenheit klar. Völlig schockiert starrten er, seine Männer und der Gefängnisdirektor durch die Gitterstäbe hindurch zu mir und den siedenden Kochtöpfen. Wer auch immer durch dieses Gittertor käme, würde...
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